Begegnung zum Mozartturm

Max Neumann

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Instinktiv bog Schulte bald nach dem Bahnhofsausgang in ein modern errichtetes Gewerbegebiet ab. Dort roch es so richtig nach Neubauten. Putz und frisch angestrichene Häuserfassaden, Fensterrahmen, Briefkästen, besprenkelte Vorgärtenwiesen, und merkwürdigerweise ebenfalls die Klingelschilder: Alles verströmte den bezirzend- ausgewrungenen Duft nigelnagelneuer Architektur.

Es war heiß. Die Sonne brannte vom Himmel, klebte Schultes Hemd an der Haut fest. Er schwitze, fühle sich unwohl, hatte Durst. Zu Fuß unterwegs mit einer Halunker-Aktentasche, die auf Uneingeweihte wie ein Bunker für Wikileaksdokumente wirken musste, glich Schulte schon von Weitem und bei näherem Hinsehen einem Agentenverschnitt. Die Tasche bot keinen Stauraum für eine Wasserflasche, aber achtete Schulte, den Schweiß auf der Stirn verreibend, darauf?
Ihm lief eine alte Frau entgegen. Der Hitze zum Trotz trug sie einen grauen Mantel mit Knielänge, dazu mausgrauer Hut. Sie hatte silberne Haare und eine aschgrau-staubige Hautfarbe. Ihr Gesicht vom Hut bedeckt.

Entschuldigung. Ich suche den Mozartturm. Kennen Sie den?

Die Frau blieb stehen und erwiderte, sie habe die Frage nicht verstanden. Schulte wiederholte sich.

Wie kommen Sie darauf wohl, äußerte sie kichernd.

Ähm, ich –

Nein, nein, huschten der Frau die Worte aus dem Mund, während sie mit den Armen eine Abwehrbewegung vollzog. Sie sollen mir nicht antworten. Meine Frage war keine Frage. Sie war ein hörbarer Gedanke.

Die Aschgraue zog die Krempe ihres Huts tiefer ins Gesicht und krempelte ihren Ärmel hoch.
Ein Gewirr aus dunkelvioletten und rosafarbenen Adern fiel Schulte ins Auge. Bei den Pulsadern verliefen sie in ein kringelförmiges Muster, im Zentrum des Adernkreises zu einem Wort zusammen.

Haben Sie mit geöffneten Augen schon mal neben sich gestanden? Die Aschgrau nestelte an ihrem Ärmel herum und verdeckte die Adern.

Jeder steht mal neben sich, murmelte Schulte und stierte auf den Ärmel. Unterlag Schulte einer Sinnestäuschung oder war der Unterarm der Aschgrauen wirklich von einem Wort aus Adern bedeckt?

Geht es Ihnen gut?

Mir geht es nicht gut. Äh, gut.

Sind Sie sicher?

Ja, schon. Bis auf die Hitze und eine Empfindung, von der ich nicht weiß, ob ich sie für voll nehmen kann oder nicht, geht es mir prächtig.

Ah. Ah. Gut. Gut. Die Stimme der Aschgrauen klang wie durch eine Gasmaske gesprochen. Sie wollen zum Mozartturm.

Zum Turm von Mozart. Schulte nickte mechanisch mit dem Kopf.

Ich, flüsterte sie in eifrig-aufmerkendem Tonfall. Ich-ich musste nachdenken, wo der Turm liegt, wissen Sie? Stand neben mir. Konnte keinen Gedanken fassen, wie man so sagt.

Konnten Sie nicht?

Nein, ich konnte es nicht. Mit geöffneten Augen stand ich neben mir, als meine Augen fest zugenäht waren und ich mir einbildete und einzureden versuchte, es gäbe mich tatsächlich als Masse oder Stoff.

Wie bitte?

Im Ernst. Ich redete mir ein, ich existierte.

Tun Sie das nicht?

Ja und nein. Philosophisch nein, physikalisch wäre es eine Auslegungsfrage.

Welchen Effekt erzielt es, darüber nachzudenken?

Ich weiß nicht, ob ein Effekt erzielt werden muss. Unter Umständen erzeugt das Nachdenken Übersicht, Beschwerden und Übersicht. Im besten Falle. Vorhin zumindest begriff ich etwas über das Nichts: Das Nichts, nämlich, und alle in es eingedrungenen, ihm zugehörigen und aus ihm erwachsenen Summen bestehen in Gleichzeitigkeit und im Voneinander-Unablösbaren.

Was heißt das?

Die Aschgraue hob den Kopf, zog ihre Hutkrempe hoch und sah Schulte zum ersten Mal in die Augen. Ihre Augenfarbe war nicht erkennbar, aus den Augenhöhlen schien ein fahles Leuchten. Schulte trat einen Schritt zurück.

Was das heißt, muss jeder selbst herausfinden. Ich fand es einmal heraus, vor langer Zeit.

Was fanden Sie heraus?

Das weiß ich nicht mehr.

Sie wissen es nicht mehr.

Ich weiß es nicht mehr. Ich habe es vergessen. Daraus wurde das Ende meiner Fragen. Gleichwohl entstanden neue Unklarheiten, Vermutungen und erzeugten eine Wissensabhängigkeit, die es zu regeln galt. Ich sah etwas und musste gleich wissen, wie lange es das schon gibt, wer es gemacht hat und was es bedeutet. Oder bedeuten mag. Mit dem Mozartturm ist's auch so. Er hat einen besonderen Namen und eine düst're Geschichte.

Die Nazis, schoss es aus Schulte heraus. Seine Hautfarbe hatte an gesunder Röte eingebüßt.

Ist Ihnen nicht gut? Auf Ihrer Stirn steht Schweiß. Und wenn Sie sprechen, klingt's, als bildete Ihr Körper gar keinen Speichel mehr.

Nein. Mir geht es gut. Mir ist bloß übel, eine... vorübergehende Magenverstimmung. Wenn man so will. Hö-hö.

Die Aschgraue schaute Schulte verständnisvoll an. Ich hätte Ihnen gerne etwas zu trinken angeboten. Bei uns in der Kantine steht ein Getränkeautomat. Wir hätten uns an einen Tisch im gekühlten Bereich der Mitarbeiterkantine setzen können. Dort wäre Ihre Magenverstimmung im Laufe einer Unterhaltung gewiss verschwunden. Aber der Sicherheitsdienst aktiviert pünktlich um vier Uhr die Alarmanlage und untersagt jedem Mitarbeiter ab 15:45 Uhr den Aufenthalt im Gebäude.

Es ist schon in Ordnung.

Natürlich: Es ist in Ordnung. Genau wie dieser Turm. Er ist auch in Ordnung. Manfred Freiherr von Richthofen hat ihn 1936 als Luftschutzbunker erbauen lassen. Darum heißt er –
Richthoff-Bunker, schnitt Schulte ihr das Wort ab.

Die Aschgraue lächelte. Lang ist's her. Lange wie gestern. Die Aschgraue seufzte und richtete die Krempe ihres Huts, verbarg die Augen, dass Wangen, Mundpartie und Kinn sichtbar wurden. Zum Mozartturm müssen Sie bloß am Ende der Straße links abbiegen. Von hier aus kann man ihn aber nicht ausmachen, wegen der Krümmung im Boden. Die Straße ändert sodann ihren Verlauf, wenn Sie in diese Richtung gehen.

Danke, antwortete Schulte. Es war... ungewöhnlich, Ihnen begegnet zu sein.

Sie danken mir ja, rief die Aschgraue verblüfft. Dabei bin es nur ich: Ich kann nur sein, wer ich niemals war und ich war stets, wer ich hätte sein können. Das ist so trivial und gewöhnlich, nicht? Einfach nur... Leben, murmelte die Aschgraue, dass es wie Spott klang. Und sie kicherte, ohne dass ihre Wangen oder Lippen sich bewegten.
 



 
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