Benehmen

minitaurus

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Ein großer Redner war er nicht, mein Vater. Aber er hatte sich wählen lassen in den Vorstand eines Kulturvereins, und musste nun den Vortrag des damals schon recht bekannten Freiherrn von und zu Guttenberg ankündigen und brachte das auch mit Anstand über die Bühne. Auch nach der Rede, als die Diskussion schon geschlossen war, blieb er noch eine Weile an der Seite des großen Mannes, und ich an seiner Seite. Vor Publikum hätte ich mich nie getraut, dem hohen Herrn eine Frage zu stellen, aber jetzt, in dieser halbprivaten Situation, stach mich der Hafer. Ich fragte irgendetwas ziemlich dummes, meiner Erinnerung nach hatte es mit China und seiner übergroßen Bevölkerung zu tun gehabt , und erhielt eine, wenn auch knappe, aber immerhin, eine Antwort. Es war also nicht gerade der große Durchbruch, genau genommen irgendwie sogar geschummelt, aber zufrieden war ich doch mit mir und meinem Mut.

Am folgenden Montag morgen werde ich angehalten, auf der großen Treppe im Altbau des Gymnasiums; die große Pause ist gerade abgeläutet worden und ich lasse mich vom Haufen der Schüler nach oben zurück in die Klasse treiben. Zwei Stufen über mir hat sich im Stil eines düsteren Racheengels Oberstudienrat S. aufgebaut und donnert mich an: „Sie Stoffel.“ Er sah eigentlich immer wie ein Racheengel aus, und konnte das mit einem Kreisen seines steifen Beines noch unterstreichen, aber bisher musste ich mich nie persönlich davon betroffen fühlen.

Meint er tatsächlich mich? Soviel Aufmerksamkeit war ich eigentlich nicht gewöhnt, drehte also erst mal den Kopf nach hinten, ob da vielleicht noch jemand stand. Aber nein, er stach tatsächlich mit seinem Zeigefinger nach mir. Ich musste mir anhören, dass ich ein miserables Benehmen habe, und konnte mir nicht im Geringsten einen Reim darauf machen.

Des Rätsels Lösung: Oberstudienrat S musste den Vortrag des Freiherrn am Vorabend ebenfalls gehört haben, denn er schloss seine Attacke mit dem Satz:

„Wenn sie mit so jemandem sprechen, dann nehmen sie gefälligst die Hände aus den Taschen.“

Aber ohne diese Hand in der Tasche hätte ich den Mut niemals gefunden ...
 



 
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