Berliner Erinnerungen
Adelheids klare Erinnerungen begannen mit der Schulzeit. Die verschwommenen Bilder von den Jahren davor hatten alle mit der Stube zu tun. Das Klappern, wenn die Großmutter Geschirr abwusch, der Geruch von Kohl aus den dampfenden Töpfen, die Wolle, die sie aufwickeln durfte. Aber der Morgen an ihrem ersten Schultag hatte sich kristallklar in ihr Gedächtnis eingegraben. Ihre Kleider, abgetragen, aber von der Großmutter liebevoll geflickt. Ihre Schuhe, die sie sich schon selbst binden konnte. Die dick mit Butter bestrichenen Brotscheiben, eingewickelt in etwas Zeitungspapier. Der lederne Schulranzen, ebenfalls abgegriffen, aber ein großer Schatz.
Sie kannte den Weg, denn die Schule war nicht weit entfernt. Vor Ungeduld trat sie von einem Fuß auf den anderen, als die Großmutter ihr die Haare kämmte und zwei Zöpfe flocht.
Sie erinnerte sich, wie sie in die blauen Augen der Großmutter blickte.
„Du bist ein braves Mädchen“, sagte sie. „Du musst fleißig lernen und alles tun, was der Herr Lehrer sagt.“
Adelheid strahlte vor Glück. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass sie jemals unartig sein würde. Die Schule war das größte Ereignis ihres kurzen Lebens.
Berlin stand in seiner kurzen, fiebrigen und durch unsichere Gelder finanzierten Blüte in den zwanziger Jahren. Adelheid hörte zu, wenn ihre Großmutter mit anderen Erwachsenen von einem fremden Mann namens >Hindenburg< sprach und zog für sich den Schluss, dass es ein sehr feiner Herr sein musste. Die jungen Frauen jedoch, die sich die Haare abschnitten und in der Öffentlichkeit rauchten, waren ganz schlimme Mädchen, so schlimm, dass die Großmutter einen schmalen Mund bekam, wenn das Thema darauf kam. Der >schmale Mund< war immer ein Warnzeichen. Adelheid tat alles, um den >schmalen Mund< zu vermeiden. Es bereitete ihr jedoch heimliches Vergnügen, wenn jemand anderer den >schmalen Mund< zu spüren bekam. Mit großen Augen betrachtete sie die schlimmen Mädchen, die ihnen am Sonntag begegneten, wenn sie Unter den Linden oder am Kurfürstendamm spazieren gingen. Insgeheim bewunderte sie die Frauen für ihr Selbstbewusstsein. Sie stammten wie aus einer anderen Welt, die mit der ihren nichts zu tun hatte.
Adelheids Mutter war an kurzer, schwerer Krankheit gestorben und damit ihrem im ersten Weltkrieg gefallenen Ehemann bald nach gefolgt. Die Großmutter bekam eine kleine Rente, mit der sie sich und ihre Enkelin durchbrachte. Außerdem hatte Adelheid eine nennenswert Summe von ihrem Vater geerbt. Großmutter sprach oft von diesem Geld und schärfte ihr ein, dass es gespart werden musste. Wer wusste, was das Leben noch bringen würde?
Adelheid saß auf der Mauer im Innenhof ihres Wohnhauses, baumelte mit den Beinen und aß einen süßen, saftigen Apfel. Der Himmel war so blau, ein ganz tiefes Blau. Adelheid stellte sich vor, sie würde hochfliegen wie die Schwalben und die Welt von oben sehen. Was es da gab, in der Welt! Ozeane, Berge, Schiffe, Eisenbahnen. Aber es war schön, wenn die Großmutter sie nach drinnen rief. Dann gab es eingebrannte Suppe und Kartoffeln mit Grünkohl. Manchmal erzählte die Großmutter auch von ihrer Kindheit und Jugend. Der Kaiser spielte eine große Rolle. Aber jetzt gab es keinen Kaiser mehr.
Wenn sie weg flog, dachte Adelheid, würde sie die Großmutter vermissen.
In der Schule wusste Adelheid, wie sie sich verhalten musste, damit sie keine Schläge auf die ausgestreckten Hände bekam. Es fiel ihr nicht schwer, sie war klug und anpassungsfähig. Aber wenn sie beobachtete, wie andere Kinder geschlagen und in die Ecke gestellt wurden, spürte sie ein seltsames Kribbeln im Bauch. Sie konnte nicht umhin, die wilden Buben zu bewundern, die schlampigen Mädchen und die frechen Gören. Sie war immer nur brav. Zu brav. Immer wieder schlich sich der Verdacht ein, dass sie um etwas betrogen wurde, dass es mehr im Leben gab, als Grünkohl und aufgewickelte Wolle.
Die Stadt war wie eine Kulisse, all die Leuchtreklamen, die brummenden Autos, die Bars, Theater und Galerien, eigentlich lebte Adelheid nicht dort, sie war nur zufällig am selben Ort.
Zwischen ihr und dem pulsierenden Leben stand der >schmale Mund< der Großmutter. „Das ist nichts für Mädchen“, sagte sie. „Nichts für anständige Mädchen.“
An einem Tag im Winter von Adelheids elften Lebensjahr, lächelte die Großmutter plötzlich und hielt in ihrer Strickarbeit inne.
„Komm“, sagte sie, „komm zu mir.“
Adelheid blickte erstaunt von ihrem Lesebuch auf und folgte der Aufforderung der Großmutter. Die alte Frau drückte sie zärtlich an sie, strich über das Haar und die Wange.
„Weißt du“, sagte sie leise, „ich bin schon eine so alte Frau. Aber das du gekommen bist, dass du bei mir bist, dass ist so ein großes Geschenk.“
Adelheid war halb verlegen, hab beglückt von diesem ungewohnten Gefühlsausbruch. Sie küsste die Großmutter, schmiegte sich an den weichen, warmen Körper. Es war in ihrem Leben nicht oft vorgekommen, dass sie umarmt wurde.
Börsencrash, schwarzer Freitag. Die Schlagzeilen gingen an Adelheid nicht vorbei. Man bemerkte, dass Menschen Angst hatten. Nur Adelheid hatte keine Angst. In ihr wohnte die tiefe Gewissheit, dass es die Großmutter, den Grünkohl und die aufgewickelte Wolle immer geben würde.
„Was geschieht nur mit dieser Welt“, seufzte die Großmutter. „Was geschieht nur.“
„Was geschieht denn?“ fragte Adelheid neugierig. Sie hoffte auf die Chance, etwas mehr von den Dingen zu verstehen, die in letzter Zeit Veränderungen sogar bis zu ihrem Klassenzimmer gespült hatten. Mit den Juden hatte es zu tun, mit steigender Arbeitslosigkeit.
„Wir werden dein Geld brauchen“, sagte die Großmutter. „Meine Rente ist nichts mehr wert.“
Die Socken wurden gestopft, bis sie nur noch aus Stopfgarn bestanden, jeder Pfennig zweimal umgedreht. Aber Adelheid war glücklich. Nun hatte sie nicht mehr das Gefühl, etwas zu versäumen. Sie wusste, dass es ihr besser ging, als vielen ihrer Klassenkameraden. Es gab genug zu essen, die kleine Wohnung war blank geputzt. Und wenn sie früher Spott für ihre abgetragene Kleidung geerntet hatte, kamen nun viele Kinder in zerrissenen Hosen und Holzpantoffeln zur Schule. An Sparsamkeit war Adelheid von klein an gewohnt. Und die Großmutter hatte recht gehabt, das Geld für später aufzubewahren.
Es gab nun immer öfter Hetze gegen die Juden. Offene Feindseligkeiten mehrten sich. Eine neue Bewegung etablierte sich, die Nazis zogen durch Berlin. Als Adelheid zu einer jungen Frau heran gewachsen war, fand sie Gefallen an der Jugendbewegung.
„Hitler ist ganz in Ordnung“, sagte die Großmutter. „Geh ruhig“, sagte sie, als Adelheid der Hitlerjugend beitreten wollte. Obwohl sie lange ausblieb, bekam sie den >schmalen Mund< nicht zu sehen.
Adelheid bekam den ersten Kuss von Ludwig, er wurde später Ortsgruppenleiter. Da waren sie schon verheiratet.
Sie erlebte den Krieg, die Besetzung. Sie überlebte den Krieg. Ludwig fand nach der Befreiung aufgrund seiner Nazi-Vergangenheit keine Arbeit mehr und ging ins Ausland.
Es war ein kalter Vorfrühlingstag, als Adelheid durch das zerbombte Berlin zu der alten Wohnung der Großmutter ging. Sie hatte ihre kleine Tochter an der Hand.
Das Haus stand noch. Adelheid klopfte, die Großmutter öffnete die Tür, abgemagert, gealtert, aber offensichtlich gesund.
Es roch nach Grünkohl.
„Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht“, sagte Adelheid.
Die Großmutter machte den >schmalen Mund<.
„Nun ja“, sagte Adelheid um ihre Verlegenheit zu überspielen, „den Krieg haben wir verloren, wie es aussieht.“
„Hast du der Kleinen die Haare abgeschnitten?“ sagte die Großmutter.
„Ja.“
„Wie konntest du.“
Adelheids klare Erinnerungen begannen mit der Schulzeit. Die verschwommenen Bilder von den Jahren davor hatten alle mit der Stube zu tun. Das Klappern, wenn die Großmutter Geschirr abwusch, der Geruch von Kohl aus den dampfenden Töpfen, die Wolle, die sie aufwickeln durfte. Aber der Morgen an ihrem ersten Schultag hatte sich kristallklar in ihr Gedächtnis eingegraben. Ihre Kleider, abgetragen, aber von der Großmutter liebevoll geflickt. Ihre Schuhe, die sie sich schon selbst binden konnte. Die dick mit Butter bestrichenen Brotscheiben, eingewickelt in etwas Zeitungspapier. Der lederne Schulranzen, ebenfalls abgegriffen, aber ein großer Schatz.
Sie kannte den Weg, denn die Schule war nicht weit entfernt. Vor Ungeduld trat sie von einem Fuß auf den anderen, als die Großmutter ihr die Haare kämmte und zwei Zöpfe flocht.
Sie erinnerte sich, wie sie in die blauen Augen der Großmutter blickte.
„Du bist ein braves Mädchen“, sagte sie. „Du musst fleißig lernen und alles tun, was der Herr Lehrer sagt.“
Adelheid strahlte vor Glück. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass sie jemals unartig sein würde. Die Schule war das größte Ereignis ihres kurzen Lebens.
Berlin stand in seiner kurzen, fiebrigen und durch unsichere Gelder finanzierten Blüte in den zwanziger Jahren. Adelheid hörte zu, wenn ihre Großmutter mit anderen Erwachsenen von einem fremden Mann namens >Hindenburg< sprach und zog für sich den Schluss, dass es ein sehr feiner Herr sein musste. Die jungen Frauen jedoch, die sich die Haare abschnitten und in der Öffentlichkeit rauchten, waren ganz schlimme Mädchen, so schlimm, dass die Großmutter einen schmalen Mund bekam, wenn das Thema darauf kam. Der >schmale Mund< war immer ein Warnzeichen. Adelheid tat alles, um den >schmalen Mund< zu vermeiden. Es bereitete ihr jedoch heimliches Vergnügen, wenn jemand anderer den >schmalen Mund< zu spüren bekam. Mit großen Augen betrachtete sie die schlimmen Mädchen, die ihnen am Sonntag begegneten, wenn sie Unter den Linden oder am Kurfürstendamm spazieren gingen. Insgeheim bewunderte sie die Frauen für ihr Selbstbewusstsein. Sie stammten wie aus einer anderen Welt, die mit der ihren nichts zu tun hatte.
Adelheids Mutter war an kurzer, schwerer Krankheit gestorben und damit ihrem im ersten Weltkrieg gefallenen Ehemann bald nach gefolgt. Die Großmutter bekam eine kleine Rente, mit der sie sich und ihre Enkelin durchbrachte. Außerdem hatte Adelheid eine nennenswert Summe von ihrem Vater geerbt. Großmutter sprach oft von diesem Geld und schärfte ihr ein, dass es gespart werden musste. Wer wusste, was das Leben noch bringen würde?
Adelheid saß auf der Mauer im Innenhof ihres Wohnhauses, baumelte mit den Beinen und aß einen süßen, saftigen Apfel. Der Himmel war so blau, ein ganz tiefes Blau. Adelheid stellte sich vor, sie würde hochfliegen wie die Schwalben und die Welt von oben sehen. Was es da gab, in der Welt! Ozeane, Berge, Schiffe, Eisenbahnen. Aber es war schön, wenn die Großmutter sie nach drinnen rief. Dann gab es eingebrannte Suppe und Kartoffeln mit Grünkohl. Manchmal erzählte die Großmutter auch von ihrer Kindheit und Jugend. Der Kaiser spielte eine große Rolle. Aber jetzt gab es keinen Kaiser mehr.
Wenn sie weg flog, dachte Adelheid, würde sie die Großmutter vermissen.
In der Schule wusste Adelheid, wie sie sich verhalten musste, damit sie keine Schläge auf die ausgestreckten Hände bekam. Es fiel ihr nicht schwer, sie war klug und anpassungsfähig. Aber wenn sie beobachtete, wie andere Kinder geschlagen und in die Ecke gestellt wurden, spürte sie ein seltsames Kribbeln im Bauch. Sie konnte nicht umhin, die wilden Buben zu bewundern, die schlampigen Mädchen und die frechen Gören. Sie war immer nur brav. Zu brav. Immer wieder schlich sich der Verdacht ein, dass sie um etwas betrogen wurde, dass es mehr im Leben gab, als Grünkohl und aufgewickelte Wolle.
Die Stadt war wie eine Kulisse, all die Leuchtreklamen, die brummenden Autos, die Bars, Theater und Galerien, eigentlich lebte Adelheid nicht dort, sie war nur zufällig am selben Ort.
Zwischen ihr und dem pulsierenden Leben stand der >schmale Mund< der Großmutter. „Das ist nichts für Mädchen“, sagte sie. „Nichts für anständige Mädchen.“
An einem Tag im Winter von Adelheids elften Lebensjahr, lächelte die Großmutter plötzlich und hielt in ihrer Strickarbeit inne.
„Komm“, sagte sie, „komm zu mir.“
Adelheid blickte erstaunt von ihrem Lesebuch auf und folgte der Aufforderung der Großmutter. Die alte Frau drückte sie zärtlich an sie, strich über das Haar und die Wange.
„Weißt du“, sagte sie leise, „ich bin schon eine so alte Frau. Aber das du gekommen bist, dass du bei mir bist, dass ist so ein großes Geschenk.“
Adelheid war halb verlegen, hab beglückt von diesem ungewohnten Gefühlsausbruch. Sie küsste die Großmutter, schmiegte sich an den weichen, warmen Körper. Es war in ihrem Leben nicht oft vorgekommen, dass sie umarmt wurde.
Börsencrash, schwarzer Freitag. Die Schlagzeilen gingen an Adelheid nicht vorbei. Man bemerkte, dass Menschen Angst hatten. Nur Adelheid hatte keine Angst. In ihr wohnte die tiefe Gewissheit, dass es die Großmutter, den Grünkohl und die aufgewickelte Wolle immer geben würde.
„Was geschieht nur mit dieser Welt“, seufzte die Großmutter. „Was geschieht nur.“
„Was geschieht denn?“ fragte Adelheid neugierig. Sie hoffte auf die Chance, etwas mehr von den Dingen zu verstehen, die in letzter Zeit Veränderungen sogar bis zu ihrem Klassenzimmer gespült hatten. Mit den Juden hatte es zu tun, mit steigender Arbeitslosigkeit.
„Wir werden dein Geld brauchen“, sagte die Großmutter. „Meine Rente ist nichts mehr wert.“
Die Socken wurden gestopft, bis sie nur noch aus Stopfgarn bestanden, jeder Pfennig zweimal umgedreht. Aber Adelheid war glücklich. Nun hatte sie nicht mehr das Gefühl, etwas zu versäumen. Sie wusste, dass es ihr besser ging, als vielen ihrer Klassenkameraden. Es gab genug zu essen, die kleine Wohnung war blank geputzt. Und wenn sie früher Spott für ihre abgetragene Kleidung geerntet hatte, kamen nun viele Kinder in zerrissenen Hosen und Holzpantoffeln zur Schule. An Sparsamkeit war Adelheid von klein an gewohnt. Und die Großmutter hatte recht gehabt, das Geld für später aufzubewahren.
Es gab nun immer öfter Hetze gegen die Juden. Offene Feindseligkeiten mehrten sich. Eine neue Bewegung etablierte sich, die Nazis zogen durch Berlin. Als Adelheid zu einer jungen Frau heran gewachsen war, fand sie Gefallen an der Jugendbewegung.
„Hitler ist ganz in Ordnung“, sagte die Großmutter. „Geh ruhig“, sagte sie, als Adelheid der Hitlerjugend beitreten wollte. Obwohl sie lange ausblieb, bekam sie den >schmalen Mund< nicht zu sehen.
Adelheid bekam den ersten Kuss von Ludwig, er wurde später Ortsgruppenleiter. Da waren sie schon verheiratet.
Sie erlebte den Krieg, die Besetzung. Sie überlebte den Krieg. Ludwig fand nach der Befreiung aufgrund seiner Nazi-Vergangenheit keine Arbeit mehr und ging ins Ausland.
Es war ein kalter Vorfrühlingstag, als Adelheid durch das zerbombte Berlin zu der alten Wohnung der Großmutter ging. Sie hatte ihre kleine Tochter an der Hand.
Das Haus stand noch. Adelheid klopfte, die Großmutter öffnete die Tür, abgemagert, gealtert, aber offensichtlich gesund.
Es roch nach Grünkohl.
„Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht“, sagte Adelheid.
Die Großmutter machte den >schmalen Mund<.
„Nun ja“, sagte Adelheid um ihre Verlegenheit zu überspielen, „den Krieg haben wir verloren, wie es aussieht.“
„Hast du der Kleinen die Haare abgeschnitten?“ sagte die Großmutter.
„Ja.“
„Wie konntest du.“