begegnung - sonett

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HerbertH

Mitglied
begegnung

ein zweig blüht auf dem markplatz unbekannt
am rande einer straße fällt die blüte
der mittelalten heimlich aus der tüte
die plötzlich meint sie habe sich verbrannt

wird jener schöne junge mann sie richten?
ihr sohn den sie vor jahren von sich stieß?
nicht nur dass sie ihr vater büßen ließ
er rief vergeblich sie zu christenpflichten

die schande wollte ihr er nicht ersparen
nur sich und sie zum abort heftig drängen
damit nur niemand von dem balg erfahre

sie sah jedoch das laken und die bahre
und widerstand des vaters - opas! - zwängen
nur wenig stolz konnt sie sich so bewahren
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Beim ersten Lesen entzog es sich mir, wie in einem Labyrinth fand ich aber doch durch.
Es ist ein tiefer Konflikt.
Und "mittelalt" hat Anklänge zu "mittleren Alters" und "mittelalterlich".
Es ist ein tiefer Konflikt.
Dass sie ihren Sohn erkannte, zeigt, dass sie sich um ihn sorgte, ihn nie vergaß, aber sich nicht zu erkennen gab (oder doch)?

"die schande wollte ihr er nicht ersparen"
Dieses (Nicht-)Motiv ist das Gegenteil des Erwarteten. LLogisch wäre, er hätte ihr die Schande ersparen wollen und sie deshalb zur Abtreibung getrieben.
Aber es hat auch einen anderen Sinn. Es ging nicht um Schande, sondern um Tradition. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein. Man kann die Geschichte korrigieren.
Heute sind wir aus dem Mittelalter (scheinbar) heraus, der Abort ist für viele ein Mittel.
Die junge Frau aber sorgte sich um das Leben (an sich).
Wann lebt ein Embryo? Die heutige Aufteilung nach drfei Monaten ist willkürlich, wie das Beispiel China zeigt, wo man bis kurz vor der Geburt abtreiben konnte.

Wie aber denkt der, um den es geht?
Viele sind zunächst nicht erwünscht. Derjenige hier nicht. Und er fühlt es. Aber er ist groß geworden, hat also eine Heimat gefunden, woanders.
Meist sind es aber nicht mal die Mütter, noch öfter sind es die Väter, die den Nachwuchs verstoßen - missachten.
Vom Vater ist im Gedicht nicht die Rede.
Er ist also schon vorher weg - oder die Verachtung für ihn (durch die Frau) ist so stark, dass sie ihn verdrängt. Er also ist es eher nicht, bei dem der Sohn aufwuchs.

Unsere Gesellschaft liebt keine Kinder. Sie drängt zur Abtreibung, schafft Werte, die den Egoismus an erste Stelle setzen. Gemeinschaftliche Ideale werden missachtet und verachtet.
Das muss zur Kinderarmut (in jedem Sinne) führen.
Das Gedicht als Metapher für die unsrige mittelalterliche (nicht-utopische) Gesellschaft.
Der "realexistierende" Sozialismus ist kein Sozialismus, was das Wort "Realexistierend" ausdrückt.
Das Gedicht zeigt auch gesellschaftliche Beziehungen. Es ging nicht mehr um Schande, es ging um Nutzen, um den persönlichen Nutzen. Die Mutter wollte sich entziehen, und doch gelang es ihr nicht. Und jetzt ist niemand mehr da, der ihr die Rente bezahlt, der sich um sie kümmert, wenn sie bedürftig ist.

Noch bin ich im Labyrinth und der Ariadnefaden ist zerschnitten, aber ich finde immer wieder Neues und immer gleicht es dem Alten.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Bernd,

wie so oft kreisen Deine Gedanken um so viele Aspekte, die sich dem Thema dieses Gedichts anschließen, es gesellschaftlich und persönlich interpretieren.

Die Problematik ist immer noch akut, wenn auch die von mir gewählten Begriffe eher einen Holzschnitt "wie in alten Zeiten" darstellen.

Es ging mir in diesem Gedicht um die Begegnung, diesen Moment voller Bangigkeit angesichts der persönlichen Geschichte dieser Frau. Da der Sohn herangewachsen ist, sind die leidvollen Erfahrungen der Mutter mit ihrem Vater schon Jahrzehnte vergangen, spiegeln also diese alte Zeit. Aber die Auswirkungen auf die Persönlichkeit der Mutter, auf die auch die letzte Zeile abhebt, werden wohl bis zu ihrem Tod andauern.

Die Details der Trennung von ihrem Sohn, ihrem Umgang mit ihrem Vater - der sich (!) die gesellschaftliche Schande ersparen wollte, ihr die persönliche Schande der Abtreibung aber nicht - wie auch die Person des Vaters bleiben im Dunklen: Stoff für weitere Geschichten und die Phantasie beim Lesen.

Danke, dass Du die Deine hast spielen lassen. Vieles in unserer Gesellschaft wurzelt noch tief im Mittelalter.

Liebe Grüße

Herbert
 

HerbertH

Mitglied
begegnung

ein zweig blüht auf dem markplatz unbekannt
am rande einer straße fällt die blüte
der mittelalten heimlich aus der tüte
die plötzlich meint sie habe sich verbrannt

wird jener schöne junge mann sie richten?
ihr sohn den sie vor jahren von sich stieß?
nicht nur dass sie ihr vater büßen ließ
er rief angeblich sie zu christenpflichten

die schande wollte ihr er nicht ersparen
nur sich - sie zum abort gleich heftig drängen
damit nur niemand von dem balg erfahre

sie sah jedoch das laken und die bahre
und widerstand des vaters - opas! - zwängen
nur wenig stolz konnt sie sich so bewahren
 

HerbertH

Mitglied
danke für die Wertungen :)

ich habe wegen der betonung von abort auf der zweiten silbe die Zeile geändert.

Liebe Grüße

Herbert
 

HerbertH

Mitglied
begegnung

ein zweig blüht auf dem markplatz unbekannt
am rande einer straße fällt die blüte
der mittelalten heimlich aus der tüte
die plötzlich meint sie habe sich verbrannt

wird jener schöne junge mann sie richten?
ihr sohn den sie vor jahren von sich stieß?
nicht nur dass sie ihr vater büßen ließ
er rief angeblich sie zu christenpflichten

die schande wollte ihr er nicht ersparen
nur sich und sie zum abbruch heftig drängen
damit nur niemand von dem balg erfahre

sie sah jedoch das laken und die bahre
und widerstand des vaters - opas! - zwängen
nur wenig stolz konnt sie sich so bewahren
 

HerbertH

Mitglied
sonett so nett so fürchterlich
so frisch und fröhlich ist es nich
das frag ich mich und auch mal Dich
so wunderts und verwirrt es mich

so unbegründet liest es sich
so wertgeschätzt als wunderlich
das wirkt auf mich so liederlich
so ungeniert so ohne strich

und komma gleichsam ohne lettern
wie kann man so gedichte bettern
wer wird denn nur darüber wettern

vielleicht ists gut es abzuschmettern
denn nur bei leselupen vettern
befindet man sich unter rettern
 



 
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