Beichte eines Attentäters

Teil 1: Der Henker

Priester, Sie können es natürlich nicht wissen, aber Ihr Schweigen, das verletzt mich doch sehr. Sie haben jetzt seit exakt drei Minuten nicht mehr gesprochen und ich muss Sie fragen: liegt es an dieser Zahl? Kann Sie eine einzige Zahl, so sehr aus dem Konzept bringen? Wenn ja, dann nur, weil Sie das Ganze zu engstirnig sehen. Sie stehen zu nah dran und sollten daher einen Schritt zurückgehen, um das große Ganze sehen zu können. Und sehen Sie erst einmal das große Ganze, das heißt, die Gesamtbevölkerung der Menschheit, dann können Sie nochmal über die 199 von mir ermordeten nachdenken. Ich meine, 199 Menschen auf dem Gewissen zu haben, ist wie ein Glas voll Meerwasser zu stehlen: Es sollte doch niemanden auffallen!

Glauben Sie mir, diese Tatsache, dass ich 199 Menschen auf dem Gewissen habe, tue ich keineswegs als Banalität ab, schließlich geht es hier um Menschenleben. Aber, und wir müssen hier dieses „aber“ großschreiben, sollte doch erwähnt sein, dass es keine unschuldigen Menschen waren. Überhaupt stellt sich mir die Frage, ob die Unschuld nicht nur in Romanen existiert, das heißt, sie ist nichts weiter als ein rein fiktiver Begriff.
So sagen Sie doch etwas. Aber wenn Sie schon nichts sagen, da bitte ich Sie zumindest darum mir zuzuhören, Priester. Und sollten Sie sich doch dazu entscheiden zu reden, wählen Sie ihre Worte bitte mit Bedacht. So manch einen haben die richtigen Worte vor einer Kugel bewahrt und dieser Satz geht in beide Richtungen, wenn Sie verstehen, was ich Ihnen damit sagen will: Die richtigen Worte können Menschenleben retten und meiner Ansicht nach, ist jedes Leben wertvoll.

Hmm immer noch kein Wort von Ihnen. Nun dann, wenn Sie mit dem Zuhören genauso gut sind wie im Schweigen, kann ich mich glücklich schätzen. An Ihre Verpflichtung, einem Mann bei seiner Beichte Gehör zu schenken, muss ich Sie nicht erinnern, denn das hier soll nicht nur irgendeine Beichte werden, sondern meine Erste und Letzte. Und vielleicht, wenn Sie mir aufmerksam zuhören, werden Sie erkennen, dass, auch wenn ich 199 Menschen auf dem Gewissen habe, ich doch kein so schlechter Mensch bin. Natürlich, so habe ich meine Fehler, ja, wer nicht, aber ich hatte schon immer nur das Höchste im Sinn. Alles hat sozusagen seine Gründe und wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen sogar über meine Zeit als Papst, dadurch werden Sie … warum schnaufen Sie so plötzlich? Glauben Sie, dass ich Sie auf den Arm nehme? Sechs Monate habe ich das höchste Amt bekleidet. Da hatte ich Mexiko besucht. Aber wozu vorgreifen, lassen Sie uns eins nach dem anderen abbauen.

Priester, je mehr man tötet, umso mehr Leben rettet man. Eine schlechte Tat macht einen nicht gleich zu einem schlechten Menschen. Glauben Sie mir, denn ich bin 199 schlechten Menschen begegnet. Meine These beruht also auf Tatsachen. Und verstehen Sie eines, meinen Beruf übe ich genauso so aus wie der Bäcker seine Brötchen backt, der Lehrer seine Schüler unterrichtet oder der Taxifahrer, der sein Taxi fährt: emsig und ohne schlechtes Gewissen. Aber irgendwann nimmt alles mal sein Ende und stets, wenn es auf das Ende zugeht, machen sich die Menschen Gedanken. Uns ist danach ein Fazit zu ziehen: War ich den ein guter Auftragskiller? Habe ich den auch mein volles Potenzial ausgeschöpft? Hätten es statt 199 nicht 299 sein sollen? Und so weiter und so fort.

Seit letzter Woche schmerzt mir das Herz, Priester. Die Bruderschaft hat mir meinen letzten Auftrag erteilt. Nach 25 Jahren und nach 199 Tilgungen, soll ich mit der Arbeit aufhören, die mich mein ganzes Leben lang begleitet hat. Wer werde ich nach Nummer 200 sein? 25 Jahre lang war ich ein Auftragskiller und jetzt, bin ich niemand mehr? Da kommt man schon ins Grübeln, oder? Und das letzte Mal, dass ich so viel über meine Arbeit nachgedacht hatte, war in Mexiko … unter der stechenden Sonne Mexikos … und wie das endete, das wissen Sie schon.

Ich weiß Priester, auch wenn es Ihnen anscheinend die Sprache verschlagen hat, muss es ihnen doch in den Fingern brennen, oder? Sie wollen wissen, was für Menschen von mir besucht werden, richtig? Sie wollen wissen, wie ich es nur so lange aushalten konnte? Was mich dazu motiviert hat und so weiter und so fort. Keine Sorge, heute werde ich alles erzählen. Offenlegen. Es ist immerhin meine Beichte.
Die Bruderschaft, für die ich arbeite, handelt nach einem strengen Kodex, ähnlich wie Sie und ihre Freunde. Wir haben etwas, woran wir glauben. Wir arbeiten nicht bloß des Geldes wegen, obwohl ich gestehen muss, dass dieser Job miserabel bezahlt. Aber ich will mich nicht beklagen. Selbst bin ich nur durch meinen Vater in diese Arbeit geraten, und er durch seinen, also so ganz habe ich es mir nicht ausgesucht. Aber erst einmal drin habe ich es hingenommen und mich auf die Arbeit konzentriert.

Sehen Sie Priester, sind Sie einmal Teil dieser Welt, so würden auch Sie das große Ganze mit besonnener Klarheit erkennen. Sie würden alles Philosophische zur Seite legen und sehen, dass die Welt sich ganz einfach in Schwarz und Weiß aufteilen lässt. Gut und Böse. Richtig und falsch. Durch diese Arbeit erlangt man eine Form von Klarheit, die nirgendwo anders sonst zu finden ist. Aber warum erklären, lassen sich mich ihnen von meinem ersten Auftrag erzählen. Dieser beinhaltet sozusagen die Quintessenz und wird Ihnen zum Beweis dienen, dass ich mich im vollkommen moralisch richtigem Lager befinde.
Ich glaube, ich war damals 27 oder vielleicht 28 – wie auch immer – über drei Monate habe ich damit verbracht, meine Zielpersonen ausfindig zu machen. Es waren vier, sehr hoch angesehene Männer, unter deren Leitung und Aufsicht ein Pädophilenring geführt wurde. Wissen Sie Priester, welche Menschen über das Gesetz stehen? – es sind die, die sich mit dem Gesetz bestens auskennen. Ein Richter, ein Anwalt und zwei Polizisten. Diese vier hatten eine gewisse Vorliebe für minderjährige Asiaten. Bitte, malen Sie es sich nicht aus. Ein verstörendes Bild. Trotzdem, lassen Sie uns hier eins klarstellen: In so einem Fall, kann keiner zur Polizei gehen. Solche Menschen kommen mit ihrem Verbrechen durch, ganz gleich, was Sie oder sonst wer anstellt. Diese Männer waren schlichtweg zu klug, gerade deshalb hatte dieser Ring seit über 20 Jahren bestand. Keine Behörde der Welt hätte diesen Ring zerschlagen können. Diese Männer hatten zu allem Zugang und hätten Ermittlungen gegen sich zunichtegemacht, bevor diese überhaupt begonnen hätten. Geldreserven, falsche Pässe, Stimmenverzehrer, es wäre unmöglich gewesen, diese Männer und diesen Ring zu zerschlagen.
Was würden Sie tun, wenn Sie von so einer Sache erfahren würden, lieber Priester. Das „Richtige“ nehme ich an. Aber was ist dieses „Richtige“ überhaupt? Ich habe schon viele Menschen davon reden hören, ganz gerne wird es von denen genutzt, die an der Macht sind. Zu meinem Unglück musste ich mitansehen, wie am einen Tag das falsche Mal das „Richtige“ genannt wurde und am anderen Tag, hatte sich dann alles auf den Kopf gestellt. Das sogenannte Richtige, Gerechtigkeit und demokratisch, all das sind Hülsenwörter, an die sich keiner ran wagt, sie zu öffnen. Aber würde sicher einer aufmachen sie zu öffnen, würde er nichts als heiße Luft wiederfinden. Ja, entschuldigen Sie den Ausdruck, aber diese Worte sind Huren, die bei der passenden Gelegenheit, mal für den einen, dann für den anderen die Beine breit machen. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will? Von Bedeutung ist nicht die Tat, sondern bloß das Ergebnis.

Nun, um bei der Sache zu bleiben. Sollten Sie von so einer Sache erfahren, können Sie gerne die Polizei kontaktieren, Sie können sogar Gebete aussprechen, aber wollen Sie wirklich etwas bewirken wollen, dann kontaktieren Sie einen Menschen wie mich. Einer wie ich, erkundigt dann sorgfältig die Lage und sobald die Weizen von der Spreu getrennt ist, schreitet, einer wie ich, zur Tat.
Wie es mit den vier Männern endete, werde ich nicht erwähnen müssen, oder? Das Blut, die Gehirnmasse, die auf dem Boden, an den Wänden und auch auf der Decke zu finden war; die Ohren betörenden Schreie, die Unschuld-Bekundungen und der Geruch vollgeschiessener Hosen, all das lasse ich aus, aber ich sage Ihnen, seit meinem Besuch, ist der Ring nur noch ein Mythos, von dem man sich vieles erzählen kann, aber niemals mehr auffindet. Denn Schlagen ohne Köpfe leben nicht lange.

Jetzt sitzen wir hier, Priester. Ich, offenherzig und aufrichtig, wie ich bin, schüttle Ihnen meine Seele aus und Sie, schweigsam und regungslos, sitzen dort wie eine Statue. So lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Eine Frage, die ich sonst nie so stellen könnte. Priester, denken Sie, dass ich jemals für mein Tun ein Dank zu hören bekommen habe? Oder irgendetwas, dass mir zeigt, dass das was ich tue, anerkannt wird? Nein, nichts als fragwürdige Blicke haben die Menschen für mich übrig, sobald Sie hören, wie viele Menschen ich auf dem Gewissen habe. Aber denkt man doch etwas darüber nach, müsste man doch das offensichtliche erkennen. Wer tötet, der rettet! Und jeder der mich sieht, müsste auf Knien zu mir gehen und sich bei mir bedanken. Dafür, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Leben gerettet habe. Und … und … nicht das ich jemals mir darüber Gedanken gemacht habe, aber ich habe mindestens 100.000 Menschen das Leben gerettet. Und wenn die Bruderschaft mich weiter arbeiten lassen würde, würde ich viel mehr Menschen das Leben nehmen und noch viel mehr Menschen das Leben retten.
 



 
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