Begegnung mit einem Ketzer
Der Mann machte einen bedenklich unsicheren Eindruck. Eine Weile verharrte er mit hilflosem Blick direkt vor dem Eingang, ein Hindernis für jeden, der hinaus oder herein wollte. Dann, als er endlich den schwarz-roten Seidenschal auf dem Tisch entdeckt hatte, kam er zögernd heran und erkundigte sich höflich nach den Öffnungszeiten der Picasso-Ausstellung in der 27. Straße.
[ 4]Shannon lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und musterte ihn. Er war mittelgroß und dem Anschein nach über siebzig. Ein schlaffes Gesicht, geprägt von überdimensionalen Tränensäcken, müde blickende, wäßrige Augen, spärlicher Haarwuchs. Bekleidet war er mit braunen Hosen, einem hellblauen Hemd und dunklem Sakko.
[ 4]Nicht eben unauffällig, dachte sie verärgert. Ihre eigene Erscheinung hatte sie mit Bedacht gewählt, auch den Einbau einiger hart an der Legalitätsgrenze vorbeischrammender Accessoires - kleine Hörner, Fellbesatz an den Schläfen und Schnurrhaare unter der Nase - nicht vergessen, sodass sie die angestrebte Mitte auf der Schrägheits-Skala der im Lokal präsenten Outfits mühelos erreichte.
[ 4]Einen Augenblick lang war sie versucht zu sagen, dass sie nichts über diese Ausstellung wisse, oder einfach nur den Kopf zu schütteln, dann aber gab sie doch die korrekte Antwort: "Die Ausstellung ist nicht in der siebenundzwanzigsten Straße. Es ist die achtundzwanzigste ... nein, warten Sie: die dreißigste!"
[ 4]Der Mann nickte eifrig, wie um zu zeigen, dass er alles genau verstanden habe, und setzte sich anschließend. "Ich heiße Keron", sagte er. "Aber das wissen Sie ja ... Und was Picasso angeht: Eigentlich mag ich ihn nicht. In meinen Augen ist er ein Scharlatan, nichts weiter. Ein genialer Scharlatan vielleicht, aber trotzdem ein Scharlatan."
[ 4]Shannons Verärgerung wuchs. Warum redet er solchen Stuss?, dachte sie empört. Warum nennt er seinen Namen?
[ 4]"Ungewöhnliches Outfit", meinte sie mit jedem Tadel in der Stimme, zu dem sie fähig war.
[ 4]Keron schien die Zurechtweisung nicht zu bemerken oder nicht bemerken zu wollen. "Ich bin nicht mehr jung", sagte er gleichmütig. "Das ist eine Tatsache, ob es mir gefällt oder nicht. Warum also sollte ich es verbergen?" Er beugte sich ein Stück vor und fuhr in vertraulichem Ton fort: "Ich verrat Ihnen was: Ich bin neu hier, gewissermaßen ... Ob Sie's glauben oder nicht: Ich habe erst vor zwei Wochen ein Implantat erhalten."
[ 4]Shannon ließ ihre Schnurrhaare zucken, ihrem Frust auf diese Art Ausdruck verleihend. "Tatsächlich?", fragte sie reserviert. "Wieso?"
[ 4]"Ich weiß nicht, ich bin kein Arzt ... Man hat gesagt, es sei gefährlich, mir eins einzusetzen. Eine Allergie, oder so was ..."
[ 4]In Shannons Kopf schrillten jetzt die Alarmglocken. Was Keron sagte klang absurd, das Einsetzen einer Nackenbuchse war ein Routineeingriff, sie hatte nie gehört, dass es dabei ernsthafte Probleme gab. Und log er hier nicht, musste er bei seiner Anwerbung gelogen und sie mit einer falschen Identität hinters Licht geführt haben - gut möglich natürlich auch, dass er sie in allem belog.
[ 4]Blieb die Frage, was er damit bezweckte. Dass er ein Polizeispitzel sein könne, hielt sie für unwahrscheinlich, die benahmen sich anders. Ihren Ärger unterdrückend forschte sie unter gesenkten Lidern hervor in Kerons runzligem Gesicht. War er wirklich ein alter Mann oder spielte er den nur? Sie gelangte zu keinem eindeutigen Ergebnis. Normalerweise verstand sie sehr gut "hinter die Maske" zu schauen, doch hier versagte ihr Talent. Was wohl vor allem an Kerons Outfit lag, war es doch allem Anschein nach von äußerst simpler, höchstens ansatzweise als authentisch zu bezeichnender Beschaffenheit.
[ 4]Währenddessen sprach Keron weiter, kam richtig in Fahrt, schwärmte von seinen Eindrücken und Erlebnissen und davon, wie fantastisch alles sei. Doch auch jetzt wurde Shannon das Gefühl nicht los, dass er sie belog: Irgendetwas an seiner Begeisterung klang falsch.
[ 4]"Ich war in einem Wald", erzählte er. "Die Farben, die Gerüche ... Fantastisch!"
[ 4]"Hier gibt es keinen Wald", warf Shannon ein.
[ 4]"Vielleicht ist 'Wald' ja das falsche Wort. Ein Wäldchen ..."
[ 4]"Es gibt auch kein Wäldchen."
[ 4]"Natürlich gibt es das!" Keron schniefte entrüstet, beschrieb dann detailliert, wo man den Wald finden konnte, wie er hingelangt war - und wie viel er hatte zahlen müssen, um ihn betreten zu dürfen.
[ 4]Nun begriff Shannon. "Dieser Wald", sagte sie abwehrend, "ist nicht real."
[ 4]Ihre Bemerkung hatte einen eigentümlichen Effekt zur Folge: Kerons Greisenaugen funkelten auf einmal in jugendlichem Zorn. "Halten Sie mich für blöd?", fragte er ungehalten. "Ich weiß, dass er nicht real ist!"
[ 4]"So hab ich es nicht gemeint." Wider Willen musste Shannon lächeln. "Sagen wir so: Gewissermaßen ist er in doppeltem Sinn nicht real. Sie waren im Niemandsland; was Sie erlebt haben, war ein Computerprogramm, nichts weiter. Kein authentischer Datenraum."
[ 4]Keron starrte sie misstrauisch an. "Man hat mich betrogen, meinen Sie?"
[ 4]"Wieso betrogen? Sie wollten einen Wald, und Sie haben einen bekommen. Es hat Ihnen doch gefallen?"
[ 4]"Es war fantastisch! Ich weiß, was ein richtiger Wald ist, glauben Sie mir! Als Kind bin ich oft in einem herumgestromert, und eigentlich war alles genauso, wie ich es in Erinnerung habe."
[ 4]Erneut ließ Shannon ihre Schnurrhaare zucken. Was erzählt er jetzt wieder?, dachte sie missmutig. Will er mich auf den Arm nehmen? Laut sagte sie: "Im Niemandsland erscheint vieles real - auf den ersten Blick. Schaut man jedoch genauer hin ... Haben Sie die Bäume berührt, die Sie gesehen haben?"
[ 4]"Aber ja! Es wirkte absolut echt."
[ 4]"Haben Sie versucht, Blätter abzureißen?"
[ 4]"Warum hätte ich das versuchen sollen?"
[ 4]"Wahrscheinlich hätten Sie's gar nicht gekonnt ... Lagen Blätter auf der Erde?"
[ 4]"Gewiss, da lagen welche ... Ah, jetzt fällt mir etwas Merkwürdiges ein: Die Blätter wirbelten herum, obwohl gar kein Wind zu spüren war."
[ 4]"Haben Sie andere Menschen gesehen?"
[ 4]"Jetzt, wo Sie es sagen: nein. Ich war der einzige."
[ 4]"Na sehen Sie: All das sind Merkmale fehlender Authentizität ... Verstehen Sie das nicht falsch, das ist nicht zwangsläufig so. Man könnte das eine oder andere durchaus verbessern, aber gewöhnlich macht das niemand. Zu aufwändig."
[ 4]"Interessant." Keron kniff die Augen zusammen, hob den Arm und vollführte eine kreisende Handbewegung. "Also betrachten Sie das hier als real?"
[ 4]"Warum nicht?"
[ 4]"Weil es auch nur eine Simulation ist."
[ 4]"Eine authentische Simulation!"
[ 4]Keron spuckte aus - eine rein symbolische Geste, da sein primitives Outfit gar nicht fähig sein konnte, den dafür benötigten Speichel zu produzieren - und sagte abfällig: "Und wennschon, das ist nur ein Wort, das sich irgendjemand ausgedacht hat. Es bedeutet nichts."
[ 4]"Es bedeutet schon etwas ... Wenn sich die Kopie vom Original durch nichts mehr unterscheiden lässt: Ist es dann überhaupt noch eine Kopie?"
[ 4]Keron zeigte sich unbeeindruckt: "Die Kopie ist nicht vollkommen, sonst müsste es auch Wälder geben. Ich meine, richtige Wälder."
[ 4]"Es wird bald welche geben. Bei solch komplexen Strukturen muss man behutsam vorgehen. Vor allem braucht es Zeit. Ein funktionierendes Ökosystem kann nicht installiert werden, es muss wachsen."
[ 4]Keron sagte nichts darauf, verfiel in brütendes Schweigen, währenddessen ihn Shannon weiter beobachtete. Noch immer hatte sie Mühe, sein Mienenspiel zu deuten. Seine falsche Begeisterung hatte er abgelegt, wirkte nun mürrisch, von widersprüchlichen Gefühlen erfüllt. Plötzlich wurde sein Gesicht völlig ausdruckslos, vielleicht, weil sein billiges Outfit es aufgegeben hatte, seinen Gemütszustand zu interpretieren.
[ 4]"Ich war selbst Programmierer", sagte er, es klang, als spräche er von einer Zeit, die tausende Jahre zurücklag. "Ich weiß, was eine Simulation ist. Dieses Glas zum Beispiel" – er deutete auf ein halb geleertes Bierglas, mit dem sich Shannon die Wartezeit verkürzt hatte – "ist nur ein Stück Code, eine Folge von Einsen und Nullen. Sein Verhalten wird von programmierten Funktionen bestimmt, seine Eigenschaften von Daten, die in Konstanten und Variablen gespeichert liegen."
[ 4]"Nun, da irren Sie sich. Authentischer Datenraum funktioniert anders als eine herkömmliche Simulation. Ein herkömmliches Programm basiert darauf, dass bekannte Daten hinter bekannten Adressen liegen, im authentischen Datenraum gibt es so etwas nicht. Daten und Adressen sind zunächst virtuell, werden erst in einer möglichen Zuordnung real. Authentischer Datenraum simuliert keine Objekte wie etwa ein Glas, definiert nur eine Reihe von Möglichkeiten, die Einsen und Nullen als Objekte zu interpretieren. Grundlage dafür ist die Umsetzung eines starren Schemas mithilfe spezieller Algorithmen, etwa wie eine Schablone, die über den Speicher geführt wird. Man könnte auch sagen: Die eigentliche Simulation besteht in nichts anderem als dem Bestreben, die Inhalte von Speicherzellen zu Daten zu machen, und ihr Zustandekommen hängt davon ab, ob dies zu jedem Zeitpunkt gelingt.
[ 4]Das heißt aber: Für einen User ist dieser Mechanismus zwingend und nicht zu beeinflussen, das Kann gleichzeitig ein Muss, die Möglichkeit, ein Glas wahrzunehmen gleichbedeutend damit, dass man es tatsächlich wahrnimmt. Und es heißt auch: Jede Möglichkeit des Agierens innerhalb der Simulation erfüllt sich nur im Rahmen einer allgemeingültigen Ordnung, die zu umgehen unmöglich ist. Etwa wie die Naturgesetze in der realen Welt. Ein Glas kann nicht nach Belieben irgendwo und irgendwann erscheinen, es muss auf konventionelle Weise hergestellt werden, und wenn es zerbricht, bleiben Scherben, die sich nicht anders als auf konventionelle Weise beseitigen lassen."
[ 4]Keron hatte mit leicht geneigtem Kopf und - wie Shannon zu erkennen glaubte - wachsendem Abscheu zugehört. Ihr Verdruss erreichte einen neuen Höhepunkt, der sie das ganze Gerede schlagartig satt bekommen ließ. "Ich verschwende nur meine Zeit", sagte sie. "Ich glaube, ich geh besser ..."
[ 4]Sie erhob sich halb von ihrem Sitz, wohl wissend, dass Keron sie nicht so einfach würde verschwinden lassen.
[ 4]"Warten Sie!", sagte Keron auch prompt. In seine Stimme mischte sich ein Anflug von Härte.
[ 4]"Warum sollte ich?", fragte Shannon, ließ sich aber dennoch auf ihren Stuhl zurückfallen.
[ 4]"Ich brauche Ihre Hilfe", erwiderte Keron. Und fügte unheilschwanger hinzu: "Bekomme ich die nicht, werden Sie das bereuen."
[ 4]"Meine Hilfe? Dann sollten Sie aufrichtig zu mir sein."
[ 4]"Es stimmt, ich habe gelogen. Aber das musste ich ... "
[ 4]"Was ist mit Ihrem Implantat?"
[ 4]"Das hab ich schon längere Zeit. Allerdings benutze ich es selten."
[ 4]"Keine Allergie?"
[ 4]"Nein."
[ 4]"Was wollen Sie also?"
[ 4]Als hätte sie einen verborgenen Schalter betätigt, geriet Keron unversehens in heftige Erregung. Wieder fuchtelte er mit der Hand in der Luft herum. "Diese Scheinwelt zerstören!", rief er aufgebracht. "Sie ist Sünde! Blasphemie!"
[ 4]"Nicht so laut!", zischte Shannon besorgt zurück. Ein Blick durch das Lokal beruhigte sie wieder. Der Treffpunkt war gut gewählt, der Trubel in dem drittklassigen Stripteaseschuppen - auch wenn die Post erst später so richtig abgehen würde - groß genug, sodass niemand von ihnen Notiz nahm.
[ 4]Nun war ihr klar, was sich hinter der Maske verbarg, wer der Mann war, der ihr gegenübersaß: ein religiöser Eiferer, vermutlich katholisch geprägt. Sünde, dachte sie verächtlich. Warum müssen diese Knaben immerzu von Sünde reden?
[ 4]Kerons Erregung hatte sich inzwischen wieder gelegt. "Ich bin ein Ketzer", sagte er mit unüberhörbarem Stolz. "Ich weiß, dass ich ein Ketzer bin, aber das macht nichts ... War Jesus nicht auch ein Ketzer? Hätte man ihn sonst ans Kreuz geschlagen?"
[ 4]"Was fragen Sie mich? Ich glaube nicht an Jesus und diesen Kram. Und ehrlich gesagt: Auf mich wirken Sie nicht wie ein Ketzer. Eher wie das ganze Gegenteil."
[ 4]Trotz der Unzulänglichkeit seines Outfits war diesmal eindeutig erkennbar, dass Keron sich gekränkt fühlte.
[ 4]"Uns Sie?", frage er böse. "Was sind Sie eigentlich? Warum sind Sie hergekommen?"
[ 4]"Ich bin hier, weil wir eine Abmachung hatten. Die ja nun wohl geplatzt ist ..."
[ 4]Während sie sprach, legte sie ihre Hand auf Tasche, in der sich die Disc mit dem Virus befand, die sie Keron hatte übergeben wollen. Er hatte sich bei der Kontaktaufnahme als Angestellter einer Bank mit Zugang zu sensiblen Bereichen ausgegeben und sich bereit erklärt, den Virus in das System zu schleusen.
[ 4]Keron nickte: "Da hab ich ebenfalls gelogen ... Wie sollte das Ganze denn ablaufen?"
[ 4]Shannon erklärte, wie sie sich die Sache vorgestellt hatte, und fügte hinzu: "Für Sie wäre es völlig ungefährlich gewesen. Das versichere ich Ihnen. Niemand hätte etwas gemerkt, es ging zunächst nur darum, Daten zu sammeln."
[ 4]"Daten wofür?"
[ 4]"Für einen späteren Angriff vielleicht."
[ 4]"Der was bewirkt hätte?"
[ 4]"Ziemliches Chaos, nehme ich an."
[ 4]Keron machte eine wegwerfende Handbewegung. "Lächerlich! Ich will mehr, und Sie werden mir dabei helfen!"
[ 4]Shannon seufzte. "Haben Sie mir eigentlich zugehört? Sie scheinen noch immer zu glauben, es gäbe ein System, in das man sich einhacken und das man mit einem Virus lahmlegen könnte. Aber so ist es nicht. Ich sagte doch: Alles, was Sie wahrnehmen und worauf Sie einwirken können, existiert nur im Rahmen simulierter Gesetze. Wenn Sie also zerstören wollen, geht das nicht anders als in der realen Welt. Mein Rat: Werden Sie Sprengstoffexperte. Oder werden Sie Physiker und erfinden Sie die Atombombe neu. Ich kann Ihnen nicht helfen ..."
[ 4]Keron ließ sich davon nicht beirren: "Ich meine es ernst", sagte er leise und drohend. "Entweder Sie helfen mir - oder ich lasse Sie und Ihre Freunde hochgehen!"
[ 4]"Ich sagte doch ..."
[ 4]"Ihnen wird schon etwas einfallen, da bin ich sicher. Ich gebe Ihnen Zeit zum Nachdenken - bis morgen ..."
[ 4]Aurel gab sich zerknirscht: "Es ist meine Schuld. Ich habe Keron überprüft." Dabei schielte er sehnsüchtig auf Shannon herab, wohl hoffend, sie würde widersprechen.
[ 4]Shannon dachte gar nicht daran, ihm diesen Gefallen zu tun, zog die Stirn kraus und blickte schweigend an seinem Brustkasten vorbei ins Leere. Sie trug ihr Lieblingsoutfit, eine Eigenkreation: blonder Pferdeschwanz, schmale Schultern, eine dünne, biegsame Gestalt mit nur alibihaft angedeuteten weiblichen Rundungen; dazu ausgeblichene Jeans und ein khakifarbenes T-Shirt. Vor dem Hünen Aurel wirkte sie geradezu winzig. Sie empfand das Absurde der Situation: ein Miezekätzchen, das angesichts einer Bulldogge in Zorn geriet, während die Bulldogge um Frieden bettelte und nur ganz schwach zu knurre wagte.
[ 4]Dojo, der etwa drei Meter entfernt auf einem halbhohen Tisch hockte, versuchte zu vermitteln: "Ich sehe uns nicht in irgendwelcher Gefahr. Keron blufft nur."
[ 4]Er trug einen Kimono und hatte sich das Haar nach der Art japanischer Samurais frisiert. Im Obi steckte ein Kurzschwert. Abgesehen von seiner schwarzen Hautfarbe und der verspiegelten Sonnenbrille auf seiner Nase, wirkte er wie geradewegs einem Akira-Kurosawa-Film entsprungen.
[ 4]Aurel griff seine Worte begierig auf: "Wir haben uns genau an die Regeln gehalten. Er kann nichts wissen. Weder von dir noch von uns."
[ 4]Shannon schwieg weiter und zog nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne: Keron hatte sich zu gut informiert gezeigt, als dass man ihn unterschätzen durfte. Zweifellos war er intelligent und wer konnte schon sagen, was er alles wusste?
[ 4]"Glaubst du wirklich, er würde uns verraten?", fragte Aurel.
[ 4]"Da bin ich sicher."
[ 4]"Der Typ ist verrückt!", entfuhr es Dojo. "Ein Spinner!"
[ 4]"Er ist nicht verrückt", erwiderte Shannon abweisend.
[ 4]"Du nimmst ihn auch noch in Schutz?", fragte Dojo ungläubig. "Der Kerl will uns ans Messer liefern!"
[ 4]"Er tut nur, was er für richtig hält. Nicht anders als wir."
[ 4]"Wenn er wirklich eine Gefahr bedeutet", sagte Aurel, "warum geben wir ihm dann nicht, was er will? Ich meine irgendetwas, das ihn zufrieden stellt ..."
[ 4]"Und was?", fragte Shannon.
[ 4]Aurel hob die Schultern. "Keine Ahnung."
[ 4]"Dann halt lieber die Klappe!", sagte Shannon barsch.
[ 4]Einen Augenblick später schon bereute sie ihre Unbeherrschtheit, über deren Ursache sie sich nicht einmal ganz im Klaren war. Im Grunde konnte sie Aurel nichts vorwerfen, wie es aussah, hatte er keinen Fehler begangen, sich genau an die vereinbarte Prozedur gehalten. Möglicherweise hatte ein Zufall Keron die Informationen in die Hand gespielt, so etwas kam vor, gehörte nun mal zu den Unwägbarkeiten, die sich nicht berechnen ließen.
[ 4]"Na schön", sagte Dojo. "Die Frage ist doch aber: Was machen wir jetzt?"
[ 4]Nach kurzem Überlegen stand Shannons Entschluss fest: "Ihr macht gar nichts." Um ihren schroffen Ton wieder gut zu machen, fügte sie bittend hinzu: "Überlasst Keron mir. Ich werde schon mit ihm fertig."
Am Nachmittag erhielt Shannon einen Anruf von Keron, der sie zu einem Schnellimbiss in der Nähe des Bahnhofs bestellte. Sie machte sich sofort auf den Weg. Als sie den Treffpunkt erreichte, fand sie Keron an einem der Tische aus imitiertem Holz sitzen. Er trug das gleiche Outfit wie bei ihrer ersten Begegnung; vor ihm stand ein Teller Suppe. Shannon setzte sich zu ihm. Sie hatte diesmal ein schlichtes Allerweltsoutfit gewählt. Keron hob den Kopf und blinzelte sie fragend an. Ohne sich lange mit Erkennungsritualen aufzuhalten, sagte Shannon: "Ich habe nachgedacht ... Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit ..."
[ 4]Keron schnaufte zufrieden, hob den Löffel an den Mund und schlürfte genießerisch. Anschließend fixierte er sie mit einem spöttischen Blick, der eindeutig besagte: Na also, ich wusste es doch!
[ 4]"Das betrifft nicht den authentischen Datenraum", sagte Shannon, erbost über die Vorstellung, Keron könne sie für eine Lügnerin halten, "sondern nichtauthentische Komponenten, die in die Simulation integriert sind, und die es natürlich noch massenhaft gibt. Denken Sie nur an Ihren Wald! Solche Komponenten haben den Charakter von Singularitäten, etwa wie schwarze Löcher in der realen Welt. Paradebeispiel dafür sind die Zugangsportale. Warum, ist einleuchtend: Um sich in den Datenraum einzuloggen, bedarf es einer adressierbaren, von innen wie außen gleichermaßen definierten Schnittstelle. Gleiches gilt für die Outfits. Ein Outfit kann niemals vollkommen authentisch sein, denn das würde bedeuten, dass der User vollständig in der Simulation aufgänge. Jedes Outfit enthält deshalb immer eine Singularität, und genau das ist der Punkt, an dem man ansetzen könnte: Jede Abkopplung geht mit einer kontrollierten Auflösung der Singularität einher, gelänge es, diese über die Trennung des Users hinaus zu verzögern, entstünde undefinierter Datenraum. Was dann geschähe, käme der schlagartigen Freisetzung einer beträchtlichen Energiemenge in der realen Welt gleich. Die Zerstörungen wären enorm."
[ 4]"Die Stadt?", fragte Keron gierig.
[ 4]"Ein Teil der Stadt", schränkte Shannon ein.
[ 4]"Nun, immerhin ... Gibt es Backups?"
[ 4]"Nein."
[ 4]"Wissen Sie das genau?"
[ 4]"Ja."
[ 4]"Das ist leichtsinnig, nicht wahr?"
[ 4]"Das hat nichts mit Leichtsinn zu tun ... Mir scheint, Sie haben es immer noch nicht begriffen: Authentischer Datenraum lässt sich nicht als Augenblickszustand speichern, jeder momentane Zustand ist die Folge eines vorhergehenden. Für eine Rekonstruktion müsste die gesamte Geschichte der Simulation aufgezeichnet werden, und das ist schlicht und einfach unmöglich. Backups gibt es nur von nichtauthentischen Komponenten - die allerdings werden die Explosion ohnehin überstehen."
[ 4]Keron sann eine Weile darüber nach. "Nun ja ..", sagte er schließlich. "Ich glaube, das reicht ..." Sein Gesicht bekam einen zufriedenen Ausdruck. "Ich will ein Zeichen setzen, Unruhe stiften ... Verstehen Sie?"
[ 4]"Die Sache hat jedoch einen Haken", sagte Shannon. "Es wäre ein Selbstmordanschlag." Als sie Kerons irritierten Blick bemerkte, fügte sie hinzu: "Im übertragenen Sinn natürlich. Sie werden nicht sterben, nur gibt es keine Möglichkeit, Ihre Spuren zu verwischen. Was heißt: Man wird Sie in jedem Fall schnappen."
[ 4]"Keine Möglichkeit?", vergewisserte sich Keron.
[ 4]"Keine ... Schließlich beruht der Effekt direkt auf der Verkopplung Ihres Hirns mit der Simulation. Jeder Versuch, die Verbindungswege zu verschleiern, würde das Ganze scheitern lassen. Anders gesagt: Sie sind gezwungen, Ihren Namen und Ihre Anschrift am Tatort zurückzulassen - nur unter dieser Voraussetzung ist es überhaupt möglich, den Anschlag auszuführen."
[ 4]Shannon registrierte, wie Keron sich straffte, um sie besser ins Auge fassen zu können. Als sie seinem Blick standhielt, ließ er ergeben den Kopf sinken. "Na, schön, man wird mich also schnappen ... Und was dann?"
[ 4]"Sie kommen ins Gefängnis, wahrscheinlich bis an Ihr Lebensende. Was Sie vorhaben, gilt als schweres Verbrechen."
[ 4]"Ein virtuelles Gefängnis?"
[ 4]"Es wird sich real anfühlen, glauben Sie mir."
[ 4]"Ich werd' schon klarkommen damit."
[ 4]"Sie werden nie wieder einen Wald sehen."
[ 4]"Das lässt sich nicht ändern."
[ 4]"Sie werden in einer Welt leben müssen, die Sie als Sünde betrachten. Ein oder zwei Stunden am Tag dürfen Sie raus, aber das ist auch schon alles."
[ 4]Keron schwieg lange, mit einem müden Ausdruck, der sein Gesicht für einige Augenblicke authentischer wirken ließ, als die besten und teuersten Outfits es waren. "Und wennschon", sagte er schließlich. "Und wennschon ..."
Bereits am anderen Tag ging Shannon daran, den Anschlag vorzubereiten. Zuerst musste ein Outfit gefunden werden, das sich auf eine Weise verändern ließ, die den beabsichtigten Effekt ermöglichte. Freilich blieb ihr dabei kaum eine Wahl: Keron bestand darauf, dass es das sein müsse, welches er immer trug, so und nicht anders, in seiner realen Gestalt als gebrechlicher alter Mann wollte er dem Bösen entgegentreten.
[ 4]Nach einer ersten flüchtigen Untersuchung erklärte sich Shannon einverstanden. Das Outfit schien ihr geeignet, war es doch fast ebenso primitiv wie ein Standardoutfit, und je größer der Mangel an Authentizität - so nahm sie an - desto einfacher würde es sein, den Plan zu verwirklichen. Sie setzte sich an ihren Computer und erstellte problemlos eine Kopie der Originalversion des Outfits, die über keinen nennenswerten Kopierschutz verfügte. Dann machte sie sich an die eigentliche Arbeit. Sie öffnete einen Editor mit den Codesequenzen der Pseudo-DNA, und ein zweites Fenster, das ihr die modellierten Ergebnisse ihrer Manipulationen bei einem instanziierten Outfit zeigen sollte. Die Anwesenheit Kerons störte sie dabei.
[ 4]"Das Outfit muss zerstört werden", erklärte sie, ohne dabei den Blick vom Monitor zu lösen. "Und zwar so, dass das System glaubt, es wäre weiter intakt." Sie beugte sich ein wenig vor, beäugte die Kurven und Linien, die über den Schirm tanzten, und fuhr fort, während sie gleichzeitig auf die Tastatur einzuhacken begann: "Ein solchen Anschein aufrecht zu halten, ist nur für kurze Zeit möglich, für sehr kurze Zeit. Je länger es gelingt, desto besser. Auf welche Weise das Outfit zerstört wird, ist dabei nicht unbedingt von Bedeutung, wenn es schnell geschieht, sind die Erfolgsaussichten aber wahrscheinlich größer. Ich habe an eine Sprengladung gedacht, eine Bombe, die Sie am Körper tragen und in einem geeigneten Augenblick zünden. Am besten inmitten einer Menschenmenge ..."
[ 4]"Wird man die Explosion mitbekommen?"
[ 4]"Kommt drauf an ... Wer weit genug weg ist, bekommt es natürlich mit. Sie werden nicht viel merken, und die Leute, die es unmittelbar trifft, auch nicht. Die werden rausfliegen und sich fragen, warum sie rausgeflogen sind. Offiziell wird man natürlich von einem technischen Fehler reden."
[ 4]Keron wirkte alles andere als erfreut. "Die Leute müssen erkennen, was dahinter steckt", brummte er unwillig. "Welchen Sinn hätte es sonst?"
[ 4]"Halten Sie doch eine Rede", schlug Shannon vor. "Kurz bevor Sie sich in die Luft jagen. Dann weiß jeder, was Sache ist."
[ 4]Doch auch das schien Keron nicht zu gefallen. "Ich bin nicht gut im Reden halten", gestand er. "Außerdem: Wer wird mir zuhören?"
[ 4]"Ich könnte Ihre Stimmbänder modifizieren. Dann klänge es, als sprächen Sie durch ein Megafon."
[ 4]Keron blieb weiter skeptisch, erklärte, dass er eigentlich etwas anderes im Sinn hatte. "Am liebsten wäre mir etwas Symbolisches", sagte er mit einem Hauch Euphorie. "Was die Leute wirklich beeindruckt! Sie aufrüttelt! Wo sie gar nicht erst nachdenken müssen, was gemeint ist!"
[ 4]"Zum Beispiel?"
[ 4]"Nun ... Jesus ist am Kreuz gestorben ... Wäre es möglich, etwas in dieser Art ...?"
[ 4]"Wie wollen Sie das arrangieren?"
[ 4]Keron überlegte eine Weile mit gefurchter Stirn. "Nein, das geht wohl nicht", sagte er dann. "Vielleicht eine Selbstverbrennung? Wie stünde es damit?"
[ 4]Shannon überdachte den Vorschlag und nickte anschließend. "Das ließe sich machen, denke ich." Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
[ 4]"Wird es weh tun?", fragte Keron ängstlich.
[ 4]"Gut möglich", erwiderte Shannon ohne aufzusehen und ohne sich - auch wenn sie sich gleichzeitig dafür schämte - einem Anflug von Schadenfreude erwehren zu können.
[ 4]"Aber ... die Schmerzblocker ...?", sagte Keron bestürzt.
[ 4]Shannon sah sich gezwungen, ihre Arbeit erneut zu unterbrechen. "Die Wirkung der Schmerzblocker", erklärte sie mit leiser Ungeduld, "basiert auf verschiedenen Strategien. Eine beruht auf automatischer Abkopplung, wenn der Schmerz eine bestimmte Grenze übersteigt, eine andere darauf, Schmerzen nicht ans Gehirn weiterzuleiten. Die erste Variante ist sicherer und wird deshalb bevorzugt, bei den meisten Outfits findet man jedoch eine Vermischung von beidem."
[ 4]"Wo liegt dann das Problem?"
[ 4]"Ganz einfach darin, dass ich nicht weiß, ob die Schmerzblocker die Wirkung meiner Manipulation nicht beeinträchtigen und ob die ganze Geschichte dann überhaupt funktioniert. Am Sichersten wäre deshalb, sie zu deaktivieren."
[ 4]Auf Kerons Gesicht zeigte sich ein Ausdruck von Gereiztheit. "Sie sollten sich etwas mehr Mühe geben", sagte er drohend.
[ 4]Auch in Shannon erwachte nun der Zorn: "Ich geb mir schon alle Mühe! Sie müssen jedoch begreifen, dass mein Wissen in dieser Sache begrenzt ist, schließlich mache ich so etwas das erste Mal. Ich habe gesagt, was ich für das Beste halte: Eine Bombe. Wenn Ihnen das nicht dramatisch genug erscheint - Ihr Problem. Sie müssen entscheiden, was Ihnen wichtig ist."
[ 4]Keron atmete tief durch und blieb eine Weile reglos sitzen. "Gut!", sagte er dann mit plötzlicher Entschlossenheit. "Deaktivieren Sie die Schmerzblocker!"
Eine Woche später war es soweit. Als Ort für den geplanten Anschlag hatten sie einen kleinen, etwas abseits des Zentrums gelegenen Marktplatz ausgesucht. Äußerlich gelassen schlenderte Shannon über den asphaltierten Grund. Hin und wieder verharrte sie an einem der Stände, besah sich flüchtig - die hoffnungsvollen Blicke der Händler geflissentlich ignorierend - die feilgebotenen Waren und ging dann weiter. Schließlich gelangte sie zu einem lockeren Karree senkrecht aufgestellter Reklametafeln, in dessen Mitte man, um Besucher anzulocken, eine Schau mit exotischen Kleintieren - Schlangen, Vogelspinnen, Skorpione - installiert hatte. Und der Aufwand schien nicht verfehlt: Ein interessiertes Publikum hatte sich vor den Terrarien zusammengefunden und bestaunte die - wie auf Schildern zu lesen stand - "tödlich giftigen" Geschöpfe hinter den in rötlichem Glanz schimmernden Scheiben aus unzerstörbarem Glas, welches das Niemandsland für die Tiere kapselte. - AuthentischeWesen dieser Art würden noch einige Zeit auf sich warten lassen.
[ 4]Shannon schenkte den Kästen keine Beachtung. Sie blickte links an einer der Reklamewände vorbei zu einem großem, noch im Bau befindlichem Bürogebäude an der Nordseite des Platzes, den neben der menschenlockenden Tier-Schau zweiten Grund, dass sie den Platz als Ort des Anschlags gewählt hatten. Ein mehrstufiges Gerüst umschloss den Rohbau, drei Plattformen, über Leitern an den Seiten erreichbar, die unterste in etwa zweieinhalb Metern Höhe. Alles in allem - da Sonntag war und die Arbeit ruhte - eine beinahe ideale Bühne für Kerons Vorhaben.
[ 4]Shannon reckte den Kopf. Sie hatte Keron erspäht, der in unmittelbarer Nähe des Gerüsts erschienen war und jetzt begann, die Leiter zu erklimmen, den Kanister mit Brandbeschleuniger in einer Stofftasche bei sich tragend. Noch nahm niemand Notiz von ihm. Keron erstieg die unterste Plattform und stellte die Tasche neben sich ab, bevor er sich, die Arme weit ausgebreitet, in Positur warf.
[ 4]"Hört mich an!", schrie er, und seine Worte hallten wie Donner über den Platz. Er holte tief Luft und fuhr mit noch gesteigerter Lautstärke fort: "Die Toren sprechen in ihren Herzen: 'Es ist kein Gott.' Sie taugen nichts; ihr Treiben ist ein Greuel; da ist keiner, der Gutes tut ..."
[ 4]Nicht übel, dachte Shannon, von einigem Stolz auf ihre Arbeit erfüllt. Die Stimme hatte sie prima hingekriegt: tief und dröhnend, mit guter Modulation ausgestattet und von einer geradezu überirdischen Strenge, die Kerons mickrige Erscheinung mehr als wettmachte.
[ 4]Sie sah, wie die Leute um sie herum reagierten, sich von den Schlangen und Skorpionen abwandten und neugierig zu dem Baugerüst hinüberschauten. Keron, von der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, aus dem Konzept gebracht, verstummte und blickte unsicher über die lockere Menschenmenge hinweg. Doch rasch fing er sich wieder und donnerte weiter, wobei er übergangslos von den Psalmen zur Offenbarung wechselte: "Und der erste Engel ging hin und goss seine Schale aus auf die Erde; und es ward ein böses und arges Geschwür an den Menschen ..."
[ 4]Von irgendwoher tauchten Sicherheitsleute auf - erkennbar an ihren schwarzen Jacken - und sammelten sich vor dem Gerüst.
[ 4]"Und der zweite Engel goss aus seine Schale ins Meer; und es ward Blut wie eines Toten, und alle lebendigen Wesen im Meer starben. Und der dritte Engel ..."
[ 4]Die Sicherheitsleute formierten sich zu zwei Trupps, die links und rechts auf die Leitern vorrückten. Shannon geriet ins Schwitzen: Keron, ganz auf seine Rede fixiert, schien die Gefahr nicht zu bemerken. Sie hatte ihm geraten, mindestens auf die zweite Plattform zu klettern, doch das war ihm wohl zu beschwerlich gewesen. Wenn er jetzt nicht aufpasste, drohte der Anschlag zu scheitern.
[ 4]"Und der vierte Engel goss aus seine Schale in die Sonne, und ward ihr gegeben, die Menschen zu versengen mit Feuer ..."
[ 4]Die Schwarzjacken waren am Fuß der Leitern stehen geblieben und warteten erst einmal ab.
[ 4]"Und die Menschen wurden versengt von großer Hitze und lästerten den Namen Gottes ... Und der fünfte Engel goss aus seine Schale ... seine Schale ... der fünfte Engel ..."
[ 4]Keron verhaspelte sich, verlor schließlich vollends den Faden und brach ab. Noch einmal setzte er an, brachte jedoch keinen Laut über die Lippen, als hätte er die Fähigkeit zu sprechen von einem Augenblick zum anderen eingebüßt. Einen Moment lang stand er mit offenem Mund da, dann wandte er sich abrupt nach links und fasste in seine Tasche. Nun wurde es ernst. Shannon begriff, dass Keron keine Chance blieb, wenn die Sicherheitsleute es darauf anlegten, seinen Plan zu vereiteln. Mit ein paar Sprüngen konnten sie ihn erreichen, noch bevor er den Kanister überhaupt geöffnet hatte.
[ 4]Die Schwarzjacken jedoch dachten gar nicht daran einzugreifen. Fast amüsiert, so schien es, verfolgten sie, wie Keron den Kanister aufschraubte, den Inhalt über sich goss, den Kanister fallen ließ, ein Feuerzeug hervorholte, es zündete - alles in einer einzigen verschlungenen, zitternden Bewegung. Sekundenbruchteile später loderte das Feuer an seinem Körper hoch.
[ 4]Bastarde!, dachte Shannon zähneknirschend. Von der Plattform her drang ein grauenhaftes Geräusch. Keron, in Flammen gehüllt, war auf die Knie gesunken und rutschte immer weiter zu einem zuckenden Bündel zusammen. Shannon bereute nun bitter, ihn mit der Megafon-Stimme ausgestattet zu haben: Keron stöhnte überlaut, unter furchtbaren Schmerzen, die er vergeblich zu unterdrücken suchte. Es dauerte unendlich lange, bis er verstummte.
[ 4]Dann geschah das Erwartete. Shannon wurde schwarz vor Augen, im nächsten Moment erwachte sie mit dem charakteristischen Schwindelgefühl, das sich stets an eine Notrückkehr anschloss. Nachdem sie den deaktivierten Koppler aus der Nackenbuchse gelöst hatte, erhob sie sich von ihrer Liege, stakste steifbeinig hinüber zur Netzstation und rief eine Liste aller ihr zugänglichen Portale der Stadt ab. Ein großer Teil der Bezeichner blinkte rot, ein Zeichen, dass diese Portale nicht mehr in Betrieb waren. Sie schloss aus den Anzeigen, dass etwa ein Drittel der Stadt zerstört sein müsse.
[ 4]Nicht betroffen davon - sie hatte bei der Wahl des Anschlagorts sorgsam darauf geachtet, dass diese außerhalb des Radius' möglicher Zerstörung lag - war ihre eigene Wohnung, sodass sie umgehend in die Simulation zurückkehren konnte.
[ 4]Als sie vor die Haustür trat, bekam sie einen ersten Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe. Der für gewöhnlich makellos blaue Himmel hatte sich dunkel-orange verfärbt, leuchte an manchen Stellen blutigrot. Die simulierte Luft befand sich in nie gekannter Bewegung, starke Windböen aus Richtung Süden, von dort, wo etwa fünfzehn Kilometer entfernt das Zentrum der Explosion liegen musste, peitschten Shannon entgegen.
[ 4]Von Neugier getrieben lief sie los, je weiter sie vordrang, desto deutlicher wurde, welch enorme Menge Pseudoenergie Kerons Aktion freigesetzt hatte. Dabei bot sich ein eigenartig selektives Bild der Verwüstung. Die Fragmentierung des Datenraums, der hohe Anteil nichtauthentischer Komponenten und die große Zahl an Übergängen hatten dafür gesorgt, dass sich die Druckwelle nur an wenigen Stellen ungehindert hatte ausbreiten können. Teilweise wirkte die Gegend wie in Streifen geschnitten, scheinbar unversehrte Gebäude wechselten mit solchen, von denen nur rauchende Trümmer geblieben waren.
[ 4]So richtig aber was sie und Keron angerichtet hatten, begriff sie erst, als sie die Hauptstraße erreichte. Hier, am Anfang einer fast durchgängig authentischen, weit nach Süden reichenden Zone offenbarte sich die ganze verheerende Wirkung des Anschlags. Die Häuser links und rechts der Straße waren völlig zerstört, sie sah brennende Autowracks, überall lagen leere Outfit-Hüllen. In einer der Ruinen bot sich ein grotesker Anblick: Geblieben war nur eine Reihe riesiger Scheiben aus unzerstörbarem Glas, wahrscheinlich ehemals Schaufenster, die nun durch nichts mehr gehalten senkrecht nach oben ragten. Sehr weit zu blicken vermochte sie nicht, nach kaum hundert Metern trübte sich die Luft, wurde fast undurchsichtig. Ascheflocken tanzten darin umher wie aufgewirbelter Schlick in einem Teich. Alles war voller Staub, der Himmel im Hintergrund wabernde Finsternis, von einem riesigen Rauchpilz beherrscht.
[ 4]Sie ging weiter, wurde jedoch nach kurzer Zeit gestoppt. Polizisten in grauen und Feuerwehrleuten in knallgelben Schutzanzügen errichteten in fliegender Hast erste Sperren und schickten jeden zurück, der sich ihnen näherte. Sie verließ die Hauptstraße und versuchte sich abseits von ihr durchzuschlagen, doch auch hier gab es schon bald kein Weiterkommen mehr. Übergänge, die das Chaos um den Preis der eigenen Zerstörung aufgehalten hatten, erwiesen sich als unpassierbar, Häusertrümmer versperrten den Weg und dort, wo ein weiters Vordringen möglich gewesen wäre, waren bereits Sicherheitskräfte zugange.
[ 4]Schließlich gab sie auf und blieb vor einer der Absperrungen stehen. Eine Schar Neugieriger, die ständig anwuchs, hatte sich hier zusammengefunden. Menschen, die wie Shannon rausgeflogen waren und nun zurückkehrten, zumeist in Standardoutfits, da sie öffentliche Zugangsportale hatten benutzen müssen - eine Uniformität, die der Szene etwas Gespenstisches gab.
[ 4]Erste Gerüchte machten die Runde. Ein Stromausfall wurde vermutet, der den Hauptserver für die Stadt betroffen habe, ein Versagen der Systeme, manche glaubten gar an ein fehlgeschlagenes Experiment mit neuer Hardware. Offenbar war keiner dabei, der Kerons Tat miterlebt hatte, auch an einen Anschlag in der Simulation selbst schien niemand zu denken. Ein Mann in einem Upperclass-Outfit versuchte sich zum Wortführer aufzuschwingen und erklärte, wahrscheinlich sei die Simulation selbst an ihre Grenzen gestoßen, die ständig zunehmende Komplexität hätte die Ressourcen gesprengt, etwas, womit er schon immer gerechnet habe, dass es passieren würde.
[ 4]Shannon starrte den frechen Kerl an, auf der Suche nach einer Abfuhr, die sich gewaschen hatte, dann aber dachte sie an Keron, verkniff sich die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, und erzählte dessen haarklein, was wirklich passiert war.
[ 4]Und dieses Bild von Keron, wie er zusammengekrümmt in den Flammen lag, bekam Shannon den ganzen Tag über nicht mehr aus dem Kopf. Sie wanderte weiter durch die zerstörte Stadt, und sooft jemand kam um zu fragen, was sie von der Katastrophe halte, gab sie bereitwillig Auskunft, auch wenn es sie verdross, immer und immer wieder die gleiche Geschichte erzählen zu müssen.
Der Mann machte einen bedenklich unsicheren Eindruck. Eine Weile verharrte er mit hilflosem Blick direkt vor dem Eingang, ein Hindernis für jeden, der hinaus oder herein wollte. Dann, als er endlich den schwarz-roten Seidenschal auf dem Tisch entdeckt hatte, kam er zögernd heran und erkundigte sich höflich nach den Öffnungszeiten der Picasso-Ausstellung in der 27. Straße.
[ 4]Shannon lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und musterte ihn. Er war mittelgroß und dem Anschein nach über siebzig. Ein schlaffes Gesicht, geprägt von überdimensionalen Tränensäcken, müde blickende, wäßrige Augen, spärlicher Haarwuchs. Bekleidet war er mit braunen Hosen, einem hellblauen Hemd und dunklem Sakko.
[ 4]Nicht eben unauffällig, dachte sie verärgert. Ihre eigene Erscheinung hatte sie mit Bedacht gewählt, auch den Einbau einiger hart an der Legalitätsgrenze vorbeischrammender Accessoires - kleine Hörner, Fellbesatz an den Schläfen und Schnurrhaare unter der Nase - nicht vergessen, sodass sie die angestrebte Mitte auf der Schrägheits-Skala der im Lokal präsenten Outfits mühelos erreichte.
[ 4]Einen Augenblick lang war sie versucht zu sagen, dass sie nichts über diese Ausstellung wisse, oder einfach nur den Kopf zu schütteln, dann aber gab sie doch die korrekte Antwort: "Die Ausstellung ist nicht in der siebenundzwanzigsten Straße. Es ist die achtundzwanzigste ... nein, warten Sie: die dreißigste!"
[ 4]Der Mann nickte eifrig, wie um zu zeigen, dass er alles genau verstanden habe, und setzte sich anschließend. "Ich heiße Keron", sagte er. "Aber das wissen Sie ja ... Und was Picasso angeht: Eigentlich mag ich ihn nicht. In meinen Augen ist er ein Scharlatan, nichts weiter. Ein genialer Scharlatan vielleicht, aber trotzdem ein Scharlatan."
[ 4]Shannons Verärgerung wuchs. Warum redet er solchen Stuss?, dachte sie empört. Warum nennt er seinen Namen?
[ 4]"Ungewöhnliches Outfit", meinte sie mit jedem Tadel in der Stimme, zu dem sie fähig war.
[ 4]Keron schien die Zurechtweisung nicht zu bemerken oder nicht bemerken zu wollen. "Ich bin nicht mehr jung", sagte er gleichmütig. "Das ist eine Tatsache, ob es mir gefällt oder nicht. Warum also sollte ich es verbergen?" Er beugte sich ein Stück vor und fuhr in vertraulichem Ton fort: "Ich verrat Ihnen was: Ich bin neu hier, gewissermaßen ... Ob Sie's glauben oder nicht: Ich habe erst vor zwei Wochen ein Implantat erhalten."
[ 4]Shannon ließ ihre Schnurrhaare zucken, ihrem Frust auf diese Art Ausdruck verleihend. "Tatsächlich?", fragte sie reserviert. "Wieso?"
[ 4]"Ich weiß nicht, ich bin kein Arzt ... Man hat gesagt, es sei gefährlich, mir eins einzusetzen. Eine Allergie, oder so was ..."
[ 4]In Shannons Kopf schrillten jetzt die Alarmglocken. Was Keron sagte klang absurd, das Einsetzen einer Nackenbuchse war ein Routineeingriff, sie hatte nie gehört, dass es dabei ernsthafte Probleme gab. Und log er hier nicht, musste er bei seiner Anwerbung gelogen und sie mit einer falschen Identität hinters Licht geführt haben - gut möglich natürlich auch, dass er sie in allem belog.
[ 4]Blieb die Frage, was er damit bezweckte. Dass er ein Polizeispitzel sein könne, hielt sie für unwahrscheinlich, die benahmen sich anders. Ihren Ärger unterdrückend forschte sie unter gesenkten Lidern hervor in Kerons runzligem Gesicht. War er wirklich ein alter Mann oder spielte er den nur? Sie gelangte zu keinem eindeutigen Ergebnis. Normalerweise verstand sie sehr gut "hinter die Maske" zu schauen, doch hier versagte ihr Talent. Was wohl vor allem an Kerons Outfit lag, war es doch allem Anschein nach von äußerst simpler, höchstens ansatzweise als authentisch zu bezeichnender Beschaffenheit.
[ 4]Währenddessen sprach Keron weiter, kam richtig in Fahrt, schwärmte von seinen Eindrücken und Erlebnissen und davon, wie fantastisch alles sei. Doch auch jetzt wurde Shannon das Gefühl nicht los, dass er sie belog: Irgendetwas an seiner Begeisterung klang falsch.
[ 4]"Ich war in einem Wald", erzählte er. "Die Farben, die Gerüche ... Fantastisch!"
[ 4]"Hier gibt es keinen Wald", warf Shannon ein.
[ 4]"Vielleicht ist 'Wald' ja das falsche Wort. Ein Wäldchen ..."
[ 4]"Es gibt auch kein Wäldchen."
[ 4]"Natürlich gibt es das!" Keron schniefte entrüstet, beschrieb dann detailliert, wo man den Wald finden konnte, wie er hingelangt war - und wie viel er hatte zahlen müssen, um ihn betreten zu dürfen.
[ 4]Nun begriff Shannon. "Dieser Wald", sagte sie abwehrend, "ist nicht real."
[ 4]Ihre Bemerkung hatte einen eigentümlichen Effekt zur Folge: Kerons Greisenaugen funkelten auf einmal in jugendlichem Zorn. "Halten Sie mich für blöd?", fragte er ungehalten. "Ich weiß, dass er nicht real ist!"
[ 4]"So hab ich es nicht gemeint." Wider Willen musste Shannon lächeln. "Sagen wir so: Gewissermaßen ist er in doppeltem Sinn nicht real. Sie waren im Niemandsland; was Sie erlebt haben, war ein Computerprogramm, nichts weiter. Kein authentischer Datenraum."
[ 4]Keron starrte sie misstrauisch an. "Man hat mich betrogen, meinen Sie?"
[ 4]"Wieso betrogen? Sie wollten einen Wald, und Sie haben einen bekommen. Es hat Ihnen doch gefallen?"
[ 4]"Es war fantastisch! Ich weiß, was ein richtiger Wald ist, glauben Sie mir! Als Kind bin ich oft in einem herumgestromert, und eigentlich war alles genauso, wie ich es in Erinnerung habe."
[ 4]Erneut ließ Shannon ihre Schnurrhaare zucken. Was erzählt er jetzt wieder?, dachte sie missmutig. Will er mich auf den Arm nehmen? Laut sagte sie: "Im Niemandsland erscheint vieles real - auf den ersten Blick. Schaut man jedoch genauer hin ... Haben Sie die Bäume berührt, die Sie gesehen haben?"
[ 4]"Aber ja! Es wirkte absolut echt."
[ 4]"Haben Sie versucht, Blätter abzureißen?"
[ 4]"Warum hätte ich das versuchen sollen?"
[ 4]"Wahrscheinlich hätten Sie's gar nicht gekonnt ... Lagen Blätter auf der Erde?"
[ 4]"Gewiss, da lagen welche ... Ah, jetzt fällt mir etwas Merkwürdiges ein: Die Blätter wirbelten herum, obwohl gar kein Wind zu spüren war."
[ 4]"Haben Sie andere Menschen gesehen?"
[ 4]"Jetzt, wo Sie es sagen: nein. Ich war der einzige."
[ 4]"Na sehen Sie: All das sind Merkmale fehlender Authentizität ... Verstehen Sie das nicht falsch, das ist nicht zwangsläufig so. Man könnte das eine oder andere durchaus verbessern, aber gewöhnlich macht das niemand. Zu aufwändig."
[ 4]"Interessant." Keron kniff die Augen zusammen, hob den Arm und vollführte eine kreisende Handbewegung. "Also betrachten Sie das hier als real?"
[ 4]"Warum nicht?"
[ 4]"Weil es auch nur eine Simulation ist."
[ 4]"Eine authentische Simulation!"
[ 4]Keron spuckte aus - eine rein symbolische Geste, da sein primitives Outfit gar nicht fähig sein konnte, den dafür benötigten Speichel zu produzieren - und sagte abfällig: "Und wennschon, das ist nur ein Wort, das sich irgendjemand ausgedacht hat. Es bedeutet nichts."
[ 4]"Es bedeutet schon etwas ... Wenn sich die Kopie vom Original durch nichts mehr unterscheiden lässt: Ist es dann überhaupt noch eine Kopie?"
[ 4]Keron zeigte sich unbeeindruckt: "Die Kopie ist nicht vollkommen, sonst müsste es auch Wälder geben. Ich meine, richtige Wälder."
[ 4]"Es wird bald welche geben. Bei solch komplexen Strukturen muss man behutsam vorgehen. Vor allem braucht es Zeit. Ein funktionierendes Ökosystem kann nicht installiert werden, es muss wachsen."
[ 4]Keron sagte nichts darauf, verfiel in brütendes Schweigen, währenddessen ihn Shannon weiter beobachtete. Noch immer hatte sie Mühe, sein Mienenspiel zu deuten. Seine falsche Begeisterung hatte er abgelegt, wirkte nun mürrisch, von widersprüchlichen Gefühlen erfüllt. Plötzlich wurde sein Gesicht völlig ausdruckslos, vielleicht, weil sein billiges Outfit es aufgegeben hatte, seinen Gemütszustand zu interpretieren.
[ 4]"Ich war selbst Programmierer", sagte er, es klang, als spräche er von einer Zeit, die tausende Jahre zurücklag. "Ich weiß, was eine Simulation ist. Dieses Glas zum Beispiel" – er deutete auf ein halb geleertes Bierglas, mit dem sich Shannon die Wartezeit verkürzt hatte – "ist nur ein Stück Code, eine Folge von Einsen und Nullen. Sein Verhalten wird von programmierten Funktionen bestimmt, seine Eigenschaften von Daten, die in Konstanten und Variablen gespeichert liegen."
[ 4]"Nun, da irren Sie sich. Authentischer Datenraum funktioniert anders als eine herkömmliche Simulation. Ein herkömmliches Programm basiert darauf, dass bekannte Daten hinter bekannten Adressen liegen, im authentischen Datenraum gibt es so etwas nicht. Daten und Adressen sind zunächst virtuell, werden erst in einer möglichen Zuordnung real. Authentischer Datenraum simuliert keine Objekte wie etwa ein Glas, definiert nur eine Reihe von Möglichkeiten, die Einsen und Nullen als Objekte zu interpretieren. Grundlage dafür ist die Umsetzung eines starren Schemas mithilfe spezieller Algorithmen, etwa wie eine Schablone, die über den Speicher geführt wird. Man könnte auch sagen: Die eigentliche Simulation besteht in nichts anderem als dem Bestreben, die Inhalte von Speicherzellen zu Daten zu machen, und ihr Zustandekommen hängt davon ab, ob dies zu jedem Zeitpunkt gelingt.
[ 4]Das heißt aber: Für einen User ist dieser Mechanismus zwingend und nicht zu beeinflussen, das Kann gleichzeitig ein Muss, die Möglichkeit, ein Glas wahrzunehmen gleichbedeutend damit, dass man es tatsächlich wahrnimmt. Und es heißt auch: Jede Möglichkeit des Agierens innerhalb der Simulation erfüllt sich nur im Rahmen einer allgemeingültigen Ordnung, die zu umgehen unmöglich ist. Etwa wie die Naturgesetze in der realen Welt. Ein Glas kann nicht nach Belieben irgendwo und irgendwann erscheinen, es muss auf konventionelle Weise hergestellt werden, und wenn es zerbricht, bleiben Scherben, die sich nicht anders als auf konventionelle Weise beseitigen lassen."
[ 4]Keron hatte mit leicht geneigtem Kopf und - wie Shannon zu erkennen glaubte - wachsendem Abscheu zugehört. Ihr Verdruss erreichte einen neuen Höhepunkt, der sie das ganze Gerede schlagartig satt bekommen ließ. "Ich verschwende nur meine Zeit", sagte sie. "Ich glaube, ich geh besser ..."
[ 4]Sie erhob sich halb von ihrem Sitz, wohl wissend, dass Keron sie nicht so einfach würde verschwinden lassen.
[ 4]"Warten Sie!", sagte Keron auch prompt. In seine Stimme mischte sich ein Anflug von Härte.
[ 4]"Warum sollte ich?", fragte Shannon, ließ sich aber dennoch auf ihren Stuhl zurückfallen.
[ 4]"Ich brauche Ihre Hilfe", erwiderte Keron. Und fügte unheilschwanger hinzu: "Bekomme ich die nicht, werden Sie das bereuen."
[ 4]"Meine Hilfe? Dann sollten Sie aufrichtig zu mir sein."
[ 4]"Es stimmt, ich habe gelogen. Aber das musste ich ... "
[ 4]"Was ist mit Ihrem Implantat?"
[ 4]"Das hab ich schon längere Zeit. Allerdings benutze ich es selten."
[ 4]"Keine Allergie?"
[ 4]"Nein."
[ 4]"Was wollen Sie also?"
[ 4]Als hätte sie einen verborgenen Schalter betätigt, geriet Keron unversehens in heftige Erregung. Wieder fuchtelte er mit der Hand in der Luft herum. "Diese Scheinwelt zerstören!", rief er aufgebracht. "Sie ist Sünde! Blasphemie!"
[ 4]"Nicht so laut!", zischte Shannon besorgt zurück. Ein Blick durch das Lokal beruhigte sie wieder. Der Treffpunkt war gut gewählt, der Trubel in dem drittklassigen Stripteaseschuppen - auch wenn die Post erst später so richtig abgehen würde - groß genug, sodass niemand von ihnen Notiz nahm.
[ 4]Nun war ihr klar, was sich hinter der Maske verbarg, wer der Mann war, der ihr gegenübersaß: ein religiöser Eiferer, vermutlich katholisch geprägt. Sünde, dachte sie verächtlich. Warum müssen diese Knaben immerzu von Sünde reden?
[ 4]Kerons Erregung hatte sich inzwischen wieder gelegt. "Ich bin ein Ketzer", sagte er mit unüberhörbarem Stolz. "Ich weiß, dass ich ein Ketzer bin, aber das macht nichts ... War Jesus nicht auch ein Ketzer? Hätte man ihn sonst ans Kreuz geschlagen?"
[ 4]"Was fragen Sie mich? Ich glaube nicht an Jesus und diesen Kram. Und ehrlich gesagt: Auf mich wirken Sie nicht wie ein Ketzer. Eher wie das ganze Gegenteil."
[ 4]Trotz der Unzulänglichkeit seines Outfits war diesmal eindeutig erkennbar, dass Keron sich gekränkt fühlte.
[ 4]"Uns Sie?", frage er böse. "Was sind Sie eigentlich? Warum sind Sie hergekommen?"
[ 4]"Ich bin hier, weil wir eine Abmachung hatten. Die ja nun wohl geplatzt ist ..."
[ 4]Während sie sprach, legte sie ihre Hand auf Tasche, in der sich die Disc mit dem Virus befand, die sie Keron hatte übergeben wollen. Er hatte sich bei der Kontaktaufnahme als Angestellter einer Bank mit Zugang zu sensiblen Bereichen ausgegeben und sich bereit erklärt, den Virus in das System zu schleusen.
[ 4]Keron nickte: "Da hab ich ebenfalls gelogen ... Wie sollte das Ganze denn ablaufen?"
[ 4]Shannon erklärte, wie sie sich die Sache vorgestellt hatte, und fügte hinzu: "Für Sie wäre es völlig ungefährlich gewesen. Das versichere ich Ihnen. Niemand hätte etwas gemerkt, es ging zunächst nur darum, Daten zu sammeln."
[ 4]"Daten wofür?"
[ 4]"Für einen späteren Angriff vielleicht."
[ 4]"Der was bewirkt hätte?"
[ 4]"Ziemliches Chaos, nehme ich an."
[ 4]Keron machte eine wegwerfende Handbewegung. "Lächerlich! Ich will mehr, und Sie werden mir dabei helfen!"
[ 4]Shannon seufzte. "Haben Sie mir eigentlich zugehört? Sie scheinen noch immer zu glauben, es gäbe ein System, in das man sich einhacken und das man mit einem Virus lahmlegen könnte. Aber so ist es nicht. Ich sagte doch: Alles, was Sie wahrnehmen und worauf Sie einwirken können, existiert nur im Rahmen simulierter Gesetze. Wenn Sie also zerstören wollen, geht das nicht anders als in der realen Welt. Mein Rat: Werden Sie Sprengstoffexperte. Oder werden Sie Physiker und erfinden Sie die Atombombe neu. Ich kann Ihnen nicht helfen ..."
[ 4]Keron ließ sich davon nicht beirren: "Ich meine es ernst", sagte er leise und drohend. "Entweder Sie helfen mir - oder ich lasse Sie und Ihre Freunde hochgehen!"
[ 4]"Ich sagte doch ..."
[ 4]"Ihnen wird schon etwas einfallen, da bin ich sicher. Ich gebe Ihnen Zeit zum Nachdenken - bis morgen ..."
[ 4]Aurel gab sich zerknirscht: "Es ist meine Schuld. Ich habe Keron überprüft." Dabei schielte er sehnsüchtig auf Shannon herab, wohl hoffend, sie würde widersprechen.
[ 4]Shannon dachte gar nicht daran, ihm diesen Gefallen zu tun, zog die Stirn kraus und blickte schweigend an seinem Brustkasten vorbei ins Leere. Sie trug ihr Lieblingsoutfit, eine Eigenkreation: blonder Pferdeschwanz, schmale Schultern, eine dünne, biegsame Gestalt mit nur alibihaft angedeuteten weiblichen Rundungen; dazu ausgeblichene Jeans und ein khakifarbenes T-Shirt. Vor dem Hünen Aurel wirkte sie geradezu winzig. Sie empfand das Absurde der Situation: ein Miezekätzchen, das angesichts einer Bulldogge in Zorn geriet, während die Bulldogge um Frieden bettelte und nur ganz schwach zu knurre wagte.
[ 4]Dojo, der etwa drei Meter entfernt auf einem halbhohen Tisch hockte, versuchte zu vermitteln: "Ich sehe uns nicht in irgendwelcher Gefahr. Keron blufft nur."
[ 4]Er trug einen Kimono und hatte sich das Haar nach der Art japanischer Samurais frisiert. Im Obi steckte ein Kurzschwert. Abgesehen von seiner schwarzen Hautfarbe und der verspiegelten Sonnenbrille auf seiner Nase, wirkte er wie geradewegs einem Akira-Kurosawa-Film entsprungen.
[ 4]Aurel griff seine Worte begierig auf: "Wir haben uns genau an die Regeln gehalten. Er kann nichts wissen. Weder von dir noch von uns."
[ 4]Shannon schwieg weiter und zog nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne: Keron hatte sich zu gut informiert gezeigt, als dass man ihn unterschätzen durfte. Zweifellos war er intelligent und wer konnte schon sagen, was er alles wusste?
[ 4]"Glaubst du wirklich, er würde uns verraten?", fragte Aurel.
[ 4]"Da bin ich sicher."
[ 4]"Der Typ ist verrückt!", entfuhr es Dojo. "Ein Spinner!"
[ 4]"Er ist nicht verrückt", erwiderte Shannon abweisend.
[ 4]"Du nimmst ihn auch noch in Schutz?", fragte Dojo ungläubig. "Der Kerl will uns ans Messer liefern!"
[ 4]"Er tut nur, was er für richtig hält. Nicht anders als wir."
[ 4]"Wenn er wirklich eine Gefahr bedeutet", sagte Aurel, "warum geben wir ihm dann nicht, was er will? Ich meine irgendetwas, das ihn zufrieden stellt ..."
[ 4]"Und was?", fragte Shannon.
[ 4]Aurel hob die Schultern. "Keine Ahnung."
[ 4]"Dann halt lieber die Klappe!", sagte Shannon barsch.
[ 4]Einen Augenblick später schon bereute sie ihre Unbeherrschtheit, über deren Ursache sie sich nicht einmal ganz im Klaren war. Im Grunde konnte sie Aurel nichts vorwerfen, wie es aussah, hatte er keinen Fehler begangen, sich genau an die vereinbarte Prozedur gehalten. Möglicherweise hatte ein Zufall Keron die Informationen in die Hand gespielt, so etwas kam vor, gehörte nun mal zu den Unwägbarkeiten, die sich nicht berechnen ließen.
[ 4]"Na schön", sagte Dojo. "Die Frage ist doch aber: Was machen wir jetzt?"
[ 4]Nach kurzem Überlegen stand Shannons Entschluss fest: "Ihr macht gar nichts." Um ihren schroffen Ton wieder gut zu machen, fügte sie bittend hinzu: "Überlasst Keron mir. Ich werde schon mit ihm fertig."
Am Nachmittag erhielt Shannon einen Anruf von Keron, der sie zu einem Schnellimbiss in der Nähe des Bahnhofs bestellte. Sie machte sich sofort auf den Weg. Als sie den Treffpunkt erreichte, fand sie Keron an einem der Tische aus imitiertem Holz sitzen. Er trug das gleiche Outfit wie bei ihrer ersten Begegnung; vor ihm stand ein Teller Suppe. Shannon setzte sich zu ihm. Sie hatte diesmal ein schlichtes Allerweltsoutfit gewählt. Keron hob den Kopf und blinzelte sie fragend an. Ohne sich lange mit Erkennungsritualen aufzuhalten, sagte Shannon: "Ich habe nachgedacht ... Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit ..."
[ 4]Keron schnaufte zufrieden, hob den Löffel an den Mund und schlürfte genießerisch. Anschließend fixierte er sie mit einem spöttischen Blick, der eindeutig besagte: Na also, ich wusste es doch!
[ 4]"Das betrifft nicht den authentischen Datenraum", sagte Shannon, erbost über die Vorstellung, Keron könne sie für eine Lügnerin halten, "sondern nichtauthentische Komponenten, die in die Simulation integriert sind, und die es natürlich noch massenhaft gibt. Denken Sie nur an Ihren Wald! Solche Komponenten haben den Charakter von Singularitäten, etwa wie schwarze Löcher in der realen Welt. Paradebeispiel dafür sind die Zugangsportale. Warum, ist einleuchtend: Um sich in den Datenraum einzuloggen, bedarf es einer adressierbaren, von innen wie außen gleichermaßen definierten Schnittstelle. Gleiches gilt für die Outfits. Ein Outfit kann niemals vollkommen authentisch sein, denn das würde bedeuten, dass der User vollständig in der Simulation aufgänge. Jedes Outfit enthält deshalb immer eine Singularität, und genau das ist der Punkt, an dem man ansetzen könnte: Jede Abkopplung geht mit einer kontrollierten Auflösung der Singularität einher, gelänge es, diese über die Trennung des Users hinaus zu verzögern, entstünde undefinierter Datenraum. Was dann geschähe, käme der schlagartigen Freisetzung einer beträchtlichen Energiemenge in der realen Welt gleich. Die Zerstörungen wären enorm."
[ 4]"Die Stadt?", fragte Keron gierig.
[ 4]"Ein Teil der Stadt", schränkte Shannon ein.
[ 4]"Nun, immerhin ... Gibt es Backups?"
[ 4]"Nein."
[ 4]"Wissen Sie das genau?"
[ 4]"Ja."
[ 4]"Das ist leichtsinnig, nicht wahr?"
[ 4]"Das hat nichts mit Leichtsinn zu tun ... Mir scheint, Sie haben es immer noch nicht begriffen: Authentischer Datenraum lässt sich nicht als Augenblickszustand speichern, jeder momentane Zustand ist die Folge eines vorhergehenden. Für eine Rekonstruktion müsste die gesamte Geschichte der Simulation aufgezeichnet werden, und das ist schlicht und einfach unmöglich. Backups gibt es nur von nichtauthentischen Komponenten - die allerdings werden die Explosion ohnehin überstehen."
[ 4]Keron sann eine Weile darüber nach. "Nun ja ..", sagte er schließlich. "Ich glaube, das reicht ..." Sein Gesicht bekam einen zufriedenen Ausdruck. "Ich will ein Zeichen setzen, Unruhe stiften ... Verstehen Sie?"
[ 4]"Die Sache hat jedoch einen Haken", sagte Shannon. "Es wäre ein Selbstmordanschlag." Als sie Kerons irritierten Blick bemerkte, fügte sie hinzu: "Im übertragenen Sinn natürlich. Sie werden nicht sterben, nur gibt es keine Möglichkeit, Ihre Spuren zu verwischen. Was heißt: Man wird Sie in jedem Fall schnappen."
[ 4]"Keine Möglichkeit?", vergewisserte sich Keron.
[ 4]"Keine ... Schließlich beruht der Effekt direkt auf der Verkopplung Ihres Hirns mit der Simulation. Jeder Versuch, die Verbindungswege zu verschleiern, würde das Ganze scheitern lassen. Anders gesagt: Sie sind gezwungen, Ihren Namen und Ihre Anschrift am Tatort zurückzulassen - nur unter dieser Voraussetzung ist es überhaupt möglich, den Anschlag auszuführen."
[ 4]Shannon registrierte, wie Keron sich straffte, um sie besser ins Auge fassen zu können. Als sie seinem Blick standhielt, ließ er ergeben den Kopf sinken. "Na, schön, man wird mich also schnappen ... Und was dann?"
[ 4]"Sie kommen ins Gefängnis, wahrscheinlich bis an Ihr Lebensende. Was Sie vorhaben, gilt als schweres Verbrechen."
[ 4]"Ein virtuelles Gefängnis?"
[ 4]"Es wird sich real anfühlen, glauben Sie mir."
[ 4]"Ich werd' schon klarkommen damit."
[ 4]"Sie werden nie wieder einen Wald sehen."
[ 4]"Das lässt sich nicht ändern."
[ 4]"Sie werden in einer Welt leben müssen, die Sie als Sünde betrachten. Ein oder zwei Stunden am Tag dürfen Sie raus, aber das ist auch schon alles."
[ 4]Keron schwieg lange, mit einem müden Ausdruck, der sein Gesicht für einige Augenblicke authentischer wirken ließ, als die besten und teuersten Outfits es waren. "Und wennschon", sagte er schließlich. "Und wennschon ..."
Bereits am anderen Tag ging Shannon daran, den Anschlag vorzubereiten. Zuerst musste ein Outfit gefunden werden, das sich auf eine Weise verändern ließ, die den beabsichtigten Effekt ermöglichte. Freilich blieb ihr dabei kaum eine Wahl: Keron bestand darauf, dass es das sein müsse, welches er immer trug, so und nicht anders, in seiner realen Gestalt als gebrechlicher alter Mann wollte er dem Bösen entgegentreten.
[ 4]Nach einer ersten flüchtigen Untersuchung erklärte sich Shannon einverstanden. Das Outfit schien ihr geeignet, war es doch fast ebenso primitiv wie ein Standardoutfit, und je größer der Mangel an Authentizität - so nahm sie an - desto einfacher würde es sein, den Plan zu verwirklichen. Sie setzte sich an ihren Computer und erstellte problemlos eine Kopie der Originalversion des Outfits, die über keinen nennenswerten Kopierschutz verfügte. Dann machte sie sich an die eigentliche Arbeit. Sie öffnete einen Editor mit den Codesequenzen der Pseudo-DNA, und ein zweites Fenster, das ihr die modellierten Ergebnisse ihrer Manipulationen bei einem instanziierten Outfit zeigen sollte. Die Anwesenheit Kerons störte sie dabei.
[ 4]"Das Outfit muss zerstört werden", erklärte sie, ohne dabei den Blick vom Monitor zu lösen. "Und zwar so, dass das System glaubt, es wäre weiter intakt." Sie beugte sich ein wenig vor, beäugte die Kurven und Linien, die über den Schirm tanzten, und fuhr fort, während sie gleichzeitig auf die Tastatur einzuhacken begann: "Ein solchen Anschein aufrecht zu halten, ist nur für kurze Zeit möglich, für sehr kurze Zeit. Je länger es gelingt, desto besser. Auf welche Weise das Outfit zerstört wird, ist dabei nicht unbedingt von Bedeutung, wenn es schnell geschieht, sind die Erfolgsaussichten aber wahrscheinlich größer. Ich habe an eine Sprengladung gedacht, eine Bombe, die Sie am Körper tragen und in einem geeigneten Augenblick zünden. Am besten inmitten einer Menschenmenge ..."
[ 4]"Wird man die Explosion mitbekommen?"
[ 4]"Kommt drauf an ... Wer weit genug weg ist, bekommt es natürlich mit. Sie werden nicht viel merken, und die Leute, die es unmittelbar trifft, auch nicht. Die werden rausfliegen und sich fragen, warum sie rausgeflogen sind. Offiziell wird man natürlich von einem technischen Fehler reden."
[ 4]Keron wirkte alles andere als erfreut. "Die Leute müssen erkennen, was dahinter steckt", brummte er unwillig. "Welchen Sinn hätte es sonst?"
[ 4]"Halten Sie doch eine Rede", schlug Shannon vor. "Kurz bevor Sie sich in die Luft jagen. Dann weiß jeder, was Sache ist."
[ 4]Doch auch das schien Keron nicht zu gefallen. "Ich bin nicht gut im Reden halten", gestand er. "Außerdem: Wer wird mir zuhören?"
[ 4]"Ich könnte Ihre Stimmbänder modifizieren. Dann klänge es, als sprächen Sie durch ein Megafon."
[ 4]Keron blieb weiter skeptisch, erklärte, dass er eigentlich etwas anderes im Sinn hatte. "Am liebsten wäre mir etwas Symbolisches", sagte er mit einem Hauch Euphorie. "Was die Leute wirklich beeindruckt! Sie aufrüttelt! Wo sie gar nicht erst nachdenken müssen, was gemeint ist!"
[ 4]"Zum Beispiel?"
[ 4]"Nun ... Jesus ist am Kreuz gestorben ... Wäre es möglich, etwas in dieser Art ...?"
[ 4]"Wie wollen Sie das arrangieren?"
[ 4]Keron überlegte eine Weile mit gefurchter Stirn. "Nein, das geht wohl nicht", sagte er dann. "Vielleicht eine Selbstverbrennung? Wie stünde es damit?"
[ 4]Shannon überdachte den Vorschlag und nickte anschließend. "Das ließe sich machen, denke ich." Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
[ 4]"Wird es weh tun?", fragte Keron ängstlich.
[ 4]"Gut möglich", erwiderte Shannon ohne aufzusehen und ohne sich - auch wenn sie sich gleichzeitig dafür schämte - einem Anflug von Schadenfreude erwehren zu können.
[ 4]"Aber ... die Schmerzblocker ...?", sagte Keron bestürzt.
[ 4]Shannon sah sich gezwungen, ihre Arbeit erneut zu unterbrechen. "Die Wirkung der Schmerzblocker", erklärte sie mit leiser Ungeduld, "basiert auf verschiedenen Strategien. Eine beruht auf automatischer Abkopplung, wenn der Schmerz eine bestimmte Grenze übersteigt, eine andere darauf, Schmerzen nicht ans Gehirn weiterzuleiten. Die erste Variante ist sicherer und wird deshalb bevorzugt, bei den meisten Outfits findet man jedoch eine Vermischung von beidem."
[ 4]"Wo liegt dann das Problem?"
[ 4]"Ganz einfach darin, dass ich nicht weiß, ob die Schmerzblocker die Wirkung meiner Manipulation nicht beeinträchtigen und ob die ganze Geschichte dann überhaupt funktioniert. Am Sichersten wäre deshalb, sie zu deaktivieren."
[ 4]Auf Kerons Gesicht zeigte sich ein Ausdruck von Gereiztheit. "Sie sollten sich etwas mehr Mühe geben", sagte er drohend.
[ 4]Auch in Shannon erwachte nun der Zorn: "Ich geb mir schon alle Mühe! Sie müssen jedoch begreifen, dass mein Wissen in dieser Sache begrenzt ist, schließlich mache ich so etwas das erste Mal. Ich habe gesagt, was ich für das Beste halte: Eine Bombe. Wenn Ihnen das nicht dramatisch genug erscheint - Ihr Problem. Sie müssen entscheiden, was Ihnen wichtig ist."
[ 4]Keron atmete tief durch und blieb eine Weile reglos sitzen. "Gut!", sagte er dann mit plötzlicher Entschlossenheit. "Deaktivieren Sie die Schmerzblocker!"
Eine Woche später war es soweit. Als Ort für den geplanten Anschlag hatten sie einen kleinen, etwas abseits des Zentrums gelegenen Marktplatz ausgesucht. Äußerlich gelassen schlenderte Shannon über den asphaltierten Grund. Hin und wieder verharrte sie an einem der Stände, besah sich flüchtig - die hoffnungsvollen Blicke der Händler geflissentlich ignorierend - die feilgebotenen Waren und ging dann weiter. Schließlich gelangte sie zu einem lockeren Karree senkrecht aufgestellter Reklametafeln, in dessen Mitte man, um Besucher anzulocken, eine Schau mit exotischen Kleintieren - Schlangen, Vogelspinnen, Skorpione - installiert hatte. Und der Aufwand schien nicht verfehlt: Ein interessiertes Publikum hatte sich vor den Terrarien zusammengefunden und bestaunte die - wie auf Schildern zu lesen stand - "tödlich giftigen" Geschöpfe hinter den in rötlichem Glanz schimmernden Scheiben aus unzerstörbarem Glas, welches das Niemandsland für die Tiere kapselte. - AuthentischeWesen dieser Art würden noch einige Zeit auf sich warten lassen.
[ 4]Shannon schenkte den Kästen keine Beachtung. Sie blickte links an einer der Reklamewände vorbei zu einem großem, noch im Bau befindlichem Bürogebäude an der Nordseite des Platzes, den neben der menschenlockenden Tier-Schau zweiten Grund, dass sie den Platz als Ort des Anschlags gewählt hatten. Ein mehrstufiges Gerüst umschloss den Rohbau, drei Plattformen, über Leitern an den Seiten erreichbar, die unterste in etwa zweieinhalb Metern Höhe. Alles in allem - da Sonntag war und die Arbeit ruhte - eine beinahe ideale Bühne für Kerons Vorhaben.
[ 4]Shannon reckte den Kopf. Sie hatte Keron erspäht, der in unmittelbarer Nähe des Gerüsts erschienen war und jetzt begann, die Leiter zu erklimmen, den Kanister mit Brandbeschleuniger in einer Stofftasche bei sich tragend. Noch nahm niemand Notiz von ihm. Keron erstieg die unterste Plattform und stellte die Tasche neben sich ab, bevor er sich, die Arme weit ausgebreitet, in Positur warf.
[ 4]"Hört mich an!", schrie er, und seine Worte hallten wie Donner über den Platz. Er holte tief Luft und fuhr mit noch gesteigerter Lautstärke fort: "Die Toren sprechen in ihren Herzen: 'Es ist kein Gott.' Sie taugen nichts; ihr Treiben ist ein Greuel; da ist keiner, der Gutes tut ..."
[ 4]Nicht übel, dachte Shannon, von einigem Stolz auf ihre Arbeit erfüllt. Die Stimme hatte sie prima hingekriegt: tief und dröhnend, mit guter Modulation ausgestattet und von einer geradezu überirdischen Strenge, die Kerons mickrige Erscheinung mehr als wettmachte.
[ 4]Sie sah, wie die Leute um sie herum reagierten, sich von den Schlangen und Skorpionen abwandten und neugierig zu dem Baugerüst hinüberschauten. Keron, von der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, aus dem Konzept gebracht, verstummte und blickte unsicher über die lockere Menschenmenge hinweg. Doch rasch fing er sich wieder und donnerte weiter, wobei er übergangslos von den Psalmen zur Offenbarung wechselte: "Und der erste Engel ging hin und goss seine Schale aus auf die Erde; und es ward ein böses und arges Geschwür an den Menschen ..."
[ 4]Von irgendwoher tauchten Sicherheitsleute auf - erkennbar an ihren schwarzen Jacken - und sammelten sich vor dem Gerüst.
[ 4]"Und der zweite Engel goss aus seine Schale ins Meer; und es ward Blut wie eines Toten, und alle lebendigen Wesen im Meer starben. Und der dritte Engel ..."
[ 4]Die Sicherheitsleute formierten sich zu zwei Trupps, die links und rechts auf die Leitern vorrückten. Shannon geriet ins Schwitzen: Keron, ganz auf seine Rede fixiert, schien die Gefahr nicht zu bemerken. Sie hatte ihm geraten, mindestens auf die zweite Plattform zu klettern, doch das war ihm wohl zu beschwerlich gewesen. Wenn er jetzt nicht aufpasste, drohte der Anschlag zu scheitern.
[ 4]"Und der vierte Engel goss aus seine Schale in die Sonne, und ward ihr gegeben, die Menschen zu versengen mit Feuer ..."
[ 4]Die Schwarzjacken waren am Fuß der Leitern stehen geblieben und warteten erst einmal ab.
[ 4]"Und die Menschen wurden versengt von großer Hitze und lästerten den Namen Gottes ... Und der fünfte Engel goss aus seine Schale ... seine Schale ... der fünfte Engel ..."
[ 4]Keron verhaspelte sich, verlor schließlich vollends den Faden und brach ab. Noch einmal setzte er an, brachte jedoch keinen Laut über die Lippen, als hätte er die Fähigkeit zu sprechen von einem Augenblick zum anderen eingebüßt. Einen Moment lang stand er mit offenem Mund da, dann wandte er sich abrupt nach links und fasste in seine Tasche. Nun wurde es ernst. Shannon begriff, dass Keron keine Chance blieb, wenn die Sicherheitsleute es darauf anlegten, seinen Plan zu vereiteln. Mit ein paar Sprüngen konnten sie ihn erreichen, noch bevor er den Kanister überhaupt geöffnet hatte.
[ 4]Die Schwarzjacken jedoch dachten gar nicht daran einzugreifen. Fast amüsiert, so schien es, verfolgten sie, wie Keron den Kanister aufschraubte, den Inhalt über sich goss, den Kanister fallen ließ, ein Feuerzeug hervorholte, es zündete - alles in einer einzigen verschlungenen, zitternden Bewegung. Sekundenbruchteile später loderte das Feuer an seinem Körper hoch.
[ 4]Bastarde!, dachte Shannon zähneknirschend. Von der Plattform her drang ein grauenhaftes Geräusch. Keron, in Flammen gehüllt, war auf die Knie gesunken und rutschte immer weiter zu einem zuckenden Bündel zusammen. Shannon bereute nun bitter, ihn mit der Megafon-Stimme ausgestattet zu haben: Keron stöhnte überlaut, unter furchtbaren Schmerzen, die er vergeblich zu unterdrücken suchte. Es dauerte unendlich lange, bis er verstummte.
[ 4]Dann geschah das Erwartete. Shannon wurde schwarz vor Augen, im nächsten Moment erwachte sie mit dem charakteristischen Schwindelgefühl, das sich stets an eine Notrückkehr anschloss. Nachdem sie den deaktivierten Koppler aus der Nackenbuchse gelöst hatte, erhob sie sich von ihrer Liege, stakste steifbeinig hinüber zur Netzstation und rief eine Liste aller ihr zugänglichen Portale der Stadt ab. Ein großer Teil der Bezeichner blinkte rot, ein Zeichen, dass diese Portale nicht mehr in Betrieb waren. Sie schloss aus den Anzeigen, dass etwa ein Drittel der Stadt zerstört sein müsse.
[ 4]Nicht betroffen davon - sie hatte bei der Wahl des Anschlagorts sorgsam darauf geachtet, dass diese außerhalb des Radius' möglicher Zerstörung lag - war ihre eigene Wohnung, sodass sie umgehend in die Simulation zurückkehren konnte.
[ 4]Als sie vor die Haustür trat, bekam sie einen ersten Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe. Der für gewöhnlich makellos blaue Himmel hatte sich dunkel-orange verfärbt, leuchte an manchen Stellen blutigrot. Die simulierte Luft befand sich in nie gekannter Bewegung, starke Windböen aus Richtung Süden, von dort, wo etwa fünfzehn Kilometer entfernt das Zentrum der Explosion liegen musste, peitschten Shannon entgegen.
[ 4]Von Neugier getrieben lief sie los, je weiter sie vordrang, desto deutlicher wurde, welch enorme Menge Pseudoenergie Kerons Aktion freigesetzt hatte. Dabei bot sich ein eigenartig selektives Bild der Verwüstung. Die Fragmentierung des Datenraums, der hohe Anteil nichtauthentischer Komponenten und die große Zahl an Übergängen hatten dafür gesorgt, dass sich die Druckwelle nur an wenigen Stellen ungehindert hatte ausbreiten können. Teilweise wirkte die Gegend wie in Streifen geschnitten, scheinbar unversehrte Gebäude wechselten mit solchen, von denen nur rauchende Trümmer geblieben waren.
[ 4]So richtig aber was sie und Keron angerichtet hatten, begriff sie erst, als sie die Hauptstraße erreichte. Hier, am Anfang einer fast durchgängig authentischen, weit nach Süden reichenden Zone offenbarte sich die ganze verheerende Wirkung des Anschlags. Die Häuser links und rechts der Straße waren völlig zerstört, sie sah brennende Autowracks, überall lagen leere Outfit-Hüllen. In einer der Ruinen bot sich ein grotesker Anblick: Geblieben war nur eine Reihe riesiger Scheiben aus unzerstörbarem Glas, wahrscheinlich ehemals Schaufenster, die nun durch nichts mehr gehalten senkrecht nach oben ragten. Sehr weit zu blicken vermochte sie nicht, nach kaum hundert Metern trübte sich die Luft, wurde fast undurchsichtig. Ascheflocken tanzten darin umher wie aufgewirbelter Schlick in einem Teich. Alles war voller Staub, der Himmel im Hintergrund wabernde Finsternis, von einem riesigen Rauchpilz beherrscht.
[ 4]Sie ging weiter, wurde jedoch nach kurzer Zeit gestoppt. Polizisten in grauen und Feuerwehrleuten in knallgelben Schutzanzügen errichteten in fliegender Hast erste Sperren und schickten jeden zurück, der sich ihnen näherte. Sie verließ die Hauptstraße und versuchte sich abseits von ihr durchzuschlagen, doch auch hier gab es schon bald kein Weiterkommen mehr. Übergänge, die das Chaos um den Preis der eigenen Zerstörung aufgehalten hatten, erwiesen sich als unpassierbar, Häusertrümmer versperrten den Weg und dort, wo ein weiters Vordringen möglich gewesen wäre, waren bereits Sicherheitskräfte zugange.
[ 4]Schließlich gab sie auf und blieb vor einer der Absperrungen stehen. Eine Schar Neugieriger, die ständig anwuchs, hatte sich hier zusammengefunden. Menschen, die wie Shannon rausgeflogen waren und nun zurückkehrten, zumeist in Standardoutfits, da sie öffentliche Zugangsportale hatten benutzen müssen - eine Uniformität, die der Szene etwas Gespenstisches gab.
[ 4]Erste Gerüchte machten die Runde. Ein Stromausfall wurde vermutet, der den Hauptserver für die Stadt betroffen habe, ein Versagen der Systeme, manche glaubten gar an ein fehlgeschlagenes Experiment mit neuer Hardware. Offenbar war keiner dabei, der Kerons Tat miterlebt hatte, auch an einen Anschlag in der Simulation selbst schien niemand zu denken. Ein Mann in einem Upperclass-Outfit versuchte sich zum Wortführer aufzuschwingen und erklärte, wahrscheinlich sei die Simulation selbst an ihre Grenzen gestoßen, die ständig zunehmende Komplexität hätte die Ressourcen gesprengt, etwas, womit er schon immer gerechnet habe, dass es passieren würde.
[ 4]Shannon starrte den frechen Kerl an, auf der Suche nach einer Abfuhr, die sich gewaschen hatte, dann aber dachte sie an Keron, verkniff sich die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, und erzählte dessen haarklein, was wirklich passiert war.
[ 4]Und dieses Bild von Keron, wie er zusammengekrümmt in den Flammen lag, bekam Shannon den ganzen Tag über nicht mehr aus dem Kopf. Sie wanderte weiter durch die zerstörte Stadt, und sooft jemand kam um zu fragen, was sie von der Katastrophe halte, gab sie bereitwillig Auskunft, auch wenn es sie verdross, immer und immer wieder die gleiche Geschichte erzählen zu müssen.