Bauernkind

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lietzensee

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Hallo Franke,
mir gefällt der Klang und dass du angenehm simple Worte gewählt hast. Ansonsten spricht mich das Gedicht ehrlich gesagt nicht an. Der tumbe Bauernsohn ist ein ziemlich ausgeleiertes Klischee. Der Blick eines heutigen Bauern muss zumindest mal bis nach Brüssel reichen.
Ich finde auch die Bilder des Gedichts nicht stimmig. In einer Ackerlandschaft ist der Horizont doch gerade nicht nah, sondern weit. Der Blick reicht viel weiter, als in der Stadt. Als Ossi will ich beim Lesen auch sofort einwenden, dass ein einzelner Acker viel weiter als nur bis zum Horizont reichen kann.

Viele Grüße
lietzensee
 
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Johnson

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Hahaha…das ist klasse. Das kann ich nachvollziehen. So ist das Leben aufm Hof. Und selbstverständlich ist es politisch nicht korrekt.
 

fee_reloaded

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Die Bauernkinder (auch die inzwischen erwachsenen), die ich kenne, sind allesamt klüger und mit mehr Weitblick ausgestattet als viele Stadtkinder, die ich unterrichten durfte.

Ehrlich gesagt, lieber Manfred,

lässt mich dein Text etwas befremdet zurück.

LG,
Claudia
 

kakadu

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Und selbstverständlich ist es politisch nicht korrekt.
Hallo Manfred,

ne, politisch korrekt ist es nicht, einen engstirnigen Menschen als Bauern zu bezeichnen, so meine Lesart. Aber du hast es ja hier geschickt kaschiert. Da hast du den schwarzen Peter der Leserin überlassen und bist aus dem Schneider. :D Mir gefällt es!

LG Claudi
 

Rachel

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Ja, toll gemacht, zwei Lesarten:

Die vergleichende, eher wertende Sicht: Bauernkind versus ...

und die verbindende - wir sind alle Kinder der Erde:


Dein Blick geht (verliert sich)
niemals weiter (über den Tod hinaus)
als der (persönliche oder menschliche) Acker reicht

Der zog schon früh (Geburt)
den Schlussstrich dir (Tod /uns allen)
am nahen Horizont (Zeit rast dahin)

LG
 

sufnus

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Hey Ihr! :)
Ich verstehe, warum der Text anspricht und ich verstehe die Schwierigkeiten, die er bereitet.
Davon ab, kommt es hoffentlich nicht despektierlich rüber, wenn ich Rachels Interpretation:

Dein Blick geht (verliert sich)
niemals weiter (über den Tod hinaus)
als der (persönliche oder menschliche) Acker reicht

Der zog schon früh (Geburt)
den Schlussstrich dir (Tod /uns allen)
am nahen Horizont (Zeit rast dahin)
Für das noch weitaus gelungenere Gedicht halte. Diese Klammern heben den Text in durchaus lyrische Sphären und machen ihn auf sehr schicke Weise "jetzig". Like! :)

LG!

S.
 

fee_reloaded

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Wäre der Titel jetzt weniger "gruppenspezifisch", wie zum Beispiel "Erdenkind", würde ich den Text auch so lesen wie Rachel und ihn schön finden.

Ich frage mich eigentlich, welche Absicht tatsächlich hinter der Wahl dieses Titels steckt. Denn dass er provoziert oder - siehe johnsons Kommentar - gar völlig überalterte Vorurteile befeuert, ist logisch und nicht von der Hand zu weisen. Meinem Empfinden nach nimmt dieser Aspekt dem Gedicht sehr viel an Glaubwürdigkeit bzw. entsteht bei mir das Gefühl mangelnder Aufrichtigkeit hinter dem Text....und dann nimmt das ganze Gedicht Schaden, denn es geht die sehr schöne Interpretation in Rachels Lesart nicht zusammen mit dem Titel...

Für mich spießt sich da etwas ganz enorm. Schade.
 

Franke

Foren-Redakteur
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@lietzensee
@Johnson
@fee_reloaded
@kakadu
@Rachel
@sufnus

Hoppla, das hätte ich gar nicht gedacht, dass dieses Gedicht solche Reaktionen auslöst. Aber als Lyriker freue ich mich immer, wenn Gedichte von mir kontrovers diskutiert werden.

Rachels Interpretation trifft dabei aber leider nicht meine Intention beim Schreiben.

Ich erkläre mich:
Ich bin in einem landwirtschaftlich geprägten Dorf aufgewachsen. Wenn ich mir jetzt meine Altersgenossen von damals ansehe, die im Dorf geblieben sind und den elterlichen Hof übernommen haben, teilen sich diese in zwei Gruppierungen auf. Ich muss vielleicht noch dazu anmerken, dass diese Übernahme meistens bereits von den Eltern bestimmt wurde damals. Nach dem Motto: Du bist der älteste Sohn, also übernimmst du den Hof.

Gruppe 1:
Diese Gruppe ist durchaus zufrieden mit dieser Entscheidung und es sind ganz bestimmt keine engstirnigen Menschen. Die führen ihren Hof ganz prima und haben sich auch oft neue Märkte mit Selbstvermarktung, Bioprodukten oder Ferienwohnungen erschlossen.

Gruppe 2:
Diese Menschen sind jetzt im Alter oft sehr unglücklich über diese Entscheidung, die für sie getroffen wurde. Manche sehen es mittlerweile so, dass der Acker ihnen den Blick auf einen weiteren Horizont versperrt hat. Erst vor einigen Tagen wurde mir in einem Gespräch gesagt: "Na ja, du hattest ja alle Möglichkeiten und hast dein Leben so gelebt, wie du es dir selbst vorgestellt hast. Über dich hat niemand bestimmt." Das hat mich sehr traurig gemacht und für diese Gruppe ist mein Gedicht.

Ich hoffe, dass ich die Verwirrung etwas gelöst habe. Wie schon angemerkt, es gibt hier durchaus verschiedene Lesarten, hier ist nicht die boshafte, sondern die traurige Version richtig.

Liebe Grüße
Manfred
 

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Erst vor einigen Tagen wurde mir in einem Gespräch gesagt: "Na ja, du hattest ja alle Möglichkeiten und hast dein Leben so gelebt, wie du es dir selbst vorgestellt hast. Über dich hat niemand bestimmt." Das hat mich sehr traurig gemacht und für diese Gruppe ist mein Gedicht.
Verstehe, lieber Manfred.

Ich hatte dir den boshaften Stachel auch gar nicht zugetraut und das war es auch, was mich irritiert hat in erster Linie, denn das ist ja nicht wirklich ein Inhalt für ein ernstzunehmendes Gedicht.

Dennoch finde ich den Titel nach wie vor nicht optimal gewählt (auch, wenn ich verstehe, dass der deinem persönlichen Erlebnisumfeld entspringt) - denn das, was du schilderst, trifft ja auf so gut wie alle Familienbetriebe zu. Da wird eine/r der Nachkommen hoffnungsfroh darauf getrimmt und ein wenig (oder auch energisch) in die Richtung geschubbst, einmal den Familienbetrieb weiterzuführen. Sich da als junger Mensch gegen den Wunsch der Eltern - und es ist noch dazu kein kleiner, eben mal so geäußerter Wunsch - zu stellen und sich zu lösen, stelle ich mir sehr schwer vor und in vielen Fällen auch sehr konfliktbehaftet. Und in nicht wenigen Fällen treibt eine solche Entscheidung auch einen Keil in die Familie, wie ich fürchte. Von der persönlichen Gefestigtheit und Reife, die das erfordert, will ich erst gar nicht sprechen...

Dass über einen bestimmt wird, kommt aber genauso auch in Familien vor, die keinen Betrieb weitergeführt sehen wollen. Ein "Familientraditions-Erbe" (im Sinne von "so geht Leben von Schule bis Pension und so haben wir das schon seit Generationen gelebt" kann in jedem Setting sehr bestimmend sein - bei uns war es das "du machst Matura und dann wird studiert", das auch von mir in jungen Jahren nicht in Frage gestellt wurde (erst ein Burn Out später habe ich angefangen, das zu hinterfragen). Bei unserem Sohn haben wir auch sehr bewusst gesagt, dass Matura und Studium nicht "alles" sind, sondern wir uns für ihn wünschen, dass er den Beruf für sich findet, der ihn erfüllt, weil er seine Stärken und Leidenschaften dort ausleben kann. Und wir stellen fest, dass er sich mit dieser "Freiheit" auch nicht nur leicht tut. (aber das nur so am Rande).

Fremd- und Selbstbestimmung...das ist gar keine so einfache Sache und ist nicht nur schwarz-weiß zu sehen. Und man darf das Konzept des Leidensgewinns auch nicht vergessen (aber das führte hier jetzt zu weit, das näher zu erörtern).

Und damit zurück zum Text an sich:
ich glaube, du hast in für dich und deine eigene Betroffenheit geschrieben und daher wusstest du auch, was gemeint ist und wo der Text hin will. Für den unvorbereiteten Leser ist er m.E. aber nicht deutlich genug positioniert. Er bietet keinen Anhaltspunkt, der richtig auf das eigentlich Gemeinte "einstimmt", wenn du verstehst, was ich meine. Normalerweise kann ein Titel das ja schon leisten - hier aber führt dieser eher in die Irre oder zumindest auf einen sehr eng gesteckten Gedanken-Acker.

Ein spannendes und berührendes Thema jedenfalls, das du dir da vorgenommen hast. Dein Problem ist, dass das "tumbe Bauernkind" da mit reinrutscht - auch, wenn du das gar nicht im Sinn hast. Das sitzt einfach zu tief als allgemeines Vorurteil, das man zu oft gehört hat und leider immer noch hört.

Liebe Grüße,
Claudia
 

Franke

Foren-Redakteur
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Und damit zurück zum Text an sich:
ich glaube, du hast in für dich und deine eigene Betroffenheit geschrieben und daher wusstest du auch, was gemeint ist und wo der Text hin will. Für den unvorbereiteten Leser ist er m.E. aber nicht deutlich genug positioniert. Er bietet keinen Anhaltspunkt, der richtig auf das eigentlich Gemeinte "einstimmt", wenn du verstehst, was ich meine. Normalerweise kann ein Titel das ja schon leisten - hier aber führt dieser eher in die Irre oder zumindest auf einen sehr eng gesteckten Gedanken-Acker.
Hallo Claudia,

ich weiß, was du meinst und ich erkenne die Problematik des Textes.
Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten:
Wenn ich den Titel ändere, passt das Bild mit dem Acker nicht mehr und ich habe dieses Gedicht ja speziell für diese unglückliche Gruppierung geschrieben.
Zweite Möglichkeit ist, dass ich das Gedicht noch erweitere, um den Leser nicht in die Irre zu führen.
Ich denke, dass ich dies tun werde. Ich überlege ...

Danke und liebe Grüße
Manfred
 

sufnus

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Hey Manfred!
Ich denke eigentlich nicht, dass eine Erweiterung des Gedichts unbedingt nötig ist - das würde den Text ja seiner Lakonie berauben, die ich hier gerade ganz schön finde.
Vielleicht wäre eine Erweiterung des Titels anstelle des Gedichts schon zielführend?
Vorschlag: "Geerbtes Land (ein Bauernkind)"
LG!
S.
 

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Ja, ich weiß....ich grüble auch schon länger, wie man das beheben könnte, komme aber auf keine befriedigende Lösung.

Aufs Bauernkind würde ich aber nicht verzichten wollen, denn es ging ja um ebendiese Gruppe von Menschen und das Gedicht muss nicht mehr leisten als die ursprüngliche Idee, die ja wirklich berührt.

Ich glaube, es ist vor allem der Bezug von Titel und erster Strophe, der da die Möglichkeit zur Idee eröffnet, es könnte um Engstirnigkeit und/Beschränkung im nicht so nett gemeinten Sinne gehen.
Bauernkind


Dein Blick geht
niemals weiter
als der Acker reicht


Der zog schon früh
den Schlussstrich dir
am nahen Horizont
Will sagen: ev. genügt schon eine Umstellung oder eine kleine Beifügung, die den mitfühlenden Aspekt möglichst zu Anfang schon erkennen lässt.
Aber momentan will mir nicht so recht Brauchbares einfallen. Da mich dein Text bzw. der Gedanke dahinter gepackt hat, wird mich das noch länger beschäftigen (und weil ich diese Art von Tüftelei mag).

Liebe Grüße!

PS: oder die noch kürzere Variante wie

Bauernkind

Den Schlussstrich zog
schon früh dir
der nahe Horizont
am Ende des Ackers

oder so. Ich denke, es wird klar, was ich meine. Dann ist der "Weitblick" gar nicht Thema, sondern tatsächlich die Einschränkung an sich. Nur so als Gedanke, den ich eben rasch noch hatte.
 
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Franke

Foren-Redakteur
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Hallo Claudia,

zuerst möchte ich mich herzlich bei dir für diese Diskussion bedanken. Genau dies ist meine Vorstellung von einem Literaturforum, dass man über Texte reden kann ohne den anderen anzustänkern oder zu beleidigen. Dann werden beide Seiten davon profitieren.

Nun zu deinem Vorschlag:

Bauernkind

Den Schlussstrich zog
schon früh dir
der nahe Horizont
am Ende des Ackers
Das wäre jetzt die Verkürzung auf die wesentliche Aussage. Aber wenn ein Leser jetzt die Intention nicht kennt, kann er dem Verfasser immer noch vorwerfen, dass Bauernkinder nach seiner Meinung einen beschränkten Horizont haben.
Ich muss das irgendwie noch hinbekommen, dass klar wird, dass es das aufgezwungene Leben ist, das den Horizont beschränkt. Das Gedicht ist mir sehr wichtig, weil einige meiner Freunde aus der Kindheit und Jugenddavon betroffen sind.

Liebe Grüße
Manfred
 

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Mitglied
Ich muss das irgendwie noch hinbekommen, dass klar wird, dass es das aufgezwungene Leben ist, das den Horizont beschränkt. Das Gedicht ist mir sehr wichtig, weil einige meiner Freunde aus der Kindheit und Jugenddavon betroffen sind.
Ja, das kann ich spüren, lieber Manfred!

Ich bin sicher, du findest einen Weg, die Botschaft so rüberzubringen, dass diese Sorge und Anteilnahme von dir ausreichend gut zur Geltung kommt.

Ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass ein zweites, erst mal unabhängiges Gedicht, das sich genau desjenigen Aspekts annimmt, der im anderen Gedicht nicht so gut herauskommt, und das man dann dem Ursprungsgedicht für sich an die Seite stellt, zu einem neuen - dritten - Text führt, der dann quasi alles "festnagelt", was einem am Herzen liegt. Das direkte Umarbeiten des "Problemtextes" funktioniert für mich persönlich nicht so gut...da wird es meist ein zu verkopfter Murks und das Grundgefühl geht verloren. Vielleicht hilft das ja.

Schön, dass du die Diskussion als positiv empfindest!

Liebe Grüße,
Claudia
 

kakadu

Mitglied
Was mich zu der Fehldeutung brachte, war wohl vor allem der "nahe Horizont". Da war ich beim "geistigen Horizont", der ja in diesem übertragenen Sinn auch häufig in der Alltagssprache verwendet wird. Statt "Blick" würde ich hier "Schritt/Schritte" oder "Fuß/Füße" bevorzugen. Das macht die Intention vielleicht deutlicher?

LG Claudi
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Statt "Blick" würde ich hier "Schritt/Schritte" oder "Fuß/Füße" bevorzugen.
Hallo Claudi,

"Schritt" ist ein ausgezeichneter Vorschlag, den ich gerne übernehme. Damit wäre dieses zweideutige "über den beschränkten Horizont blicken" eliminiert.

Auch dir herzlichen Dank für die konstruktive Textarbeit und liebe Grüße
Manfred
 



 
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