Begradigte Romantik

Marcus Soike

Mitglied
Jetzt stehe ich hier wieder, am geradlinigen Bach meiner geradlinigen Kindheit, und das Bild ist schief... Ein Bild des Jammers. Chaos.

Natürlich ist meine Kindheit von Traumen, Erschütterungen, Schmerzüberflutungen geprägt - wie gut, dass der Bach damals so begradigt war. Das "sichere Ufer" brauchte er nicht - er war das selbst.

Der Bach meiner Norm-Kindheit: im normierten Betonbett normiert im Normgefälle dahinfließend, die Normverdunstung berücksichtigend - um ein effizientes Industrieklo abzugeben.

Ich weiß noch, wie ich im nach Ammoniak duftenden, blubbernden Schaum meine erste Flaschenpost gefunden habe. Die Botschaft - stand sie auf dem sich auflösenden Etikett? Hatte sie sich im Flaschenbauch voll Säure zersetzt? War sie das Sprachrohr für die tote Ratte, die unweit im Schaum trieb?

War sie selbst die Botschaft?

Ich sehe mich dort als Kind in dem herrlichen Brackwasser stehen. Ein Schmetterling flog vorbei - auch noch ein seltenes Exemplar. Störte meine romantischen Gefühle. Musste mich wieder ganz auf den Geruch von Knochenmühle konzentrieren, um die Idylle wieder herzustellen. Auch auf die wildromantischen Müllablagerungen, auf grau-grünen Schneematsch (im Sommer? Auch gut.), eine zauberhaft vorbeischwimmende, aufgedunsene Zigarettenkippe. Dieses Kindheitsparadies! Am Ufer der immergrünen Brühe angerostete Bierdosen, Autoreifen, die eigene Pfützchen bargen, Farbdosen, Glasscherben wie im schönsten Barfußpark, das herrliche, entzündungshemmende Wasser, durch die Plastiktüten ein Hauch von Mittelmeer. Aber was brauchten wir das Mittelmeer, was brauchten wir die Müllberge am Mount Everest, die Heroinspritzen am Strand der Copacabana, das Reizklima von Tschernobyl, wenn wir hier unser Paradies hatten?

Diese disziplinierte, nüchterne, systematisierte, rationale, zweckmäßige Natur! Keine Überforderung der Sinne, Wirtschaftlichkeit von Kinderspielen, normierter Spaß, der sich immer für seine Ausgelassenheit rechtfertigen muss. Ich gerate ins Schwelgen, mir kommt die Utopie vom Amazonas im Röhrensystem, vom Mittelmeer als größtem Schaumbad der Welt, mit Algenextrakt, vom Nordpol aus gefrorenem Brack-Chemie-Wasser, damit auch künftige Generationen was für den Swimmingpool haben, von der Verbindung des Reaktors in Tschernobyl mit dem Schwarzen Meer.

Und jetzt stehe ich hier, rausgespült aus dem Bachbett meiner Kindheit! Renaturiert, Kurven und Inselchen und kleine Wasserfälle bildend, lädt der Bach heutzutage zur Freigeistigkeit ein. Tückischer Sumpf der Freiheit! Hoffnungsgrün ist das Ufer - ohne Beimischung von Brackwassergrau, Atomkraft-Neon und Verwesungsviolett. Wahrscheinlich ist das Wasser sogar trinkbar. Pfui! Und oh ja, ein Insekten-Paradies ist es hier geworden, aber es schwirren weder Kakerlaken noch Wanzen, noch Motten, noch Blindfliegen, noch Zecken herum - statt Ungeziefer nunmehr nützliches Geziefer. Nützlichkeit als ökologischer Selbstzweck. Hoffentlich sind wenigstens ein paar Mörderbienen dabei.

Am Ufer des tapferen Baches meiner Kindheit dann auch Totholz, das als Insektenhotel perverserweise voller Leben ist - ich will meine ersoffene Ratte zurück, die von Schmeißfliegen angefressen wird!

Tröstlich: Ich entdecke an diesem grünen Styx Zigarettenkippen, Bierdosen und Hundekot, befürchte aber, dass Schüler, Studenten, Biologen und Ehrenamtliche auch diesen Rest von Idylle beseitigen werden.

Natur als Selbstzweck - Unsere wehrhafte Technokratie ist in Gefahr. Ich wünsche mir strömende Fäkalien zurück. Ich hab den Kanal voll.
 



 
Oben Unten