Der Mann goß sich das Glas randvoll, dann leerte er es mit einem Zug. Oh, das frische Leitungswasser tat gut. Nachlässig wischte er mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn. Eigentlich hätte er jetzt duschen müssen. Doch es trieb ihn zu dem kleinen Schreibtisch mit der zerkratzten Platte, auf der nichts weiter lag, als ein schmaler Karton mit handgeschöpftem Briefpapier.
‚Wen interessiert es schon, wenn ich nach Schweiß rieche', dachte er und verzog unfroh die Mundwinkel. Behutsam entnahm er der Verpackung einen der teuren Bögen, legte ihn vor sich hin und prüfte auf einem Schmierblatt sorgfältig die Funktion des Füllfederhalters. Dann begann er zu schreiben.
Liebe Marlies,
heute ist der erste wirklich warme Tag in diesem Jahr. Da zog es mich mit Macht aus der Wohnung, die mir den ganzen Winter über Zuflucht und Gefängnis zugleich gewesen ist. Ich holte mein altes Fahrrad aus dem Keller und schwang mich in den morschen Sattel. Ich besaß kein bestimmtes Ziel. Ich wollte nur einfach hinaus in unsere herrliche Umgebung.
Die ungewohnte Bewegung tat gut. Ich pumpte die Lungen voll frische würzige Waldluft, lauschte dem gleichmäßigen Schnurren der Reifen und ärgerte mich nicht einmal über das Schutzblech, dessen Geklapper in einem häßlichen Kontrast zum Zwitschern der Vögel stand. Mit einem Wort - ich fühlte mich seit langem mal wieder so richtig wohl.
Irgendwann wurde mir bewußt, daß ich ausgerechnet die Route gewählt hatte, die mir - die uns - so unendlich vertraut ist. Und da! Kurz hinter den fünf Eichen - Du kennst ja die Stelle - da passierte es! Kein Sturz, keine Panne, kein Schwächeanfall. Nein, ein völlig normaler, aber für mich erschütternder Vorgang.
Mir kam eine radelnde Familie entgegen. An der Spitze zwei Kinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren, die trotz des flotten Tempos noch genügend Puste besaßen, um sich lautstark zu unterhalten. Dahinter eine junge Frau, die sich fürsorglich an der Seite ihrer Mutter hielt, obwohl man der alten Dame die Anstrengung kaum ansah. Seitlich etwas versetzt fuhr ein Mann, der bemüht schien, die kleine Herde gebührend zusammen zu halten.
"Vorsicht! Radfahrer von vorn!" rief er seinen Kindern zu, als er mich sah. Ich fuhr an den äußersten Rand des Weges, hielt an und ließ die kleine Gruppe an mir vorüber ziehen. Ich muß sie angestarrt haben, wie einen Gespensterzug. Das Ganze währte ja nur Sekunden, aber sie reichten aus, um mich in eine tiefe Depression zu stürzen. Wem war ich da soeben begegnet? Der Vergangenheit? Uns? Dieser junge Mann mit seinem schwarzen strubbeligen Vollbart, sah er nicht genauso aus, wie ich vor fünfzehn Jahren? Nun ist mein Bart fast weiß, unsere Kinder sind längst erwachsen und Deine Mutter lebt krank in einem Pflegeheim. Und Du? Nur Du bist so wie damals - jung und unendlich schön. Ich wurde plötzlich von einer wahnsinnigen Sehnsucht gepackt. Sie riß an meiner Seele und nahm mir den Atem. "Marlies!" Ein geflüsterter Schrei nach Dir, nach den Kindern - nach Glück.
Völlig verstört raste ich zurück, verzweifelt bemüht, die Erinnerung abzuschütteln. Vergebens. Hartnäckig hielt sie sich an meiner Seite, verfolgte mich bis hierher und hält mich noch immer gefangen. Aber ein Leben in ständiger Erinnerung ist ein Leben ohne Zukunft. Ich werde diesen Weg nie wieder fahren.
Dein Klaus.
Der Mann schob mechanisch die Schutzkappe über die Feder. Dann nahm er mit spitzen Fingern den kostbaren Bogen und legte ihn zu einem Stapel ebenso sorgfältig beschriebener Blätter. Briefe, die er nie abgeschickt hatte.
‚Wen interessiert es schon, wenn ich nach Schweiß rieche', dachte er und verzog unfroh die Mundwinkel. Behutsam entnahm er der Verpackung einen der teuren Bögen, legte ihn vor sich hin und prüfte auf einem Schmierblatt sorgfältig die Funktion des Füllfederhalters. Dann begann er zu schreiben.
Liebe Marlies,
heute ist der erste wirklich warme Tag in diesem Jahr. Da zog es mich mit Macht aus der Wohnung, die mir den ganzen Winter über Zuflucht und Gefängnis zugleich gewesen ist. Ich holte mein altes Fahrrad aus dem Keller und schwang mich in den morschen Sattel. Ich besaß kein bestimmtes Ziel. Ich wollte nur einfach hinaus in unsere herrliche Umgebung.
Die ungewohnte Bewegung tat gut. Ich pumpte die Lungen voll frische würzige Waldluft, lauschte dem gleichmäßigen Schnurren der Reifen und ärgerte mich nicht einmal über das Schutzblech, dessen Geklapper in einem häßlichen Kontrast zum Zwitschern der Vögel stand. Mit einem Wort - ich fühlte mich seit langem mal wieder so richtig wohl.
Irgendwann wurde mir bewußt, daß ich ausgerechnet die Route gewählt hatte, die mir - die uns - so unendlich vertraut ist. Und da! Kurz hinter den fünf Eichen - Du kennst ja die Stelle - da passierte es! Kein Sturz, keine Panne, kein Schwächeanfall. Nein, ein völlig normaler, aber für mich erschütternder Vorgang.
Mir kam eine radelnde Familie entgegen. An der Spitze zwei Kinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren, die trotz des flotten Tempos noch genügend Puste besaßen, um sich lautstark zu unterhalten. Dahinter eine junge Frau, die sich fürsorglich an der Seite ihrer Mutter hielt, obwohl man der alten Dame die Anstrengung kaum ansah. Seitlich etwas versetzt fuhr ein Mann, der bemüht schien, die kleine Herde gebührend zusammen zu halten.
"Vorsicht! Radfahrer von vorn!" rief er seinen Kindern zu, als er mich sah. Ich fuhr an den äußersten Rand des Weges, hielt an und ließ die kleine Gruppe an mir vorüber ziehen. Ich muß sie angestarrt haben, wie einen Gespensterzug. Das Ganze währte ja nur Sekunden, aber sie reichten aus, um mich in eine tiefe Depression zu stürzen. Wem war ich da soeben begegnet? Der Vergangenheit? Uns? Dieser junge Mann mit seinem schwarzen strubbeligen Vollbart, sah er nicht genauso aus, wie ich vor fünfzehn Jahren? Nun ist mein Bart fast weiß, unsere Kinder sind längst erwachsen und Deine Mutter lebt krank in einem Pflegeheim. Und Du? Nur Du bist so wie damals - jung und unendlich schön. Ich wurde plötzlich von einer wahnsinnigen Sehnsucht gepackt. Sie riß an meiner Seele und nahm mir den Atem. "Marlies!" Ein geflüsterter Schrei nach Dir, nach den Kindern - nach Glück.
Völlig verstört raste ich zurück, verzweifelt bemüht, die Erinnerung abzuschütteln. Vergebens. Hartnäckig hielt sie sich an meiner Seite, verfolgte mich bis hierher und hält mich noch immer gefangen. Aber ein Leben in ständiger Erinnerung ist ein Leben ohne Zukunft. Ich werde diesen Weg nie wieder fahren.
Dein Klaus.
Der Mann schob mechanisch die Schutzkappe über die Feder. Dann nahm er mit spitzen Fingern den kostbaren Bogen und legte ihn zu einem Stapel ebenso sorgfältig beschriebener Blätter. Briefe, die er nie abgeschickt hatte.