Beim Seppl in der Nacht

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I.

Seine Zähne rammten sich in das feste Fleisch, spürten den Widerstand, hielten noch ein wenig inne, bevor er die Augen schloss und mit aller Gewalt zubiss. Oh Gott, was für ein Genuss! Wie lange war es her, dass er das letzte Steak gegessen hatte? Es mussten Jahrzehnte sein; er konnte sich kaum noch daran erinnern.
Jetzt erst begann er zu spüren, was er vermisst hatte. Seine Mutter beugte sich wieder über ihn, zwischen ihrem wogenden Busen blickte er gierig auf die dampfende Schüssel Kartoffeln, roch die schwere, dunkle Sauce und sah das rote, matt glänzende Fleisch auf dem Tisch. Doch schon war die Erinnerung verflogen, vorbei geschwebt wie ein Zeppelin in dunkler Nacht. Seine Mutter war längst gestorben, seine ganze Familie ausgelöscht worden an jenem Tag, als sie kamen.

Die Kronen-Zeitung hatte damals aufgeregt von „Ufos“ gesprochen, die die Bauern von Saalbach-Hinterglemm noch aus kilometerweiter Entfernung gesehen haben wollten. Wissenschaftler wurden zu Rate gezogen, und schließlich einigte man sich darauf, dass dieses seltsame Wetterleuchten Gestein gewesen sein muss, aus dem All, das in der Atmosphäre verbrannte und auf irgend einem Acker aufschlug.
So falsch war das gar nicht. Aber eben auch nicht ganz richtig. Das „Gestein“ bestand aus einer Masse, die bei jeder Berührung durch organisches Material erstarrte und sofort eine eisige Kälte verbreitete. Von den etwa zweihundert Stücken, die die Erde berührten, kamen etwa 199 sofort mit organischem Material – Pflanzen, Tierchen, Menschenköpfen – in Kontakt und vereisten für immer. Nur ein silbrig schimmerndes, vielleicht 2 Gramm schweres Teilchen, nicht sehr groß, landete auf einem richtigen, einem Erdenstein, auf dem kein Leben sich regte. Dort lag es dann zwei windstille Tage lang, bis es sich zu öffnen begann.


II.

Er hatte das alles nicht gesehen, sie haben es ihm später erzählt. Nach der Öffnung war alles anders. In jenen zwei Tagen konnten sie sich der Atmosphäre auf der Erde anpassen. In den folgenden zwei Tagen nahmen sie Gestalt an, die Gestalt der Wesen, die die Erde beherrschten. Alles Wissen speist sich aus Erfahrung, und so verwandelten sie sich zunächst in Hähne. Diese keifenden, eitlen Wesen mit dem arroganten Kopfnicken waren das Mächtigste, was sie bisher hier gesehen hatten. Vierundzwanzig stolze Hähne aus dem All waren es, als er sie sah. Er war verwundert damals, denn seine Familie hielt gar nicht so viel Gefieder. In zwei Reihen stolzierten sie umher, seiner gar nicht achtend, und gingen schnurstracks in Richtung Herrenhaus, respektive Hühnerstall.
Sein Vater war gerade dort, sammelte Eier für das abendliche Omelette ein, summte leise eine Melodie vor sich hin, als sie sich hinter ihm aufstellten. „Wir wollen deine Kleidung, deine Sonnenbrille und dein Motorrad“, brüllten sie wie aus einem Schnabel. Sein Vater fuhr erschrocken zurück. „Kikerikiiii“, hatte er gehört, freilich in tosender Lautstärke. „Wos is denn....“, jappste er und hielt sich die Hand vor den Mund. „Jo, seids ihr....“ – er wusste nichts mehr zu sagen und starrte die Hähnebatterie fassungslos an. „Kikerikiiii“, schrieen sie nochmals, nun ganz offensichtlich erbost.
Sein Vater gewann langsam die Fassung zurück und fing an lauthals zu lachen. „Euch werd i’s zei'n“, rief er vergnügt und sah die Hähnchen schon im Backofen brutzeln. Schnell war sein Messer gezückt, ein Schritt auf die geflügelte Armee getan und dem ersten Hähnchen der Kopf abgetrennt.

Es wurde ganz still. Der zerfetzte Hals, das rot blutende Loch schien auf einmal alles, jedes Geräusch, jeden Windschlag, die gesamte Atmosphäre aufzusaugen. Die ganze Welt war auf einmal ein Chaos, ein schweigender Sturm. Sein Vater begriff, dass er es nicht mit normalen Hähnen zu tun hatte. Der unheimliche Sog des Hahnenhalses zog ihn unwiderstehlich zu dem Tier hin. Er versuchte sich festzuhalten, zu wehren, doch er hatte nie eine Chance. Er brüllte sich die Seele aus dem Leib, doch nichts, niemand hörte ihn, sein Schreien war tonlos, alles wurde aufgesogen von dieser unheimlichen Macht.

Ein leises „Flupp“ war das erste Geräusch, das man wieder hörte. Mit diesem „Flupp“ wurde sein Vater, vor 83 Jahren, in den Hals des Hahnes hineingesogen. Zwei Minuten später gab es noch ein „Flupp“, und der kopflose Hahn gebar ein Ei.
Ein Ei mit der Frisur seines Vaters.

III.

Nachdem sie nun gemerkt hatten, dass es mächtigere Wesen gab als die Hähne, verwandelten sie sich blitzartig in getreue Abbilder seines Vaters und gingen hinüber zum wahren Herrenhaus, nämlich der kleinen Hütte, in der seine Mutter und seine Schwestern, Lisl und Gerda, wohnten. Um es kurz zu machen: Sie hatten Respekt bekommen vor den Menschen, die so sorglos mit einem Messer auf andere Wesen losgingen. Seine Mutter, Lisl und Gerda wurden daher ohne weitere Worte eliminiert, damals, an jenem Tag vor 83 Jahren. Die drei hatten kaum noch Zeit, verwundert zu sein darüber, dass auf einmal 24 Väter das Haus stürmten, davon einer ohne Kopf – ihr Ende war besiegelt.

Nein, so erzählten sie ihm später, auf diesem Planeten wollten sie nicht bleiben. Er machte ihnen Angst, dieser Planet, sie hatten nicht im Sinne zu töten, um nicht selbst getötet zu werden. Deshalb hielten sie in dem kleinen Haus seiner Familie eine kurze Konferenz und beschlossen, umgehend abzureisen und diesen Planeten in ihrem Bericht mit keinem Wort zu erwähnen.

Doch es kam anders.
Ihr silbernes Raumgefährt hatte sich inzwischen auf die Größe ausgedehnt, die 24 Menschen fassen konnte. Er war, wie ein neugieriges Kind nun einmal ist, hinein gegangen und hatte voller Erstaunen an den seltsamen Wänden getastet, an dieser Oberfläche, die wie keine zweite war. „Was für eine wunderschöne Höhle“, dachte er sich, „hier möchte ich die Ferien verbringen!“, und verkroch sich in eine kleine Ecke, blinzelte in die Sonne und war schon eingeschlafen.

In ihrer Aufregung hatten sie ihn gar nicht bemerkt, als sie kamen, um auf Nimmerwiedersehen abzureisen. Und so flog er mit, in ihre Welt, die Welt der Kokodrondren.

Um es kurz zu machen: 83 Jahre lang lebte er unter ihnen, wurde erst fest gehalten und voller Angst beäugt, dann aber, nachdem sie sahen, dass er ein harmloser Junge war, in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Extra für ihn schufen sie einen abgegrenzten Park. Sie kannten vorher gar keine Grenzen, aber dieser Mensch war doch etwas so Seltsames und Sehenswertes, dass sie ihn niemandem vorenthalten wollten. Hinter Gittern fristete er nun sein Dasein.
Er wurde von ihnen in der Kunst des Huizidu unterwiesen, lernte zu kochen wie Mutternikazi und zu leben wie ein Kokodron eben lebte.

Nach 80 Jahren verliebte sich eine bezaubernde Kokodra in ihn, ein quecksilbrig schimmerndes Steinchen, das ihn täglich besuchte und immer ein wenig heller strahlte. Er überredete sie, mit ihm auf die Erde zu fliehen, und sie – ich mache es wirklich kurz – setzte alles daran, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, spann Intrigen, log und betrog, täuschte und drohte, um ihr Ziel zu erreichen.

Auf der Erde angekommen, legte er sie behutsam in eine goldene Schatulle, nicht ohne sie vorher sanft auf ihre Dranuille zu küssen. „Ich liebe dich, mein Engel“, flüsterte er ihr zu und steckte sie in die Tasche.
Nun musste er aber erstmal ein Steak essen gehen.

IV.

Jetzt saß er also hier und genoss das zarte Fleisch. Es war schon zwei Uhr durch, und dass Seppl, der somnambule Wirt, ihm überhaupt noch ein Steak bereitet hatte, grenzte an ein Wunder und war nur durch Seppls überwältigende Weichherzigkeit im Angesicht eines hungrigen Gastes zu erklären.
Seppls verklärter Blick hing zwischen dem grauen Spülwasser und der abgegriffenen Armatur der Zapfanlage. „Zwei Uhr, zwei Gäste“, dachte er und verfiel in einen leisen Singsang, indem er immer wiederholte „Zwei Uhr, zwei Gäste... zwei Uhr, zwei Gäste...“, während er sich seinen mächtigen Bart strich. Tatsächlich war außer unserem Heimkehrer noch ein Gast da, stark angetrunken schon, voller grauer Haare, die ihm wie Stahlwolle auch aus den Ohren wuchsen. Es war dieser zweite Gast Karl Brotzky, Schmierenjournalist von der Kronen-Zeitung, ein Mann, dem die Erfolglosigkeit aus den blutunterlaufenen Augen troff. Brotzky betrank sich hier jeden Abend, und er blieb immer bis zum Ende, denn aus Saalbach-Hinterglemm gab es beinah nie etwas zu berichten, und das stimmte ihn trüb, den kleinen Schmierfinken.
Er hielt sich mit erlogenen Geschichten über Liebeleien und Kriminelles aus dem Ort über Wasser, und ansonsten unter Wodka und Slibowitz.

Während Brotzky also trunken in sein Glas döste, rief unser Gastkokondro Seppl zu sich. „Mein Lieber“, hub er an, „ich habe eine unglaubliche Geschichte zu erzählen, und ich weiß nicht, wem. Sein Sie so gut, mir ein Stündchen Ihr Ohr zu leihen?“
Seppl fügte sich in dieses Schicksal, das ihm als Wirt nur zu bekannt war. „Erzählen S‘“, sagte er und schaute den anderen mit jenem Blick an, der tiefe Aufmerksamkeit bedeutet, jedoch nur ein schwarzer, leerer Tunnel ist.

Und nun begann er zu erzählen, die ganze lange Geschichte, von seiner Kindheit, seiner Familie, jenem erstaunlichen Tag und seinem Schicksal im All. Seppl hörte zunächst aufmerksam weg, doch dann begann ihn diese Geschichte zu interessieren. Gebannt hörte er zu, vier Stunden vergingen wie im Fluge.
Alle hatten mittlerweile viel getrunken, und als unser Held endete, sah Seppl ihn mit seinen dunklen Augen an und sagte: „Und aus welchem Irrenhaus bist‘ ausgebrochen, du spinnerter G’schichtenverzähler? Erzählen kannst‘ gut, schad um Leut‘ wie dich!“

Tiefe Trauer legte sich auf das Gesicht des Raumfahrers. „Es ist alles wahr“, sagte er nur und blickte Seppl gekränkt an. „Schaumschläger, mach dass di packst!“, rief Seppl nun, erregt darüber, dass ihm da einer kostbare Zeit mit seinem Gewäsch gestohlen hatte. In seinem Zorn beugte sich Seppl ein wenig vor, das Gesicht war rot angelaufen. Was sich der feine Herr wohl vorstelle, hier herein zu kommen und ihm solche Märchen aufzutischen? Er überlege ernsthaft, die Wachtmeisterei anzurufen, und den Staatsanwalt, tönte Seppl. Es stieß dem Wirt sauer auf, dass er das unbestimmte Gefühl hatte, zum Narren gehalten worden zu sein, dass aber der andere scheinbar seelenruhig und voller Überzeugung diesen Unsinn von sich gab.
Seppls Gesicht war nun ganz nahe am Gesicht unseres Helden, und dieser hob zur Abwehr erschreckt die Hand hoch, um wieder etwas Distanz herzustellen. In der hektischen Bewegung verfing sich die Hand in Seppls wucherndem Bart, und wer österreichisches Haargeflecht kennt, der weiß, dass es da nur schwer ein Herauskommen gibt. Generationen von Nudelgerichten können ein Lied davon singen.

Unser Held also zerrte an Seppls Bart, um sich zu befreien, Seppl schrie „Jo, lasst mi jetzt los, du Schuschn, des gibt’s fei net!“ und ein kleiner, sinnloser Kampf entspann sich, dessen Lautstärke die Aufmerksamkeit Karl Brotzkys weckte. Mit stierem Blick verfolgte Brotzky die absurde Szene, den schreienden Seppl, den seltsamen Fremden, dessen Hand ja tatsächlich in Seppls Mund sich verfangen zu haben schien, ein Hin und Her von Kopf und Hand, noch mehr Geschrei....

...und Brotzkys Journaillengehirn arbeitete sofort auf Hochtouren. „Mensch, daraus kann man doch...“, dachte er bei sich und warf schnell ein paar Worte auf einen Bierdeckel. „Mit einem klein bisschen Phantasie wird da noch ne richtige Story draus, was wirklich Smashiges, was man hier nicht jeden Tag hört!“ So dachte Brotzky.
Als der Journalist am nächsten Morgen mit einem Kater aufwachte, den man getrost als den König der Löwen bezeichnen kann, erhob er sich ächzend, um ein erstes Konterbier zu trinken. Dabei fiel ihm ein halb durchnässter Bierdeckel von der Brust.

„Seppl beißt Gast Finger ab“, stand dort in ungelenken Buchstaben. Sofort kamen die Ereignisse der vergangenen Nacht ihm wieder zu Bewusstsein. Beflügelt von der unglaublichen Story vergaß Brotzky sein Bier und setzte sich umgehend vor die Schreibmaschine.

Mit fiebrigem Blick und zitternden Händen begann er zu tippen:

„In dem österreichischen Skiort Saalbach-Hinterglemm hat ein Restaurantfachmann einem Gast nach einem Streit den Finger abgebissen.
Wie die zuständige Polizei bekannt gab, kamen sich die beiden gegen sechs Uhr morgens in die Wolle. Bei der Staatsanwaltschaft Salzburg wurde Anzeige erstattet...“
 



 
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