Bernstein

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Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
… es gibt auch Minuten, Stunden, Tage, die sich einen schwarzen Panzer übergezogen haben. Dem Blick, der rückwärts über ihre Oberfläche läuft undurchsichtig geworden. Dann aber wieder Stunden und Tage, in denen alle Bilder in einen, sagen wir – durchsichtigen Stein des Erinnerns eingeschlossen sind, so wie das tote Insekt in den Bernstein. Den Blicken unverborgen, doch in seiner ganzen, vollständig erhaltenen Gestalt bloß konserviert und lange schon über die Seufzerbrücke des Lebens gegangen. Und wollte einer sie wirklich einmal mit den Fingern ertasten, so stößt er stets nur auf Stein und rührt sie nicht an.

Einen solchen Stein hält er, der Unglücklichste, in den Händen und will ihn zerbrechen. Mit dem Hammer seines rasend gewordenen Willens, zerschlägt er den Stein und rührt mit den Fingern an das freigelegte Bild einer einzigen Stunde. In seinen Händen wird sie grau und fahl und zuletzt zerfällt sie zu Staub.

Andere Erinnerungen gibt es, die für ihn wie Scheinsonnen sind. Bleibt der Unglücklichste ihnen fern, senden sie ein wärmendes Licht, das golden und schön ist. Je näher er aber an sie herantritt, desto kälter wird ihr schneidendes Licht und zuletzt wird es kalt wie das Eis. Solche Erinnerungen bewahrt er sich und hält Abstand. Manchmal schläft er, in die Gärten der Gegenwart gestellt, in ihrem Licht ein. Und ist glücklich.
 
Zuletzt bearbeitet:

Scal

Mitglied
Hallo Patrick,
das ist ein sehr faszinierender Text!

Meine Fragen: Bedarf es am Ende des ersten Absatzes noch der Worte "und rührt sie nicht an" ?
2. Absatz: Wäre Präsens eine Alternative? In seinen Händen wird sie grau und fahl und zerfällt zu Staub.
Komma weg vor "zerschlägt".

Inwieweit der Text in einen Zusammenhang mit Depression oder depressiver Gestimmtheit gebracht werden kann, entscheidet schließlich der einzelne Leser; jedenfalls finde ich ihn beeindruckend.

LG
Scal
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
hey ho scal

Meine Fragen: Bedarf es am Ende des ersten Absatzes noch der Worte "und rührt sie nicht an" ?
ja, rhythmisch auf jeden fall. inhaltlich nicht.


. Absatz: Wäre Präsens eine Alternative? In seinen Händen wird sie grau und fahl und zerfällt zu Staub.
Komma weg vor "zerschlägt".
stimmt, das ändere ich!

vielen dank, ich mag den text und hatte schon befürchtet er ginge komplett unter, was ich irgendwie schade gefunden hätte.

lg
patrick
 
G

Gelöschtes Mitglied 22614

Gast
Ist wohl eher Lyrik als Prosa. Aber wie las ich unlängst - du lotest die Grenzen aus zwischen Poesie und Prosa?

Wenn es Prosa ist, dann fragt man sich was davor war oder danach passiert. Wenn es Lyrik ist, dann ist es so wie es ist.
Und die Schnittmenge davon ist was?

Gern gelesen!

LG
atira
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
alsooo ... ich würde schon sagen, dass es sich hier ziemlich eindeutig um prosa handelt, als lyrik könnte ich es nicht durchgehen lassen. klar, das stimmt schon - es ist recht poetische prosa, aber das macht sie ja noch nicht zur lyrik. ;)

lg
patrick
 
G

Gelöschtes Mitglied 22614

Gast
Und warum, könnte sie nicht als Lyrik durchgehen? Weil die Zeilenumbrüche an unverhofften Stellen fehlen? ;)
Und für Prosa ist es zu abstrakt, oder? Wo ist die Geschichte?
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
muss prosa denn geschichten erzählen? ich würde den text als poetische sentenz bezeichnen, und die erzählt nie geschichten, auch wenn sie manchmal, wie hier, durchaus erzählerischen charakter besitzt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 22614

Gast
Erzählen?, nein, eigentlich nicht. Oder? Prosa besteht mehr oder weniger aus ganzen Sätze und das ist hier erfüllt. ;)

Ich schätze aber, es wäre als Lyrik auch durchgegangen mit den entsprechenden Zeilenumbrüchen. Wie ein Langgedicht.

LG
atira
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
echt? hmmm ... ne, ich beharre darauf, dass es für lyrik zu prosaisch ist. aber ... ist ja auch egal :p hauptsache der text bietet etwas, ob er dann lyrik oder prosa ist, ist für mich eher zweitrangig ;)
 



 
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