Bedauernswerte Kreatur
"Augenblick, Rolf; ich bringe mal eben diese bedauernswerte Kreatur - die blinde Person da vor'm Kiosk - rüber auf die andere Seite." Und da war sie auch schon, die Passantin mit der durchdringenden Stimme. Kräftige Finger umkrallten meinen linken Arm, bohrten sich mir äußerst unangenehm ins Fleisch. Fast hätte ich aufgeschrien. Meine Lage erschwerte das Dennoch Freundlichbleiben. Ich versuchte, ihr klarzumachen, dass ich hier, genau hier auf jemanden warten wolle und sie sich nicht zu mühen brauche, mir über die Straße zu helfen. Sie verstand nicht, wollte nicht verstehen. "Auch noch undankbar sein, das hab' ich gern. Dann warte doch, bis du schwarz wirst!"
Und plötzlich zitterten meine Knie so heftig, dass ich glaubte, den Halt zu verlieren. Jetzt reiß' dich aber mal zusammen! Alltagssteine - ein geübter Stolperer fällt nicht so leicht. Ich hielt meinen weißen Stock wie im Krampf. "Bedauernswerte Kreatur". Mich schauderte. Nicht nachgeben - um Himmels Willen; es hätte gerade noch gefehlt, dass ich hier losgreinte.
Eine vertraute Hand berührte meine Schulter. "Entschuldige, ich wurde aufgehalten. Heute ist ein so schöner Tag; komm', gehen wir ins nächste Eiscafé und lassen's uns so richtig gut gehn." Mein langjähriger Arbeitskollege Rudi, so herrlich unkompliziert und für mich im Zustaub der Resignation der Kehr-Aus trüber Gedanken.
Pfeifend schnappte er sich meinen weißen Gefährten. "Der kommt jetzt erst mal zu seinem Mittagsschläfchen." Wieder lächelnd hakte ich mich bei Rudi unter. Ich verbot mir, ihm die "bedauernswerte Kreatur" zu präsentieren.