Beinahe in den Tod gesprungen

Wir standen an der Talstation. Mein Freund wollte nicht mit hinauffahren. Mich reizte der Blick auf die hohen Grenzberge sehr, nur von da oben würde ich sie sehen können. Es war gerade Flaute im Liftbetrieb. Die Sessel schaukelten einer nach dem anderen leer aus der offenen Halle hinaus und glitten in geringer Höhe über die Grashänge bergwärts, vom Seil zuverlässig gezogen. Sie wirkten auf mich wie Loren, die kurz vorher ihre Last ausgekippt haben.

"Du kannst ja am See warten. Ich bin in zwei Stunden wieder hier."

Schon saß ich in einem dieser primitiven, vorne offenen Henkelkörbe. Die Aufsicht - ein dicker, mürrischer Mann - hatte etwas an meiner Position auszusetzen: "Mehr in die Mitte!" Obwohl ich mich dort generell unwohl fühle, gehorchte ich sofort und verlagerte meinen Schwerpunkt. Dann ein Ruck der Beschleunigung - und ich segelte auch schon über die Wiesen bergan. Wir, der Sessel und ich, gewannen rasch an Höhe, schneller als mir lieb war.

Ja, es stimmt, ich bin nicht schwindelfrei. Doch ist dieser Schwindel selbst nicht sehr zuverlässig. Er ist abhängig von den Gegebenheiten. Ich kann im Gebirge über schmale Grate gehen, ohne Schwindel zu verspüren. Rechts und links geht es je tausend Meter in die Tiefe. Ich vermeide den Blick seitwärts, sicher setze ich einen Fuß vor den anderen und komme heil drüben an. Es liegt bei mir, ich habe es - nein, nicht in der Hand, in den Füßen. Ist die Kabine einer Seilbahn rundum abgeschlossen, schaue ich furchtlos in die Tiefe. Der Blick von einem hohen Turm, aus dem Fenster einer hoch gelegenen Hochhauswohnung, das macht mir nichts aus, wenn nur eine Glasscheibe zwischen mir und dem Raum unter mir ist.

Aber wehe, ich kann den Kopf über die Brüstung des Turms vorstrecken, wehe, das Fenster im neunzehnten Stock steht offen. Dann spüre ich, wie es in den Füßen zu kribbeln beginnt. Ich höre den Lockruf der Tiefe: Spring doch, dann ist endlich Ruhe, alles vorbei. Etwas Außerordentliches wäre geschehen, einmal im Leben.

Meine Auffahrt oder Bergfahrt entwickelte sich zu einem Höllentrip. Und dabei geschah nichts, ich saß stocksteif da, vorsichtig angelehnt. Ich stellte mir nur dauernd vor zu springen. Wie lange dauert es, bis ich aufschlage? Welche Gedanken und Gefühle habe ich wohl vorher noch? Wer wird mich als Erster zerschmettert finden? Natürlich wird der Seilbahnbetrieb sofort unterbrochen. Ich dachte an den Freund, mit dem ich in zwei Stunden verabredet war. Man muss Verabredungen einhalten, schon deshalb springe ich nicht. Ich entwickelte Techniken, mich abzulenken und an etwas anderes zu denken. Die Wipfel der Fichten reichten manchmal bis fast zum Sessel herauf, das war sehr beruhigend. Aber dann wieder ein steiler Graben, eine tiefe Felsenrinne, scheußlich ... Schau doch in den Himmel, du Idiot! Und dieses Ruckeln, wenn wir über eine Stütze glitten, war beängstigend. Es erinnerte mich daran und ließ mich fühlen, wie rasch unser Lebensfaden abgerissen werden kann: Ritsch, ratsch - genauso!

Auf einmal kommt mir ein talwärts Schwebender entgegen. Er ruft mir zu: "Ihr Bügel! Er ist nicht zu!" Und er deutet mit den Händen die furchtbare Blöße um meinen Unterleib herum an. Tatsächlich - ich begreife es erst jetzt - eben deshalb wäre es so einfach für mich zu springen. Die Aufsicht hat versagt, nachlässig so etwas. Kein Wunder, dass so viel passiert. Ich versuche den Bügel während der Fahrt noch zu schließen. Es misslingt, es hakt irgendwo. Ich will lieber nicht weiter herumschaukeln und lasse es sein. Ich kann ja die Bergstation schon sehen, die letzten Stützen bis zu ihr zählen. drei, zwei, eins ... Schnell raus aus dem Korb und aus der Halle! Gerettet!

Der Blick auf die Grenzberge ließ mich dann eher kalt. Ich beschloss, zu Fuß zurückzukehren. Talwärts ist es fast unmöglich, den Blick in die Tiefe zu vermeiden. Und der See da unten würde allzu suggestiv wirken. Man müsste rückwärts sitzen dürfen ... Nein, ich gehe zu Fuß. Wenn ich die Verabredung einhalten will, muss ich sofort hinunter.

Es war ein schmaler, steiler, steiniger Pfad. Ich lief ihn rasch und ohne Zwischenfälle zu Tal. Daran bin ich gewöhnt. Unterwegs begegnete mir eine Gruppe von Italienern in leichten, eleganten Halbschuhen. Sie redeten viel und wortgewandt miteinander. Sie achteten kaum auf den Weg und torkelten ab und zu. Die Wahrscheinlichkeit eines baldigen Knöchelbruchs schätzte ich ziemlich hoch ein. Am Berg kann man auf viele Weisen zu Schaden kommen. Aber was für eine schöne, klangvolle Sprache, Italienisch vor Alpenkulisse. Was sagten sie da: CORTO VIAGGIO SENTIMENTALE? Das kannte ich doch ...
 

iphigenie

Mitglied
Hallo Arno,

sehr schöne Idee, das Thema Höhenangst mal im Rahmen einer Kurzgeschichte psychologisch auszuloten.

Allerdings fehlt mir hier der Hinweis für den Leser, was den Protagonisten antreibt. Warum setzt er sich diesem "Höllentrip" aus? Das ist ja die zentrale Frage. Somit existiert ja auch kein Höhepunkt und keine Antwort. Auch der Konflikt, den du sehr schön detailliert zeigst, bleibt dadurch, ja fast leblos, flach.
Da kann der Leser nur raten (viell. will er seinem Freund etwas beweisen, oder sich selbst?) und bleibt unzufrieden zurück.

Noch ein paar Details vor diesem Hintergrund:
"Obwohl ich mich dort generell unwohl fühle"- warum ist das so?

"Etwas Außerordentliches wäre geschehen, einmal im Leben." - Aha, hier ein vager Hinweis auf die Motivation für die ganze Aktion - hier würde ich auf jeden Fall mehr draus machen.

"Ich stellte mir nur dauernd vor zu springen" - warum?

Ich hoffe, ich konnte dir ein paar nützliche Tips geben. Falls du an der Geschichte noch einmal arbeitest, würde ich sie sehr gerne noch einmal lesen. Dadurch lerne auch ich etwas...;-)

Liebe Grüße

iphigenie
 
Danke, iphigenie, für die Anregungen zum Nachdenken.

Die Motivation für diese Seilbahnfahrt findet man in Absatz 1, Satz 3. Eine andere gab es nicht.

Klar, man kann aus fast allem mehr machen - sollte man auch? Der Text ist durchgehend autobiographisch und das soll er auch bleiben. Literatur, die um eines angeblichen Lesevergnügens willen dazuerfindet und draufsattelt, will ich nicht produzieren. Ich schätze sie auch als Leser nicht. Es fehlt ihr meist an der inneren Wahrheit und Stimmigkeit. (Damit ist nichts gegen eine insgesamt geschickt erfundene Story gesagt.)

Zu den drei zitierten Stellen. Das mit der Mitte ist nur ein kleiner Scherz, der sich verflüchtigten würde, wenn ich ihn erst erklären müsste. Auch der Satz "Etwas Außerordentliches usw." ist nicht ganz ernst gemeint. Schon gar nicht kommt hier die vermisste Motivation zum Vorschein. Und zur Zwangsvorstellung des Springens: Dieses Gefühl kennen wohl viele. Es zu erklären, wäre Aufgabe eines Psychiaters, nicht dieses kurzen Textes. Er beschränkt sich bewusst auf die Darstellung des äußeren Ablaufs und der ihn begleitenden Gefühle. Es sollte nichts ausgewalzt, dafür umso mehr dem Nachdenken des Lesers überlassen werden.

Arno Abendschön
 

iphigenie

Mitglied
Beinahe...

Hallo Arno,

ach so, keine Kurzgeschichte im eigentlichen Sinne, dann sind natürlich meine Anmerkungen obsolet. Und ich stimme dir zu, zu autobiographischen Texten sollte keine Fiktion hinzu kommen.

Deine sehr lesenswerte autobiographische Miniatur solltest du dann viell. unter dem Prosa-Forum "Diary" posten, damit man den Text nicht unter falschen Vorzeichen liest, wie mir passiert. Damit tut man ihm ja gewaltsames Unrecht, wie du gesehen hast...;)

LG und frohes Schaffen weiterhin...

iphigenie
 



 
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