BERLIN IM APRIL

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BERLIN IM APRIL

Das Warten ist das Schlimmste, das sage ich ganz offen, noch schlimmer als die Fliegen und der Gestank und alles andere.
Bei dem Gestank muss ich ständig an Beschreibungen der jüdischen Ghettos im Osten denken, von denen wir in der Hitlerjugend gelernt haben, so soll es dort nämlich auch riechen (wahrscheinlich noch schlimmer, auch ohne, dass dort Krieg und Mangel herrschen). Andererseits gibt es hier in Berlin keine Juden mehr, so sagen jedenfalls alle, auch wenn jedermann weiß, dass sich noch etliche versteckt halten müssen. Die sind nun mal so, hinterlistig und lichtscheu. Ich kann mir auch nicht vorstellen, so gefährlich und hinterhältig wie die sind, dass man die so einfach los wird, da kann der Goebbels lang und laut behaupten, Deutschland und ganz besonders Berlin seien längst judenfrei. Aber das Vaterland und der Führer haben heute sowieso andere Sorgen.

Walter, ein älterer Gefreiter und mein Vorgesetzter, mit dem ich mir die Stellung teile, vermutet, dass die östlichen Außenbezirke von Schildow bis Schönefeld schon in der Hand vom Iwan sind, aber der Oberscharführer hat gesagt, dass wir ihn überall zurückschlagen und dass die Armeen Wenck und Busse und auch der Steiner an der südwestlichen und nördlichen Stadtgrenze stehen und für raschen Entsatz sorgen und Tabula rasa mit dem Iwan machen werden. Außerdem ist der Führer vor Ort und hat alles im Griff, der ist ja extra dafür in Berlin geblieben. Als ich mich heute Morgen nach dem Appell ordentlich gemeldet und gefragt hab, ob wir dann bald Urlaub bekommen und über Nacht nach Hause könnten, hat der Oberscharführer nur geschnauzt, dass wir unsere Befehle hätten und in unsere Stellungen abhauen sollen. Na ja, immerhin hat er zum Schluss noch ein Macht’s gut, Jungens! draufgelegt.

- Hätt‘ ick dich sagn könn‘, Jung. Eene deutsche Jungmann hängt inner Stunde der Not nich bei Muttern rum! hat Walter geantwortet, wie ich ihm davon erzählt hab.
Bei Walter weiß ich oft nicht, ob er Spaß macht oder im Ernst redet. Auch schimpft er andauernd, und zwar über alles Mögliche, von den Rationen und der Kampfstrategie über unsere Bewaffnung bis hin zu seinen löchrigen Schuhsohlen, und wenn er erst mal bei denen angelangt ist, sind die großmäuligen Parteibonzen, die sich in der Etappe herumdrücken und die Sandkastenstrategen vom Generalstab an der Reihe, die keine Ahnung von der Lage vor Ort haben, und dabei deutet er auf unseren spärlichen Patronenvorrat und unseren mickrigen Schützengraben.
In Wahrheit ist es auch gar kein richtiger Schützengraben, wie wir ihn in der Ausbildung in der HJ gegraben haben, mehr ein zwei Meter langes und gerade mal achtzig Zentimeter breites Loch voller Wurzeln, Asseln, Läuse und feuchter Erdklumpen, oben ohne Brustwehr, wo der Kopf wenigstens einigermaßen geschützt wär, in dem wir nur dann vollständig verdeckt sind, wenn wir uns hinknien, wobei wir rückwärts ständig mit dem Hintern anstoßen. Unsere beiden Panzerfäuste zum Beispiel kann man bestimmt schon von weitem sehen, denke ich, die sind nämlich länger als unser Graben tief ist. Walter hat gemeint, der Arsch sei die beste Rückendeckung des deutschen Soldaten – wieder so einer seiner Sprüche, den ich nicht verstehe, aber ich lache eben mit, damit er sich freut und weil Lachen gut tut. Manchmal macht er sogar Witze über den Führer, aber die sind wohl eher harmlos, meine ich – einige hab ich schon mal gehört, die erzählt man sich überall auf den Straßen –, wie der über den Harzer Käse, den man nach Hitler benannt haben soll, obwohl ich nicht recht verstehe, wo da der Witz ist.

- Kommst schon noch ma hinter, Jung! Früher als de gloobst, sach ick ma!
Zum Glück schimpft Walter nicht über den Führer, denn das könnte ich nicht zulassen. Man muss Vertrauen und Zuversicht haben, dass alles gut ausgeht. Im Übrigen hab ich Walter gesagt, dass es nur der Führer war, der Deutschland so weit gebracht hat, und der wird bestimmt dafür sorgen, dass nicht alles umsonst war. Abgesehen davon kämpfen wir ja noch tapfer Tag für Tag, und das nicht wenig, wie der Oberscharführer gesagt hat und wie das Radio und die Lautsprecher in den Straßen berichten.
- Hast Recht, Jung; weit hamse uns jebracht!

Ich hab ihn genau gemustert um rauszukriegen, wie er das wohl gemeint hat – ich bin ja auch nicht gerade auf der Wurstsuppe hergeschwommen! –, aber er hat keine Miene verzogen, nicht einmal leicht gegrinst und gleich von mir weggeschaut, um sich seine stinkende Pfeife anzuzünden.
- Dat is ne Spezialmischung, praktisch ne V2-Tabak, hehe, damit gewinn‘ wir‘n Krieg, wirst sehn, Jung. Dat haut die gemeinste Iwan vom Panzer! Nu kiek ma, jetz lachter ja wieder!
Ich möchte nur zu gern wissen, was er da raucht. Tabak ist es bestimmt nicht, das rieche ich, weil mein Opa auch Pfeife raucht und bei dem riecht es wie nach Tannenzapfen und gebratenen Äpfeln. Der Gestank seiner Pfeife überdeckt sogar den Gestank in der Luft, wenn der Wind einmal günstig für uns steht. Na, in diesem Fall natürlich ungünstig.

Wie üblich herrscht typisches Berliner Aprilwetter – in ein paar Tage ist es schon Mai –, so zwischen sechs und acht Grad. Meistens ist es böig und regnerisch, aber es regnet gar nicht so richtig und auch nicht länger am Stück, es nieselt nur hie und da, und so steht das Regenwasser nur in den Gräben, anstatt dass es die Brände überall löscht, die der ständige Wind erst so richtig ausbreitet. Wenn wir Stahlhelme hätten, könnte wir was abschöpfen, aber ich hab meinen Helm im Unterstand vergessen – er hat mir sowieso nicht gepasst –, zusammen mit den Keksen und dem Apfel, was ich noch über hatte, weil es heute beim Wecken so hektisch zuging und wir auch kein richtiges Licht im Unterstand machen durften, nur ein paar kleine Kerzen. Wenn ich später ohne Stahlhelm anrücke, gibt es bestimmt einen Anschiss vom Oberscharführer. Walter hat nur mit den Achseln gezuckt, wie ich ihn nach seinem fehlenden Helm gefragt hab.

Immer wieder gibt es auch Tage wie heute, wo es lediglich leicht bedeckt ist – manchmal kommt sogar die Sonne raus – und zehn oder elf Grad herrschen, sodass man sogar ein wenig ins Schwitzen kommt, trotzdem man im Wasser steht und den lästigen, sperrigen Mantel ausgezogen hat, der zur Ausrüstung gehört, ohne den man sich nachts wahrscheinlich Erfrierungen holen würde in dem kalten Graben und den klammen Klamotten. So ist das mit unseren Uniformen: Sie sind entweder zu warm oder zu kalt für den Berliner April. Die verhärteten Schweißflecken auf der Uniform schaben die Haut besonders unter den Achselhöhlen auf, und man kommt gar nicht mehr hinterher mit dem Kratzen, aber ich will zugeben, dass daran ebenso die Läuse schuld sein können. Weil es so milde ist, meine ich, sind auch so viele Fliegen da, gerade hier über unserem Graben, unter den Bäumen des Fußwegs neben der Allee, eher untypisch für April. Aber Walter sagt, dass die Fliegen ohnehin gekommen wären, wegen der Kadaver, der Abfälle und der offenen Kanalisation, aber vor allem wegen dem Iwan und seinen asiatischen Ungezieferbataillonen, eine gemeine, typisch bolschewistische Geheimwaffe, der habe die nämlich aus Sibirien mitgebracht, wo es bekanntlich außer Wald, Sümpfen und Insekten nichts gibt. Dieser Walter! Es tut gut, jemanden um sich zu haben, der einen hin und wieder zum Lachen bringt.

Tagein, tagaus riecht es nach schimmligen, vor sich hin gärenden Abfällen, nach Abwässern voller Pisse und Scheiße, und die Luft scheint nur aus Benzin, Motorenöl, Pulver, Rauch, Schwefel, Phosphor, Staub, Asche und schwelendem Holz zu bestehen. Und da ist noch dieser Geruch, den ich erst nicht unterbringen konnte, süßlich, stechend, der einen zum Husten bringt, wie das Fleisch, das die Mutter hin und wieder in der Pfanne verschmoren hat lassen, vom dem Vater lachend gesagt hat, dass man Pferdefleisch auch gar nicht anders essen könne. Walter murmelte, dass wir damit gar nicht so verkehrt lagen, denn es sei tatsächlich totes, verbranntes, verfaulendes Fleisch, das von den Tierkadavern, die überall herumliegen und von den tapferen arischen, antijüdisch-bolschewistischen Verteidigern von Groß-Berlin stammt, die dem Führer bis treu ins Grab gedient haben, vor allem aber von den todesmutigen Zivilisten, auch wenn es die erst mal gar nichts anging, weil so etwas Sache der unbesiegbaren deutschen Wehrmacht sei.

- So riecht eben ne anstänje Weltkrieg, Jungschen!
Er hat mir bestimmt angesehen, dass ich das nicht gut weggesteckt hab und sein Witz nicht wie geplant gelandet ist, also hat er mir zugezwinkert und mir dabei kurz die Hand auf die Schulter gelegt, damit ich merke, dass er nicht mich verspottet.
- Hab eben ne lose Schnauze, wat willste machen! Lass man juut sein, Jung, ick meen et ja juut mit dir, kannste mir gloobn. Ick will halt, dat wat lernst, solang –
- Solang wat?
- Schon juut, Jung. Mach dir ma keen Kopf. Sach mal, weest du, warumse uns keene Jaasmasken ausjejebn ham? Bei uns bei die Bolli hieß et bloß, die sin für de Feuerwehr reserviert und für de Stabsstelln unter die Erde. Na, wenn det nich wieder typisch is…!

Was die Gasmasken betrifft, so konnte ich ihm auch keine klare Antwort geben. Bei der HJ hatte es nur geheißen, dass nicht genug übrig waren, um alle damit zu versorgen, dass die Truppe im Feld Vorrang hätte und dass der Iwan es sowieso nicht wagen wird, uns zum Beispiel mit Gas zu kommen, weil das unter anderem gegen die Genfer Konvention zur Kriegführung verstößt, an die sich alle zu halten haben, wir genauso wie die Bolschewisten. Leider, hat der Unterscharführer noch hinzugefügt, das hätten die slawischen Untermenschen gar nicht verdient.
- Is nich wahr, Jung! hat Walter zur Antwort geschmunzelt. Dat wusst ick ooch noch nich!
Immerhin hat er mir gezeigt, wie man das Schiffchen dehnt und über Mund und Nase stülpt und hinter den Ohren festmacht, wenn man den Gestank nicht mehr aushält.

Walter ist schon eine komische Type; man weiß nie so recht, woran man bei ihm ist, ein typischer Berliner eben. So einer wie dein Vater, hätte meine Mutter gesagt. Zu mir ist Walter eigentlich immer nett, Bisschen wie ein großer Onkel, und er beantwortet mir alle Fragen, von denen ich eine ganze Menge hab. Ich hab ja noch nicht so viel Ahnung, schließlich bin ich erst seit kurzem Soldat, ein Frischling, wie Walter sagt. Ich hab auch das Gefühl, dass Walter nach mir schaut, sich um mich sorgt, seit ich ihm gesagt hab, dass ich erst fünfzehn bin, was er mir erst gar nicht glauben wollte, weil ich mindestens wie achtzehn aussähe, auf die er mich auch geschätzt hatte. Wie ich ihm vor drei Tagen zugeteilt wurde, hab ich jedenfalls sofort Vertrauen zu ihm gefasst und ihn ohne Hemmungen gefragt, was genau wir hier in unserem Loch zu tun hätten und wie wir die Zeit totschlagen, wenn außer Ausschau zu halten nichts weiter zu tun ist, hier zwischen den Barrikaden, die dreihundert Meter vor und hinter uns aufgerichtet sind – lauter umgekippte Autos und Karren und Fahrräder und Möbel, dazu Schutthaufen aus Mauersteinen und -ziegeln, aus allem werden Barrikaden gebaut –, und er sagt, wir schießen auf jede Uniform, die nicht nach Deutschland riecht und auf die Panzer und Geschütze und Stahlhelme mit den roten Sternen drauf, aber er glaubt sowieso nicht, dass unsere Panzerfäuste funktionieren und dass die zwei, die wir haben, reichen, wenn der Iwan kommt. Und bis der kommt, sagte Walter weiter, müssten wir eben miteinander glucken und sabbeln, oder wir könnten auch karteln, er habe da eene janz besondere Kartenspiel mit feschen Bildern, aber er wisse gar nicht, ob ich schon alt genug dafür sei, er wolle schließlich keen Dresche kriejen von wejen ne Pimpf verderbn, hehe. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redet, wie so häufig, aber so redet Walter eben.

Hier in unserem Viertel um die Chausseestraße herum, etwa vom Stettiner Bahnhof bis zum Oranienburger Tor, wurden noch keine Panzer oder Truppen vom Iwan gesichtet, aber nachdem wir vor zwei Tagen mit Panzerfäusten ausgestattet wurden, ist selbst mir klar, dass es nur noch eine Frage von Tagen oder sogar Stunden sein kann, bis der Iwan sich das Reichstagsviertel vornimmt. Walter sieht dies genauso – und gerade deswegen finde ich, dass er ein wenig mehr Zuversicht zeigen könnte. Schließlich stellt man uns, überhaupt alle Kameraden vom Volkssturm, bestimmt nicht zum Spaß hierher. Walter ist natürlich nicht vom Volkssturm, dafür ist er ja nun wirklich noch nicht alt genug, obwohl er alt und verkniffen aussieht, vor allem wenn er diese stinkende Pfeife im Mund hat. Er hat mir gesagt, dass er einer Polizeieinheit angehört, die seit kurzem von Fall zu Fall der SS und in der übrigen Zeit mal dieser, mal jener Armeeeinheit unterstellt ist. Walter meint, dass an dem ganzen Durcheinander wahrscheinlich der Goebbels schuld ist, der, trotzdem er in seinem Propagandaministerium ganz andere Befehlsstrukturen gewohnt ist, neuerdings die Verantwortung für die Verteidigung der Hauptstadt trägt, so heißt es jedenfalls vage in den Verlautbarungen, obwohl keiner so recht weiß, was der Goebbels, wenn es drauf ankommt, wirklich zu sagen hat.

- Nu ja, die Josef hat immer wat zu sagn, hat mir Walter zugeblinzelt, wie ich ihn gefragt hab, ob er vielleicht mehr weiß.
- Is ooch ejal, hab ich geantwortet. Mir sacht meene Oberscharführer, wo et lang jeht.
- Da kann uns ja nix passiern, oder wat meenste? Nu kiek mir nich so an – hab doch nur n Späßecken gemacht, ick schwör et!

Walter ist schon ein netter Kerl, der es gut mit einem meint, immer freundlich und hilfsbereit; ein anständiger Deutscher, denke ich, auch wenn er immer etwas zu meckern hat und man sich erst an seinen Humor gewöhnen muss. Als ich ihm vor drei Tagen zugeteilt wurde, dachte ich natürlich zuerst, dass er zum Volkssturm gehört – wie ich auch, aber ich komm ja eigentlich aus der HJ und gehör natürlich noch zu den Jungen, obwohl ich aus dem Pimpf schon lang raus bin, darauf leg ich wert –, weil er so alt aussieht mit seinem dunklen, gelbgefleckten Schnurrbart, den schon ziemlich grauen Geheimratsecken und den vielen Falten im Gesicht von den Augenwinkeln und den Ohren bis seitlich unterhalb vom Mund. Wie er mir dann sagt, dass er gerade mal vierzig ist, musste ich an meinen Vater denken, der jetzt genauso alt geworden wäre, wäre er nicht eben tot. Wenigstens glaube ich, dass er tot ist. Mit Mutter kann ich darüber nicht reden, sie sagt dauernd, dass er bald nach Hause kommt, und sie will auch nichts anderes hören, und wie ich sie frage, warum es so lange dauert, schweigt sie nur, und manchmal heult sie auch los. Seit den Kämpfen Mitte Januar in Ostpreußen, an denen er als StUffz und Führer eines Infanteriezugs teilnahm, gilt er als vermisst oder gefangen. Jedenfalls befand er sich in keinem Lazarett und auch auf keiner Gefallenenliste, und wenn er in Gefangenschaft geraten ist, so lebt er bestimmt nicht mehr, man weiß doch, wie der Iwan Gefangene behandelt. In der HJ erzählen sie, dass der Iwan alle Gefangenen ohne Federlesens liquidiert, nachdem er sie verhört und gequält hat, obwohl es auch vorkommen kann, dass man sie in den sibirischen Lagern, Bergwerken und Sümpfen zu Tode schuften oder einfach verhungern lässt.

Meine Mutter ist vor ein paar Wochen zu den Schwiegereltern nach Hennigsdorf gezogen, nachdem unser Mietshaus in Lichtenberg praktisch unbewohnbar geworden worden war. Das war schon ein Ding, wie ich damals von der HJ heimkam, wo wir den Umgang mit Gasmasken und den neuen Panzerfäusten gelernt hatten, und die Außenwand von unserem Mietshaus, die nach vorne zur Straße schaute, einfach weg war! Ausnahmsweise war mal kein Luftangriff daran schuld, so hieß es – die haben zwischenzeitlich damit aufgehört bzw. setzen immer mal wieder damit aus, wahrscheinlich aus Rücksicht auf ihre Bodentruppen –, sondern mehrere zweihundertzehn Millimeter Wurfmörser vom Iwan, die schon vorher das halbe Viertel zerlegt hatten. Zu mehr reicht’s bei dem Iwan wohl noch nicht, nur immer auf unschuldige Berliner Leute drauf! Uns ist natürlich klar, dass feindliche Infanterie schon überall zugange ist, weswegen Walter und ich ja auch diese Stellung hier an der Chaussee bezogen haben, etwa einen Kilometer nördlich vom Stettiner Bahnhof, wo sich unsere Unterkünfte befinden, natürlich unter der Erde. Dort müssen wir jedes Mal Meldung machen, wenn wir alle acht bis neun Stunden abgelöst werden, wie es der Plan ist. Gestern sind wir allerdings erst nach elf, beinahe zwölf Stunden abgelöst worden, es war schon lange dunkel, und wir wären bestimmt eingeschlafen, wenn da nicht der Lärm wäre.

Die Lautsprecherdurchsagen und Luftschutzsirenen, die Hörner der Polizeifahrzeuge und Feuerwehren, das Gebell der Hunde und das Geschrei der Leute und der Soldaten, die Panzergranaten, Mörser, Brand- und Phosphorbomben, Kanonen, Maschinenpistolen und Gewehre von uns und vom Iwan – alles zusammen ergibt einen Höllenlärm, der Tag und Nacht andauert. Man ist verunsichert und erschrickt beinahe, wenn mal eine Minute Stille herrscht, und dann ist man beinahe dankbar, wenn die verdammten Stalinorgeln wieder loslegen. (Wie es seine Art ist, hat Walter auch dazu einen Witz parat: Er fragte mich, warum unsere Geschütze nicht Hitlerorgeln hießen, schließlich sei unser Führerkult der einzig wahre und ob der Goebbels seine Werbeabteilung nicht mehr im Griff hat.) Man mag gar nicht daran denken, welchen Schaden die überall in unserem geliebten Berlin anrichten, und sie kommen immer näher, sie sollen sich schon in Tiergarten und im Wedding festgekrallt haben wie die Zecken. Als ich Walter danach frage, wo seiner Meinung nach die bolschewistischen Zecken stehen, und wann sie endlich hierher kommen, damit wir ihnen Saures geben können, meint er nur tonlos, dass wir Deutschen ja sehr gut wissen, wie man mit Ungeziefer umgeht, und ob wir dies nicht in der HJ gelernt hätten.

Vor kurzem mussten wir feststellen – eigentlich war es Walter, der es zuerst entdeckt hat –, dass nicht jede Patrone aus unserem Vorrat in die Verschlusskammern unserer Gewehre passt, weil man an uns keine deutschen Fabrikate ausgegeben hat. Ein schöner Mist! Es gab wohl Versorgungsprobleme, und so muss ich mich mit einem italienischen Gewehr herumplagen und Walter mit einer erbeuteten Tokarew, einer verdammten Kalmückenflinte, wie er schimpft. Er sagt, dass wir die deutschen Patronen ruhig aussortieren und wegwerfen können, wir würden unsere Knarren ohnehin nicht mehr lange brauchen, ob wir noch mal zu einer ordentlichen Dreiundvierziger kommen oder nicht. Aber das bringe ich nicht fertig, es kommt mir irgendwie nicht richtig vor, etwas wegzuwerfen, wo überall Not herrscht und es an allem fehlt.
- Wat willste machen – die Dinger aufn Iwan schmeißen, hehe?
Dieser Walter – der ist schon eine Nummer für sich, und ich bin wirklich froh, dass wir beieinander sind und zusammenhalten.

Die Rauchschwaden sind wieder dichter geworden und ich hab eine meiner Feldflaschen geleert. Wir bekommen seit neuestem immer zwei Flaschen gefüllt mit Pfefferminz-, manchmal auch Hagebuttentee, der schmeckt auch länger nach etwas als bloßes reines Wasser. Walter trinkt immer abwechselnd aus seinen Flaschen, ganz schnell hintereinander, gleich nachdem er aus der einen getrunken hat, und ich glaube – eigentlich bin ich mir ziemlich sicher –, dass in einer der Flaschen Schnaps ist. Genaues weiß ich allerdings nicht, und abgesehen davon, dass er beim Trinken immer das Gesicht verzieht und über den Pfefferminztee schimpft, redet er nicht darüber. Er hat auch keine Fahne, von der ich wüsste. Na ja, der Schnapsgeruch fällt bei dem Gestank ringsherum ja auch nicht auf. Ich werde ihn jedenfalls nicht danach fragen; das wäre unhöflich, meine ich. Ich kann auch gar nicht sagen, wie ich dazu stehe. Mein Opa hat immer gesagt, dass ein richtiger Mann seinen Schlummertrunk nicht nur braucht, sondern auch verdient hat, weil Schnaps Mumm macht und jeder ein Bisschen Mumm gebrauchen kann in diesen harten Zeiten. Vielleicht gibt mir Walter mal ein Schlückchen ab, wenn ich weiter so tue, als mache ich mir nichts draus. Neugierig bin ich nämlich schon, und Mumm kann ich auch gebrauchen, wie ich plötzlich – ich bin ganz aufgeregt, hab auch ganz ordentlich Angst bekommen, wie ich zugeben muss –, ein ganzes Stück weiter weg, eine Gruppe Soldaten um die Häuser schleichen sehe, die wohl ein Panzerabwehrgeschütz in Stellung bringen; so genau kann ich das aber von hier aus nicht erkennen.

- Walter! Du, dort vorne –
- Jo, hab sie schon jesehn. Wat gloobste, wat ick bin – blind? Aber du bistet wohl, wa? Dat sin doch unser Leute! Die kommen ausm Tunnel beim Bahnhof und dort vorne auser Zinnowitzer raus, du Häschen!
Da hab ich mich doch ein wenig geschämt, aber Walter tröstet mich und sagt, dass ein Bisschen Angst absolut in Ordnung geht und außerdem ein Zeichen von Grips sei, solange man nicht dauernd ans Sterben denkt. Ich hab bislang noch nie richtig ans Sterben gedacht, trotz Krieg und allem. Wahrscheinlich bin ich zu jung dafür. Als junger Kerl denkt man, wenn es ums Sterben geht, höchstens daran, dass es die anderen sind, die sterben, wie mein Vater zum Beispiel und natürlich unsere Soldaten. Aber jetzt hab ich es doch so richtig mit der Angst bekommen, obwohl ich mich eigentlich ziemlich tapfer fühle und bestimmt auch tapfer kämpfen werde. Jedenfalls hab ich das vor, und ich denke, Walter auch. Und jetzt hab ich Angst davor, noch mehr Angst zu bekommen, und irgendwie macht mich dies unsicher und ärgerlich und traurig in Einem.

Das Warten macht es auf alle Fälle nicht leichter, gebe ich Walter insgeheim recht, wie er gesagt hat, dass ich nicht so viel nachdenken soll, weil sich dadurch das Warten nur noch mehr zieht, als es ohnehin schon tut.


2023
 



 
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