Berber

Kyra

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Berber



Remigius wurde durch Kindergeschrei und lautes Hundegebell aus seinem trunkenen Schlaf geweckt. Murrend drehte er seinen Kopf und öffnete die Augen um die Störenfriede, die dem Geräuschpegel nach in unmittelbarer Nähe sein mussten, mit trübem Blick anzustarren. Sein Kopf lag auf einem abgetretenem Stück Gras neben zwei leeren Bierflaschen. Das erste was er sah, war Charlie, der versuchte einen kläffenden Collie zu bespringen. Charlie war Remigius Hund, ein zerzauster Pudel mit der Unbekümmertheit eines Straßenköters, der er ja schließlich inzwischen auch war. Remigius hatte ihn vor einem Jahr bei einem frühmorgendlichen Streifzug an einen Parkbaum angebunden gefunden. Eigentlich hatte er immer verkündet, wenn ein Berber einen Hund hätte könne er auch gleich heiraten und arbeiten gehen. Hunde waren was für die jungen Punks, die immer noch zu Mama gehen konnten, wenn es auf der Strasse zu kalt war. Im Frühling kamen sie aus ihren Löchern gekrochen um hingen mit ihren Hunde an den besten Ecken herum. Denen gab jeder was, die sahen noch nicht so kaputt aus. Die bekamen ein paar Ermahnungen zu hören und kassierten dafür fünf Mark. Begegnete Remigius einer Gruppe Punkern, spuckte er verächtlich aus. Wenn er selber die Leute um Geld anhaute, war es nicht schnorren, sondern betteln. Das war ein großer Unterschied. Bettlern gaben fast nur arme alte Menschen ein kleines Almosen, die das Gefühl hatten diesem Schicksal grade noch entronnen zu sein. Darum fluchte Remigius beim betteln immer leise vor sich hin. Jedenfalls hatte Remigius damals der zitternde kleine Hund leid getan. Er hatte ihn losgebunden, sich auf die nächste Parkbank gesetzt und seine beiden Wurstbrötchen mit ihm geteilt. Als er sich später wieder auf den Weg in die Innenstadt machte, versuchte er den Pudel zu verscheuchen, warf schließlich sogar einen Stock nach im. Aber der Hund folgte ihm beharrlich in einem kleinen Abstand. So war er dann bei ihm geblieben und teilte sein Leben auf der Strasse. Remigius musste zugeben, er hatte sich an das Tier gewöhnt. Er sprach mit ihm wenn er betrunken und alleine war, und eines davon war er fast immer.
Jetzt nach dem Erwachen und mit schwerem Kopf, hätte Remigius am liebsten eine der leeren Bierflaschen nach den Hunden geworfen. Er tat es aber nicht, die Kinder liefen schon weg, als er mühsam auf die Beine kam. Der Collie folgte ihnen und es war wieder ruhig in seiner Ecke des Parks. Er hatte diese Stelle ausgesucht weil hier selten jemand war, der schattige Rasen war ungepflegt, unter den Büschen lagen weggeworfene Dosen, Zeitungen und Präservative. Hier hatte er normalerweise selbst an schönen Sommertagen seine Ruhe. Nur kleine Sonnenflecken fanden sich auf dem Boden, die hohen Buchen waren sein Sonnenschirm. Ein idealer Platz um einen Rausch auszuschlafen. Remigius, von seinen Kollegen Remy Martin genannt, liebte den Sommer. Überall konnte er übernachten. Das Straßenpflaster war bis in die Nacht hinein warm, die sommerliche Stadt war für ihn wie eine warme Geliebte. Er hatte immer das Gefühl gehabt, die Stadt würde ihm viel mehr gehören als den Menschen mit Wohnungen und Häusern. Die kannten nur ihre Umgebung, nur ihre Wege zu bestimmten Zeiten. Aber er kann die ganze Stadt von Morgengauen bis in die stillste Nachtstunden, die hässlichen verpissten Ecken hinter dem Museum, die ruhigen Strasse der Vororte, die Friedhöfe mit ihren vielen Eichhörnchen. Manchmal ließ Remigius sich über Nacht auf einem Friedhof einschließen, da war er sicher vor den Glatzen. Remigius stopfte die leeren Flaschen in einen seiner vielen Plastiksäcke und machte sich mit Charlie auf den Weg in die Innenstadt. Mütter wichen auf den Parkwegen vor ihm aus, und zerrten ihre neugierig glotzende Brut hinter sich her. Er war jetzt schon so lange auf der Straße, aber daran hatte er sich immer noch nicht gewöhnt. Sicher es war nicht mehr wie früher, als er die Leute anhielt und zur Rede stellte. Aber dieses Zurückweichen der Anständigen verletze ihn im Inneren immer noch. Sicher war das noch immer besser als Gruppen von angetrunkenen jungen Männern, die ihn als ungefährliches Opfer ansahen. Wie oft ist er schon von solchen biederen Jugendlichen umgestoßen und getreten worden. Natürlich nur wenn keiner zusah. Allesamt Feiglinge. Alleine würden sie sich nicht an ihn heranwagen, obwohl er so kaputt war, dass der Stoß eines achtjährigen ihn umhauen würde. Etwas anderes waren die Glatzen, aber daran dachte er nicht gerne, schon gar nicht jetzt im Sommer. Die waren im Winter gefährlich. Da gab es nur wenig warme Schlafplätze und die kannten sie. Im letzten Winter war er froh, dass er Charlie hatte. Der kleine Köter bellte zuverlässig wenn jemand zu nah kam. Nicht dass es wirklich viel genützt hätte, aber besser als im Schlaf erschlagen zu werden - oder vielleicht auch nicht besser. Remigius schossen die Gedanken langsam durch das Hirn. Ja, das gab es, langsam schießen. Es war als würden sie sich mit Vollgas durch einen zähen Teig bewegen, wenn er dachte zerrte er daran. Nachdem sie erst dort festzuhängen schienen, lösten sie sich plötzlich und klar aus der Masse. Während er an einer roten Ampel wartete, beobachtete er die Mutter mit dem quengelnden Dreijährigen und dem Zwillingskinderwagen neben sich. Sie war beladen mit Einkaufstaschen uns sichtlich überfordert mit ihrer Vorstellung einer guten Mutter. Er erkannte an den kleinen Falten neben den zusammengepressten Lippen, wie gerne sie den Kleinen angeschrieen hätte. Remigius dachte an seine Eltern. Sie waren wohl nicht überfordert gewesen mit einem Kind. Allerdings hatten sie immer von einer großen Familie geträumt. Aber er schien mit seiner Geburt alle Kraft aus seiner Mutter gesaugt zu haben. Während er immer runder und größer wurde, schien sie immer weniger zu werden. Obwohl sie noch jung war, ihr Schoß hatte ihn hervorgebracht und war es zufrieden. Nur waren es seine Eltern leider nicht. Misstrauisch beäugten sie sich, wer von ihnen beiden der Versager war. Beide behandelten ihn liebevoll, aber er war ihnen einfach zu wenig. Wie sollte er auch eine ganze Schar Kinder ersetzten, die in ihren Träumen durch das Haus tobte. Während er neben dem kleinen Jungen über die Strasse ging dachte er an seine Kindheit. Sie war sorglos und fröhlich. Er hatte viele Freunde gehabt die er Nachhause mitbringen durfte. Seine Mutter freute sich über den Trubel und kochte gerne für alle. Er versuchte sich an die Schule zu erinnern, aber da war eine leere Stelle in seinem Gedächtnis, sicher vom Alkohol. Manche Dinge waren wie ausgelöscht, zum Beispiel seine ersten Freundinnen, er konnte sich auch nicht erinnern wie die Strasse hieß in der Sein Elternhaus stand. Später hatte seine Lehre gemacht, er lernte KFZ Schlosser. In einem Schaufenster sah er sich. Keine Mutter kann sich vorstellen, dass aus ihrem Kind mal ein Penner wird, aber warum nicht. Ist es wirklich das schlimmste? Remigius beobachtete sich als er an der langen Scheibenfront vorüberging, diesen Gang als stünde er auf einem schlingernden Schiff, den krummen Rücken, die langen, verfilzten Haare. Er war ein hübscher junger Mann gewesen. Auch damals trank er schon gerne, aber noch nicht mehr als seine Freunde mit denen er durch die Kneipen zog. Erst nach seiner zweiten Scheidung begann er hart zu trinken. Remigius stürzte sich in den Abgrund, nur kein langsamer, schmerzvoller Abstieg. Er verbrachte schon die Nächte auf der Strasse, als er noch eine Wohnung hatte. Als sie schließlich geräumt wurde, hatte er es kaum gemerkt.
Erschöpft ließ er sich im Abendlicht auf eine Kirchenstufe fallen und beobachtete den Verkehr und die vielen Menschen in den Cafes auf dem weiten Platz. Er stopfte sich zwei seiner Tüten in den Rücken und blinzelte zu den Tauben hinüber. Viele von ihnen hatten verkrüppelte Füße. Das kam von dem Taubenschutz an den Dächern. Remigius mochte die Tauben, sie waren seine Verwandten. Früher war er ein gerne gesehener, ehrbarer Bürger. Die Taube mit dem Ölbaumzweig war Botschafterin des Friedens. Heute nannte man sie fliegende Ratten.
Remigius merkte, dass er in ein lautes Selbstgespräch versunken war. Um nicht aufzufallen und der Form halber wandte er sich Charlie zu. Er beobachte sich dabei und musste kichern. Der Form halber. Nein er warf keinem vor, dass er hier auf der Strasse saß. Er hatte sein halbes Hirn versoffen, aber der Rest war noch unterhaltsam genug. Er hatte es auch früher gehasst zu arbeiten. Er wollte nie Verantwortung tragen. Tragen, das Wort sagte schon alles. Heute war ihm das Gewicht eines kleinen Hundes schon fast zuviel. Aber er fühlte sich immer noch frei genug das Leben zu lieben. Remigius lachte leise, als er abwechselnd den Tauben und Charlie alte Kekse zuwarf. Komisch, alle denken, dass Berber immer nur unglücklich sind. Natürlich ist es nicht immer einfach, aber wo ist das schon so, etwas bei dem Bonzen? Die jammern doch am meisten. Vielleicht war es gut gewesen, dass er fünfzehn Jahre Arbeitsleben hinter sich gebracht hatte, bevor er auf Trebe ging. Selbst heute, nach zehn Jahren auf der Strasse, freute er sich beim Aufwachen, den ganzen Tag nichts tun zu müssen. Das Gefühl zu wissen, wenn er wollte könnte er einfach weiter schlafen. Das war sein Luxus, aber nicht sein einziger. Remigius war auch ein hingebungsvoller Trinker. Er liebte den Rausch, dieses Gefühl wenn der Korn auf nüchternen Magen seinen Körper und Geist durchflutete ihn erhitzte und Erinnerungen weckte. Er musste sich nicht mehr rechtfertigen, er durfte seinen Rausch genießen.
Es war dunkel geworden. Remigius saß noch eine Weile auf den Stufen und überlegte wo er heute schlafen sollte. Es gab eine schöne Lindenallee hier in der Nähe, mit vielen Parkbänken. Es brummt als ihm einfiel, dass jetzt im Sommer diese Bänke immer von Liebespaaren belagert waren. Nein er würde den Grünstreifen zwischen den Fahrspuren auf dem Ring nehmen. Dort stand das Schiller Denkmal. Auf dessen Stufen hatte er schon viele Sommernächte verbracht. Er schätzte diesen Ort, gleichgültig wann er in der Nacht aufwachte, immer war Leben auf der Strasse. Unterwegs kaufte er noch an einem Büdchen eine Flasche Korn und zwei Stücke Kuchen. Als er sich schließlich unter dem angestrahlten Mann mit der Feder in der Hand, niederließ, seufzte er zufrieden. Remigius packte seine Decken aus, machte sich lang und setzte die Flasche an. Er würde nicht alles auf einmal austrinken, schön langsam über die ganze Nacht verteilt, immer wenn er aufwachte. Eine Obsthändlerin hatte ihm zwei Äpfel geschenkt, die aß er langsam auf, während sein Kopf immer schwerer wurde.
Remigius wurde vom Charlies kläffen geweckt. Eine Gruppe Männer standen vor ihm. Es waren Glatzen. Er wusste was jetzt passieren würde. Der erste Tritt traf ihn als er sich aufrichten wollt. Remigius dachte kurz warum, warum gerade jetzt im Sommer. Einer der Skins wollte seinen Schäferhund auf Charlie hetzten. Aber der ließ sofort von dem Pudel ab, als der sich winseln auf den Rücken warf. So bekam Charlie einen Tritt und alle widmeten ihre ganze Aufmerksamkeit dem Penner am Boden. Der nächste Stiefeltritt traf ihn in den Magen. Remigius kotzte den Männern auf die Springerstiefel mit den weißen Schnürsenkeln. Die Glatzen sprangen fluchend zurück. Die nächsten Fußtritte gingen gezielt zu seinem Kopf und in sein Gesicht. Der letzte Tritt den Remigius merkte ließ seinen Schädel auf eine Steinkante schlagen.
Am nächsten Morgen fanden ihn die Männer von der Straßenreinigung. Es war kein schöner Anblick. Als der hartgesottenste von ihnen den zerschlagenen toten Körper umdrehen wollte, wäre er fast von einem kleinen Köter in die Hand gebissen worden, der zwischen den Lumpen lag.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo kyra,

hm - deine Sprache gefällt mir. Sie ist sehr einfühlsam, bildhaft, und sie vermittelt sehr gut die Stimmung. Man sieht den Berber vor sich, schlurft mit ihm durch die Straßen und kann seine Gedanken und Gefühle gut nachvollziehen. Aber für eine Kurzgeschichte ist mir einfach zu wenig Tempo drin. Gemessen an der Länge ist sie sehr handlungsarm, und ich hab nie einen wirklichen Spannungsbogen entdeckt. Der Anfang ist noch einigermaßen gelungen. Das Ende wirkte nach diesem äußerst ruhigen Handlungsablauf irgendwie aufgesetzt. Ich weiß nicht, ob ich da richtig liege. Die Dramatik dieses Endes verspürte ich zumindest nicht in dem Maße, wie es vielleicht angemessen wäre. Und der Mittelteil? Der liest sich stellenweise wie eine Biographie. Insgesamt hätte ich mir mehr Handlung und weniger Beschreibung gewünscht. Irgendwie erinnert mich das an die Sache mit dem Selbstmordattentat. Dort sind die vielen Informationen auch kaum an Handlung festgemacht.

Gruß Ralph
 

Rainer Heiß

Mitglied
im Gegensatz zu meinem Vorgänger gefallen mir gerade die Schilderungen sehr gut! Leben lässt sich auch ohne Handlung - vielleicht sogar noch besser - darstellen. Man merkt, dass du das Leben genau beobachtest und ehrlich wiedergibst. Handlung ist dazu nicht nötig.
 



 
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