Begegnung in Blau

klara

Mitglied
BEGEGNUNG IN BLAU


“Wie machst du das nur?” fragte sie mich.
“Wie machst du das nur?”
Was,
was mache ich denn? Was meint sie damit? Der Ton ihrer Stimme verriet auch nichts. Mitten im Gespräch, während wir herzhaft lachten, fragte sie mich “wie schaffst du es nur?” Ich musste nachdenken. Es gab eine unvermittelte Pause in unserem Lachen. Ein scharfer Schnitt, kurz, schnell und präzise lähmte unsere Heiterkeit. Ich dachte nach. Ich dachte nach und fühlte mich nur ungeschickt. Was schaffe ich denn? Ach!
Ich vernahm eine Spur, die aus dem Unterschied zwischen zwei Begriffen entstand: Sie fragte mich, wie ich es mache und ich dachte wie ich es schaffe. Warum habe ich das Wort “machen” in das “Schaffen” übersetzt? Warum nur? Vielleicht gab es doch eine Färbung an dem Ton ihrer Stimme oder vielleicht war es, weil ich sie kannte und wusste, was sie damit meinte?.
Ihre Frage beschäftigt mich ernsthaft. Sie musste das Lachen gemeint haben. Mein Lachen. Ich war mir sicher, dass sie mit ihrer Frage mein lachen meinte, denn gleich nach ihrer Frage, weinte sie.

Das ist vermutlich wieder meine bekannte Unbeschwertheit. Ich habe leichte Schulter sagt man und mein Verstand schwebe Meter hoch über meinem Kopf. Meine Beine berühren nicht den Boden, so leichtfüßig, nein so flatterhaft, sei ich...
Sieht sie denn nicht, dass ich vom Blitz getroffen bin? Merkt sie nicht, wie schwer es mir ums Herz ist? Nichts da mit Schweben, mit der Flatterhaftigkeit. Ich bin schwer wie Blei. Denn ich suche eine Antwort auf ihre Frage und finde keine.

Man nehme Brise Heiterkeit, mische sie mit einer Messerspitze Hoffnung, gebe das Ganze in die Vergesslichkeit hinein, streue hauchdünn Lachen darüber und knete kräftig...
Es war mir sehr danach solche und ähnliche Dinge zu ihr zu sagen. Ich konnte es nicht. Nein. Es ist nicht gut. Es hätte sie sogar aufgeheitert. Ich weiß es. Ich wusste aber auch, dass es keine Antwort auf ihre Frage wäre.
Es wäre... Es wäre so, als würde ich sie nicht ernst nehmen. Als würde ich sie schnell zufrieden stellen. Aber ich nehme sie ernst. Aber ich will, dass sie wirklich zufrieden ist. Denn ich liebe sie.

Ich spürte einen Schmerz. Ich kenne diesen Schmerz, seit ich vor und zurück denken kann. Er begleitet mich schon so lange Jahre und wird mich noch lange Jahre begleiten. Er ist rieselnd, fein und stark.
Noch immer löcherte mich ihre Frage. Mein Schmerz rieselte durch die Löcher durch und ich vernahm eine Spur, die mich zu einer Antwort führen könnte. Die Antwort nach dem Grund meiner Heiterkeit lag auf diesem Schmerzfaden. Meine seiden



siedende Schmerzen gaben mir den Faden wieder, der für einen kurzen Moment verloren gegangen schien.
Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage wegen meiner Heiterkeit den Schmerz zu begegnen, war nicht grausam. Nein. Es bereitete mir eine Erleichterung. Da es völlig widersprüchlich klingen musste, wenn ich darüber reden würde, musste ich lachen.
Es geschah, wie die unvermittelte Pause in unserem Gespräch. Wieder ein scharfer Schnitt, kurz, schnell und Präzise. So verschwand die Lähmung.
Sie lachte mit.

“Jetzt” dachte ich, “spätestens jetzt muss ich etwas sagen”. Es kam mir kein einziges Wort über die Lippen.

Wieder Mitten im Lachen schaute sie mich schmerzvoll an und sagte, dass ich immer abgehauen sei, wie eben. Dieser Vorwurf, der ein Bisschen zur Bewunderung neigte, bewegte mein Herz erneut. Sie meinte mit ihrer Frage womöglich die Kunst des Weglaufens?
Mir wurde es nach Fieber. Ich fühlte mich seltsamer als seltsam. Es gingen in meinem Kopf Bilder durch, die, wie irgend eine Melodie, irgend ein Name oder ein Wort, auf der Zunge liegen aber sich nicht frei machen, nicht fliegen können. In der Hitze des Fiebers merkte ich mir diese neue Erfahrung: Auch Bilder können, wie eine gut gekannte Melodie, sehr deutlich im Kopf schwirren ohne man sich daran erinnern kann.
Es ist wahrlich bemerkenswert.
Erinnerung und Nichterinnerung sind manchmal eins. Dieser Zustand verursacht ein Zwangsverhalten. Man kann die Melodie, das Wort, den Namen, was auch immer, nicht mehr los lassen... Besser gesagt, das Wort, die Melodie, der Name, die Nummer... was auch immer, lässt einen nicht mehr los. Das heißt, da sie so gefangen sind und los gehen möchten, fühlt der Mensch sich verpflichtet dem nachzuhelfen. Ich, für meinen Teil, schnipse mit den Fingern, schaukele mit dem Kopf, klopfe mit dem Fuß auf dem Boden, kratze auf der Nase oder wühle in meine Haare... wenn mir etwas auf der Zunge liegt und ich es nicht losfliegen lassen kann oder es mich zwing ihm zu helfen. Meine ganze innere geriet in derartigen Bewegungen wegen den Bildern. Bilder, die sie kannte, kennen muss...
Meine ganze Innere, die sich Organ mäßig nicht von ihrer unterscheidet, spielte verrückt. Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz mit meinem Brustkorb ins Streit geriet. Meine Haut wurde zu eng für meine Innere. Folglich störte mich meine Kleidung. Ich kam ins Schwitzen.

“Du bist immer abgehauen, wie eben”.

Ich wollte einen Knopf an meiner Bluse öffnen, da umarmte sie mich. Liebevoll flüsterte sie mir einen neuen Satz ins Ohr: “So bist du immer gewesen”.
Ich weinte plötzlich.
Sie weinte mit.

So unbeschwert, wie ich ihr erschien, erschien sie mir in voller Kummer. In der klirrenden Kälte unserer Kindheit, dachte ich so oft, dass sie dem Sterben nahe ist. Sie geht ein, dachte ich. Ich sah, wie sie immer weniger wurde, immer ängstlicher, immer scheuer... und ich sah, sie starb nicht. Sie blieb doch stehen. Sie ging nicht ein zwischen den fliegenden Gegenständen im Wohnzimmer, das zuerst gemütlich zu sein schien. Sie blieb stehen in der Hülle der laut gesprochenen Erniedrigungen. Sie blieb stehen nach einem gehörigen Schlagen, alias “Malzeit” . Sie blieb stehen mit ihrer Waschfrauen- Hände in der Unendlichkeit der Hausfrauen-Tätigkeit.
Immer, jedes mal wenn es in der Luft nach Streit roch, schaute ich sie an und dachte “sie geht ein”. Jedes Mal, wenn es in unserer Hölle, in unserem Himmel nach Streit roch, dachte sie, dass ich den Schmerz nicht ernst nehme, dass ich abhauen werde.
So muss es gewesen sein. Sie muss all die Jahre gedacht haben, dass ich sie allein lasse. Sie muss gedacht haben, dass sie mir gleichgültig sei...
Sie? Mir gleichgültig? Dachte sie es wirklich? All die Jahre?

Mein Schmerz, der aus diesen Gedanken wuchs und wuchs, machte sich in mir so breit, dass meine Bilder, die auf der Zunge meiner Erinnerungen lagen, immer mehr ins Gedränge kamen.. Es war gut so. Denn eins davon flog raus:

Ich saß am Meer. Unsere Stadt, die meiner Meinung nach damals eine große Wohnung war, hatte auch ein Wohnzimmer. Der Weg dorthin war das Korridor. Der Korridor, geschmückt mit Dattel Bäumen in der Mitte und mit Orangenbäumen an beiden Seiten, war der schönste Korridor der Welt. Durch das Wohnzimmer gelang man an drei Terrassen, die über den Klippen am Meer eingerichtet waren. Sie hatten eine Schutzmauer. Sie ging in meiner Größe meiner Kindheit bis zur Brust. Ich hielt nichts von dieser Mauer. Bei meiner anfänglichen “Weglaufen“, saß ich erst auf der Mauer. Irgendwann sprang ich an die andere Seite, die für Kinder gefährlich sein sollte. Wer weiß, vielleicht war sie sogar gefährlich. Nun, auch die Bedeutung der Gefahr ist relativ. Für mich war diese Mauer eine Gefahr für sich. Denn durch sie hatte man, in diesem Fall ich, keine Möglichkeit meinem Kummer seinen Lauf zu geben. Ich wollte das Meer anschauen und seine Unendlichkeit. Die Unendlichkeit. Eins von unendlichen Dingen. Das Meer. Die Mauer hinderte es irgendwie. Diese Mauer hielt mich vom Beginn der Unendlichkeit zurück. Der Beginn ist wichtig. Ja, es musste sehr wichtig sein. Denn wenn es nicht wichtig wäre, würde es die Unbeginnlichkeit heißen. Es heißt aber nicht so, sondern die Unendlichkeit. Wo es ein Beginn gab... Der Beginn des Streites an dem Tag war mir nicht klar. Es war, wie schon so oft, verwirrend. Wie schon so oft kam ich mir ungeschickt und dumm vor. Woran lag der Sinn? Du hattest Kirschsirup zubereitet. Erinnerst du dich? Die Gläser, gefüllt mit der eiskalten, herrlich roten Flüssigkeit, hatten beinahe einen durchsichtigen Frost. An einem der Gläser glitt ein Tropf von diesem Frost sanft herunter. Mein Herz war warm umhüllt an dessen Anblick. Ich war unbeschreiblich glücklich. Dazu waren diese Gläser auf dem Tablett platziert, das ich doch so sehr mochte. Das Tablett? Ach... Das mit dem schönen Bild von einer Terrasse. Weißt du noch? Du musst dich daran erinnern. Bitte Tu` mir den Gefallen. Erinnere dich daran. Da war eine Terrasse abgebildet. Belegt mit unförmigen Steinen. Zwischen den Steinen einige zarte Blümchen. Es stand eine Frau. Man sah sie von hinten. Sie hatte ein langes Kleid und ihre Haare waren am Nacken gebunden. Ihr Gesicht sah man nicht. Aber sie war mit Sicherheit sehr schön. Sie wirkte so unbeschwert, so dass sie sich jeden Moment lächelnd umdrehen könnte. Dann würde man auch ihre Schönheit sehen. Darauf wartete ich. Oft. Dieses Tablett eben und die Gläser. Fünf in der Zahl. Das, ich meine dieser herrlicher Anblick, kann doch nicht der Beginn gewesen sein... der Beginn von...
Es lagen Scherben auf dem Boden. Mit einer schönen Terrasse und mit einer Frau und mit vielen Blumen bemalte Blech verursachte ein Donner. An der Wand flossen rote Blitze zum Boden. Der eiskalte, Herz erwärmende Sirup.. O du schöne Sirup... Dann mein weises Kleid, das du mir nähtest... Dann deine Haare... die du gerne lang tragen wolltest.. Dann der Kopf.. deiner... Meiner...

Unendliche Dinge, wie geschlagen werden, beschimpf werden, erniedrigt werden, hatten bestimmt ein Ende, wie das Meer. Selbst, wenn man es nicht sieht. Ich wusste es. Ich war mir so sicher, wie ich sicher über meine schreckliche Unwissenheit war. Meine Unwissenheit, die nie heraus bekommen mochte, wo und wie und wann und warum ein Unwetter kam.
Ich saß auch an diesem Tag am Meer. Blau und blau machten sich an und um mich breit. Es waren die Berge, das Meer und der Himmel. Die Farbe des Vatersgetränk in meiner Erinnerung war blau. Die Löwenmilch, wie er zu sagen pflegte... Löwenmilch... Es waren auch Dinge an meiner Haut, die man damals bei uns als “verwest” bezeichnete. Hämatome nennt sie das Medizin. Auch die waren überwiegend blau. Ich trug sie als wären sie mein ureigenes Kleid.. Da saß ich eben, schaute in der Gegend und an mir herum und entdeckte, wie unterschiedlich ein und der selbe Farbe sein kann.
Nachtblau ging in das Violett, ein Auberginen- Lila grenzte an ein Rauchblau. Und an der dunkelsten Stelle gab es ein Pünktchen heiteres Gelb zu sehen. Als ich das Gelbe Pünktchen an meiner “Verwesung” entdeckte, flog ein Vogel vorbei. Ich wünschte zuerst, dass er auf mein Kopf sch....n würde, denn es bringt den Gerüchten nach Glück. Ich war aber unbeschreiblich glücklich darüber, dass er es nicht tat. Ich hörte ein Kind schreien. Es wurde getröstet, anstatt geschimpft. Eine Pflanze hatte zarte, rosa- rote Blüten zwischen unzähligen Dornen. Die Luft roch nach Salz. Meine Tränen schmeckten nach Salz. Offensichtlich konnte ich noch riechen und schmecken. Eine dicke, fette, grüne Fliege trug eine andere dicke, fette grüne Fliege auf ihrem Rücken. Offensichtlich konnte ich noch sehen. “Wie hilfsbereit” dachte ich. Offensichtlich konnte ich noch denken.
Und, der Anblick der Fliegen war so lustig und so voller Hoffnung, musste ich lachen.

Meine Schmerzen wirkten plötzlich komisch.
Die Schmerzen, die bestes Material für eine schauderhafte Geschichte liefern können, die auf- und eindringlich, ohnmächtig mächtig das Ernst der Lage dokumentieren würden, wurden komisch.
Ich begriff, dass das Ernst meiner Lage nur Halb wäre, betrechte man nur meine
Blutergüsse. Denn es war ja da noch der Vogel, noch das Kind, Die hilfsbereite Fliege,...
Es war da offensichtlich noch immer ein anderer Teil von mir, der all das sehen konnte. Ich war nicht als ganzes ein Hämatom. Nein. Das würde Niemand fertig bringen können. Das heißt, selbst wenn kein einzige Quadrat Millimeter von meiner Haut gesund bliebe, selbst wenn alle schönen Gläser der Welt zertrümmert werden würden und wenn es keinen Tropfen Kirschsirup mehr auf der Welt gäbe... bleibt die Tatsache, dass ich den Geschmack der süßen Sirup im Gaumen und die leuchtend rote Farbe in meinen Augen habe.

“wie schaffe ich es nur”.

Ich glaube, so schaffe ich es. So schaffe ich lauthals zu lachen. Bin nicht allein.

Verträumt schaute sie mich an. Sie lächelte. Mir wurde warm ums Herz. War meine Antwort melancholisch, vielleicht hörte sie sich poetisch an. Ich weiß es nicht, warum, sie lächelte weinerlich und fragte mich unvermittelt, ob ich mich daran erinnern kann, dass sie Gedichte schrieb?

“Es brennt ein Licht am Berg.
Nur manchmal.
Es brennt mein Herz,
wenn ich an das Licht am Berg denke.
Immer.”

Sie machte große Augen, als ich ihr Zeilen aus einem ihrer Gedichte vortrug. Ich vernahm ein Funken Licht des Stolzes darin. Da diese mich so glücklich machte, rückte ich mit der Wahrheit raus, warum ich mir diese Zeilen genau merkte:
Als sie diese Zeilen schrieb, musste ich immerzu dieses Licht betrachten. Es war tatsächlich ein Licht am Berg. Ich merkte, dass es Tag und Nacht brennte. Nicht nur manchmal. Eines Nachmittags machte ich mich auf dem Weg und erreichte das Licht gegen Abend.
Dort arbeiteten Männer und Kinder. Das Licht war ein Feuer. Das Feuer wurde für die Kalkgewinnung geschürt. Ich wollte dort bleiben und mit arbeiten. ein Mann schickte mich nach Hause. Auf dem Rückweg interessierte mich nur eins: Meine Schwester war ein Genie. Denn das, was ich gerade in Erfahrung brachte, wusste sie offensichtlich schon immer. Wie sonst konnte sie so ein Gedicht schreiben? Genau so, wie sie schrieb, brannte mein Herz, als ich die Feuerarbeiter sah. Meine Schwester wusste, was sie tat. Ich liebte sie und schämte mich, wie schon so oft, vor meiner Unwissenheit. Als ich sehr spät zuhause ankam, machte mir gar nichts aus, wie sie mich beschimpfte. Sie sei beinahe gestorben aus Sorge um mich.

Ohne mich zu unterbrechen, hörte sie sich mein Geständnis an. Dann schluchzte sie wieder.

Was habe ich wieder angestellt? dachte ich.
Wenn ich sie was frage, wird sie wieder weinen, dachte ich.

Ich wollte doch nur eine Antwort auf ihre Frage... Ich bin nicht abgehauen. Denn ich nahm mich immer mit. Ich habe dich nicht allein gelassen. Denn ich selbst hatte aller Hand zu tun mit unserem blauen Vater. dann wollte ich doch nur ehrlich sein, wegen dem Gedicht... Ich wollte doch nur, ihre Fragen nicht hängen lassen, weil ich sie ernst nehme.

Ist ihr Weinen die Schwester meines Lachens?
So muss es sein.

“Wie schaffst du immerzu zu weinen?” werde ich sie nicht fragen.
Denn ich liebe sie.
 

selene

Mitglied
wundervoll! einfach ganz wunderbar geschrieben!
ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen.
danke!
alles liebe,
selene
 

klara

Mitglied
Hallo Selene,
danke für deine zeilen. Sie sind sehr ermutigend.
Ich habe "Kurzgeschichten, Poesi, Erzählungen..." durch geschaut, um etwas von dir zu lesen.
Teilst du mir mit, wo ich dich finde?

PS. Da mein Computer kaputt ist, kann ich keine E-Mails empfangen. Mitteilungen bitte als "Antwort".
Liebe Grüße.
 

selene

Mitglied
Das letzte, was ich gepostet habe, ist in der Schreibaufgabe.
Normalerweise schreibe ich wenig Texte, mehr Gedichte.
Wenn Du Gedichte von mir lesen willst dann schau am besten bei der Suchfunktion, sind nämlich sicher sehr weit hinten.
Lieben Gruß,
selene
 



 
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