Besuch am Rhein

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Scal

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Jemand setzt sich ans Flussufer, weil im Augenwinkel dieses rotlackierte Schiff heranfließt. Rote Farben können Locksignale sein.

Er sieht dem Schiff zu, sieht seine Spiegelung im Wasser und einen Moment lang ist ihm, als erschaute er im Geglitzer ein ganz und gar freundlich lächelndes, erzählfreudiges Monster.
Er weidet sich daran und blickt dem gleitenden Schiff nach, bis sich dessen letzte Wellenschläge am Ufer kräuseln.


Rote Farben - dieser Beginn hat mich aufmerksam werden lassen, darum las ich. Eine wirklich schöne, geistreich fließende, feinsinnig humorvolle Kurzerzählung. Bei geöffnetem Mund kann hellroter Lippenstift wie Lack sein, der anderswo ein nickendes Lächeln öffnet.

Freundlichen Gruß
Scal
 

Ixolotl

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Hm - von einem Fluss steht doch erst ganz am Ende etwas, liebe(r) Scal. Und dass die beiden zu dem ja erst kommen müssten.

Der Autor ist davon ausgegangen, es sei allgemein bekannt, dass Mädchen zum Schminken in den Spiegel (hier wohl ein Taschenspiegel) gucken. Vielleicht sitzen die Beiden ja auch in einem Auto, und sie guckt in den Innenspiegel?

Für ausgeschlossen halte ich Wasserspiegelungen, die Du enteckt haben möchtest, liebe(r) Scal. Weder erkennen wir ein herumschwimmendes Schiff, noch entdecken wir ein Monster - auch wenn der Erzähler behauptet, er sei eines. Vielleicht hält er sich nur dafür; ob er recht damit hat, können wir ebensowenig wissen wie das Mädchen. Aber gerade das macht ja den Reiz aus, in der Poesie.

Rot steht zwar auch symbolisch für die Liebe, ist aber eher eine Warnfarbe, wie ja im ersten Satz deutlich gemacht wird. Könnte es vielleicht sein, dass ein rot geschminkter Frauenmund nicht bloß verführen will, sondern warnt? Hier steht doch recht deutlich: "Er verschließt, statt zu öffnen, weist den Gemeinen ab und will, dass nur Privilegierte das Siegel brechen".

Freundlich lächelnde Monster gibt's nicht. Die wollen Dir immer Böses.

lg

Ixo
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo,

ja, gefällt mir. Weiß aber noch nicht, was ich von diesem Satz halte, wie ich ihn verstehen soll oder möchte: "Er schleppt alles mit sich, was du einmal bei dir trugst."

Er, der Fluss, klar. Dann muss das Zeug doch da hineingeraten sein, was "... du einmal bei dir trugst."
Und welches Du ist gemeint? Das geschminkte Mädchen? Oder gar ich, der Leser? Als dieser versichere ich: Ich habe nichts in den Fluss geworfen, nicht mal mich selber.

Also, eine verrätselte Metapher nach etlichen relativ klaren, ja fast trivialen Bildern. Billige Bedeutungshuberei oder gekonnt hingeworfene Mehrdeutigkeit? Am Ende wird doch wieder die Prinzessin angesprochen, also ist sie das "Du"? Die Erläuterungen zur Rasur vorher richtet sich doch kaum an diese - oder doch? Nein, ist wohl eher innerer Monolog. Falls man den Begriff für solche Kurzstrecke anwenden kann.

Keine Ahnung. Vielleicht hat der Autor an der Stelle auch keine, will es offen lassen, wer weiß. Und vielleicht ist gerade das gut so. Brauche eben nicht zu wissen, wieso und was da alles den Bach hinunter geht - bzw. den Fluss hinunter schwimmt.

MfG Binsenbrecher
 

Ixolotl

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Lieber Binsenbrecher,

vielen Dank für Deine freundliche Zuschrift.

Das
Du wirst dich in ihm erkennen, wie er sich durch die Stadt wälzt. Er schleppt alles mit sich, was du einmal bei dir trugst.
wäre ganz einfach zu verstehen, wenn man weiß, dass sich jeder Ausguss, jeder Lokus und jeder Straßengully über kurz oder lang, mit oder ohne zwischengeschaltete Kläranlage, in den nächsten Fluss ergießt. Insgesamt enthalten unsere Flüsse (und nicht nur die, die durch die Städte laufen) inzwischen rund 20 000 Stoffe und Verbindungen, die eigentlich gar nichts darin verloren haben - von Östrogenen, Badeöl, Streusalz über Radionuklide, Laugen und Säuren, Chlorierte Kohlenwasserstoffe, Föten, Exkremente, Insektenvernichtungsmittel, Mikroplastik und Rasierwasser bis hin zum aufgelösten Papierbrei eines "Zauberbergs".

Ich finde, es schadet nichts, wenn man ("man") auch das auf dem Schirm hat, wenn man so schön glattrasiert mit seinem sorgfältig geschminkten Liebling am Ufer lustwandelt. "Man" ist ja kein Monster. Oder doch?

lg

Ixo
 
Hallo lxo,
das Lustige ist (für mich), dass ich genau das gedacht habe: Er wird doch wohl nicht die Abwasser-Entsorgung*) gemeint haben, nein sowas Triviales dann wohl eher nicht. Aber nun: doch!

Amüsiert:
Binsenbrecher

*) Entsorgung - ein Begriff, der es in sich hat. Weggekippt und fort sind die Sorgen ...
 

Ixolotl

Mitglied
Mit dem Abwasser ist es wie mit einer Mülltonne, lieber Binsenbrecher: Du kannst, wenn Du möchtest, alles darin finden, womit sich die Menschheit schon einmal befasst hat. Auch Albert Einstein saß täglich auf im Scheißhaus, hat sich den Hintern mit vollgekritzeltem Schmierpapier abgewischt und dann an der Kette gezogen - fertig! Du kannst heute im Abwasser sogar messen, wie hoch die Corona-Inzidenz einer Stadt ist.

Das Wort "Entsorgung" höre ich nicht so gerne. Das ist "Neusprech" und nichts als Euphemismus; es verschwindet ja nichts, sondern wird nur irgendwo anders hingeschmissen. Zum Besipiel und am liebsten ins Wasser. Hauptsache, der Verursacher sieht's und riecht's nicht mehr. Das ist nicht "trivial", sondern eins der größten Probleme der "modernen" Menschheit. Der Dreck ist allgegenwärtig - auch dann, wenn man mit einer Schönen am Fluss entlangspaziert. Bewusstsein hat auch etwas mit "sich bewusst sein" zu tun.

Es wird heutzutage immer gern ausgeblendet, wenn es anfängt, unbequem zu werden. Da zieht man einfach an der Kette oder drückt aufs Knöpfchen - schon ist's weg. Das lyrische Ich hier hat wohl vergessen, zu spülen. Sein Pech, nicht wahr?

lg

Ixo
 
Zuletzt bearbeitet:

Scal

Mitglied
Der, der mit dem Wort "Jemand" anhebt, ist der Autor des Kommentars (Scal), und er erzählt, kurz dem Reiz der Poesie verfallen, bis zum Worte "kräuseln" hin, mit einigen kleinen und fragmentarisch skizzierten Bildchen, seiner Erlebnisimpressionen im Hin-blick auf das "Schiff des fließenden Textes".

Nachdem sich der Reiz der Poesie "verkräuselte," begann er mit den Worten "Rote Farben" auf übliche Weise zu berichten.
Verstehe mittlerweile, dass das nicht so ohne Weiteres ersichtlich ist.
 

Ixolotl

Mitglied
Vielleicht solltest Du ein eigenes Stück darüber schreiben, lieber Scal, warum man geschminkt und glattrasiert neben dem Fluss einhergehen soll, der den Schmutz einer ganzen Stadt mitschleppt? Vielleicht findest Du dabei Typen, die über den Fluss blicken können, ohne sich zu verstellen?

Aber das wäre eine andere Geschichte. Nicht meine.

lg

Ixo
 

Scal

Mitglied
Werter Leselupen-Kollege Ixo!

Ein schönes Beispiel für: Soll ich lachen oder weinen (nun ja, es handelt sich um Literatur) über meine Unfähigkeit, die Intention eines Textes so zu erfassen wie sie der Autor in sich bewegte und mit bildhaften Erzählschritten vollzog?

Was regt sich nun in mir? Klar, ein monologisierendes Rechtfertigungsbedürfnis:

Ich kenne den Rhein nicht, ich kenne die Donau, die ich öfter schon an heißen Sommertagen, neben vielen anderen Wasserbegierigen, freudig beschwamm.

Die (weil von mir so „aufgelesene“) Einladung an die – letztlich doch – „PRINZESSIN,“ mitzukommen, um den Fluss zu sehen, hat meine Phantasie (die Phantasie als Gefährdungselement) donaublau eingefärbt.
Und der Fluss wurde zusätzlich noch zu einem Sinnbild für all das, was sich halt so ansammelt im Laufe der Jahre im gemeinsamen Leben: Lippenstift, Geschäftigkeit, „du Monster!“, eitles Gegenstromkräuseln und die Farbe Rot.
Aber man weiß darum und eilt trotzdem immer wieder auch gerne gemeinsam ans Ufer, um ihn zu sehen, den Fluss, die Haut seiner schönen Oberfläche (darum hat man sich ja verliebt).

Mein lieber Schwan … so also macht ein der Lyrik näher stehender Leselupist aus einer zeitgenössischen Oper eine Operette! Und bewirkt durch seine Irrungen Verwirrrungen. Die Lehre kann nur sein: Er (ich) sollte lernen, den Rhein reiner zu sehen!

Es grüßt
Scal
 

Ixolotl

Mitglied
Für jemand, der den Rhein noch nie gesehen hat und die Donau kindlich noch als blau in Erinnerung hat, trittst Du recht selbstbewusst auf, lieber Scal.

Das ist gut so, denn dadurch festigt sich im Autor die Überzeugung, es sei durchaus angebracht, hinter so manche Dinge zu gucken. Hinter die Fassaden, also auch hinter den blauen Himmelsspiegel, unter dem Donau und Rhein ihre Schmutzfluten verstecken. Natürlich kann man, auch ohne sich um ihr Innenleben zu kümmern, mit einem Mädchen oder einem Jungen schlafen, und man kann sich dabei, ohne über Bord zu blicken, den Fluss hinuntertreiben lassen.

Aber wenn man etwas anderes sein will als ein Tier (im Text hieß es:
ein Monster möchte glatt in den Morgen hineinschwimmen),
dann sollte man sich schon die Mühe machen, wenigstens kurz zu erkennen, was hinten herauskommt, wenn man vorn etwas hineinsteckt.

Diese Prämisse hat noch keinen moralischen Anspruch, also nichts mit dem üblichen Öko-Wehgeschrei zu tun, sondern folgt nur der Neugier. Ob letztere wirklich einen positiven Wesenszug darstellt oder ob es besser ist, dumpf und gleichgültig neben dem Strom der Zeit zu eilen, weiß niemand so genau. Ohne Neugier gäbe es keinen Goldenen Schnitt, aber auch die Atombombe nicht. Jetzt haben wir beides, aber glücklich sind wir damit nicht geworden.

Am besten, lieber Scal, lachst und weinst Du nicht, am Ende des Textes, sondern schaust nochmal genauer nach, wer und was da eigentlich unterwegs ist. Angeblich, so steht es jedenfalls in der Überschrift, soll der Text "erotisch" sein. Die roten Lippen des Mädchens, das glatte Gesicht des Unholds und der Spiegel des Flusses: Nichts als Fassade?

Hm - vielleicht sollte ich eine kleine Fortsetzung anhängen?

lg

Ixo
 

Scal

Mitglied
Also keine Oper sondern ein literarischer Tatort-Krimi zum Thema Missbrauch ?
Ich reibe mir staunend die donaublauen Augen ...
Oder sehe ich schlecht?
 

Ixolotl

Mitglied
Lieber Scal,

mit den üblichen Versatzstücken und den üblichen Sprüchen kommst Du jetzt nicht mehr recht weiter - wir sind hier ja nicht bei RTL oder in einem Wiener Beisel, und es geht geht - eigentlich doch recht klar erkennbar - weder um Kriminologisches oder um Kindesmissbrauch, sondern wir stehen gemeinsam am Flussufer und rätseln über das Woher und Wohin.

Vielleicht wird Dir die "Sache" klarer, wenn Du Dir in der Folge das da zu Gemüte führst:

"Das Vergraben von Müll oder dessen Verbrennung sind nur Verdrängungen. Einem System, dem nichts verloren geht und in dem auch die allerkleinste Sünde ihr Äquivalent im Fegefeuer oder in ewiger Verdammnis findet, ist es egal, ob die Ausscheidungen einer Gesellschaft nur sortiert und aufbewahrt oder ob sie transformiert werden. Sie würden gewiss auch von allein sublimieren: Entropie, die Umstände nur Beiwerk, Kosmetik, Euphemismus.

Ich lass mich nicht blenden von den Fassaden der Stadt, dem polierten Stahl und den verspiegelten Scheiben. Ich sehe den Fluss, der durch die Mitte geht, sehe, was man ihm anvertraut oder verschweigt, erkenne an der Differenz zwischen dem Vorher und dem Danach dich und deine Gefühle.

„Wie schön, nicht allein sein zu müssen!“, sag ich zu ihr, als wir in den staubigen Hafenstraßen nach der Wirklichkeit suchen: Scherbengebirge; Braunglas, Grünglas, Weißglas; blecherne Deckel, Plastikflaschen, zersplittertes Holz; Geruch wie in einer Abdeckerei. Ich seh die hellen Augenwinkel des Mädchens und sag ihm, dass der Tod gleichwertig sei mit der Geburt. Dass er nur jene schrecken könnte, die nie wirklich zur Welt kamen. „Es gibt unterschiedlich schöne Formen des Scheiterns“, sag ich, während ich mit der Nikon festhalte, wie aus dem fernen Grau des Unschlitts Farben und Formen treten, je näher wir kommen. Das Mädchen bleibt stumm, aber es lächelt, als ich rufe: „Ist es nicht herrlich? Und wir: mittendrin!“

Wie auf Bestellung donnert ein riesiger Caterpillar durch die Einfahrt und wirft sich mit aller Gewalt in die Haufen, zermalmt sie, nimmt neuen Anlauf, wütet gegen die Halden, ein sich aufbäumendes Tier, das mit weit aufgerissenem Maul einem übermächtigen Gegner droht, sein Diesel ein grollender Schrei. Jagdfiebrig verfolge ich es, erst vom grünen zum weißen Glas, dann zu den staubenden Holzresten. Wie bedauerlich, nicht wirklich fotografieren zu können, dass dieses Tier einem Menschen folgt, der es mit nur ein paar Fingern und einem Fußpedal wie nebenbei lenkt.

Ich gebe dem Vieh ein Zeichen, und es hält inne. Die Zelle öffnet sich, dahinter ein kleines, struppiges Gesicht, gebrochenes Deutsch. Ich steck ihm einen Zehner zu, und es will wissen, wofür. „Ablass“, sag ich. „Es ist für den Ablass.“ Es grinst und bedankt sich, aber ich bin froh, dass es mich nicht verstanden hat.

Ihre Augen sind wieder offenes Blau."


Was anfangs nur sanft skizziert war (Kurzprosa), ist jetzt deutlicher und vor allem viel lauter, aber immer noch Kurzprosa und folglich so komprimiert, dass man ein bisschen Zeit zum Lesen braucht: Kein Tatort-Krimi, keine Klischees. Vielleicht liest es sich deshalb schwieriger?

lg

Ixo
 

Scal

Mitglied
Er steht, ich sitze.
Ich befinde mich bei meinem geduldigen Augenarzt und er fragt mich, nachdem er sorgenvoll und stirnrunzelnd angedeutet hatte, dass er Anzeichen von Blauem Star bemerke, was ich denn jetzt sähe. Eine Texttafel ist es, die er vor dem Okular platziert hat. Ich lese, ich kann den Text entziffern, aber ich beantworte nicht seine Frage, sondern sage mit erstauntem Aufblick: „Herr Doktor, von wem ist dieser Text?!“ „Gelegentlich schreibe ich, das spielt aber jetzt keine Rolle, es geht vor allem darum, wie es mit ihren Lesefähigkeiten steht!“
Ich ignoriere seine Bemerkung, wir kennen uns zwar erst seit kurzer Zeit, aber mir ist nicht entgangen, dass ihm eine Neigung zum Pädagogisieren anhaftet, wer weiß, wie viele Jahre er auf Universitäten verbracht hat. Ich sage also: „Herr Doktor, hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie über ein außerordentliches schriftstellerisches Erzähltalent verfügen?“ „Lieber Herr Scal, Sie sind hier, weil Sie sich erhoffen, Ihre Sehfähigkeit zu verbessern. Und ich bin dazu da, diesem Wunsch zur Realität zu verhelfen. Blicken Sie bitte auf die Tafel und erzählen Sie mir, was Ihnen sichtbar geworden ist!“
„Ein Fluss mit Treibgut, Herr Doktor,“ sage ich. „Beschreiben Sie das Treibgut.“ Ich, mit prosaischen Texten nur sehr wenig vertraut, da es die lyrischen Seelenorte sind, die ich seit jeher gerne besuche, äußere mich stockend, zeilenbruchartig. Ich spreche:

„Routiniert Geschäftsmäßiges
eitle, kindergesichtige Gewohnheiten
gedankenlos gepinselte Lackspuren
zunehmen und zunehmendes zu sich nehmen
Stoffwechselprobleme“

Eine Atempause. Dann weiter:

„Stoffwechselanthropologie
Geomatik
Diesel ein grollender Schrei
Verantwortungsethik
Wir mittendrin mit Nikon,
eine der schönen Formen des Scheiterns“

Ich halte inne und frage: „Genügt das für heute, Herr Doktor?“ Er nickt nur, aber ich weiß nicht so recht, was er denkt. Da er, wie bereits erwähnt, sehr geduldig ist, erzähle ich ihm noch einiges von meinem Leben in den Siebzigerjahren: wie es war, als ich mit einem Freund eine Landgemeinschaft gründete - gemeinsamer Besitz, gemeinsames Geld, ein Opel Kadett für drei Familien und weitere sechs Leute, biodynamischer Gartenbau, Handbrotmühle, zwei Monate ohne Butter, Einspruch bei der Gemeinde wegen Asphaltierungsvorhaben …und erwähne schließlich noch, dass ich gleichzeitig den ersten Alternativladen, ein Kollektivbesitz, in der Stadt führte.
„Den Einkaufssack mit dem Aufdruck „Jute statt Plastik“ besitze ich immer noch, erzähle ich ihm beim Verlassen des Behandlungsraumes.
„Hat die Welt nicht verändert. Ich sehe Rot“, meint er und setzt hinzu: „Kommen Sie nächste Woche wieder, dann erfahren Sie die genauere Diagnose.“

Es grüßt
Scal
 

Ixolotl

Mitglied
Wie schon vorher einmal gesagt, lieber Scal - was Du hier versuchst, mitzuteilen, steht in keinerlei Zusammenhang zu dem, was ich ziemlich klar zum Ausdruck gebracht habe.

Ich glaube nicht, dass es Sinn machte, wenn du hier weiter "antwortest" - in meinem Text geht's weder um Deine etwaige Fehlsichtigkeit noch um banale private Attituden, und schon gar nicht um "Treibgut", sonder um etwas ganz anderes. Wenn Du das bisher noch nicht erkannt hast, wirst Du es wohl nie erkennen.

Aber das macht nichts. Ein Autor darf nie den Ehrgeiz haben, immer und von jedem so verstanden zu werden, wie er's gern hätte. Das wäre zu viel verlangt.

lg

Ixo
 
Na wunderbar! Hier wird doch ordentlich was erzählt bzw. weggedichtet, dass es nur so seine Art hat. Passt doch prima zu einer "Leselupe".

Es werden eben nicht nur materielle Dinge "entsorgt", sondern anscheinend auch immaterielle Gegenstände wie Worte, Gedanken, Begriffe - vielleicht sogar ganze Erzählungen?. Das Wörtchen "entsorgen" kam übrigens (meiner Erinnerung nach) im Zusammenhang mit den damals neuen Atom-Mülllplätzen auf, die ein begabter Sprachkünstler in falschen Diensten "Entsorgungspark" nannte.

Im Übrigen: Es gibt zwei grundverschiedene Strategien des Saubermachens: Breitschmieren oder wegputzen. Da man aber nicht wirklich was weg kriegt, sondern nur woanders hin, läuft alles letzten Endes auf die erste hinaus.

MfG
Binsenbrecher
 

Scal

Mitglied
Bitte entschuldige, Ixo, wenn ich hier doch noch eine kurze Bemerkung anfüge. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine kleine Prise Humor - freundlich und vielleicht verschmitzt freundlich gemeint - auch in einem Literaturforum möglich ist, sein könnte.
Deinen letzten Satz unterschreibe ich gerne.

Mein erstes und bislang einziges Enkelkindchen - er hat zu laufen begonnen – ist zu Besuch; mit seinem Vater, meinem Sohn. Und meine Tochter ist auch mitgekommen. Ins Gartenbeet habe ich Karottensamen gestreut, jetzt ist es hier endlich wieder möglich, im Garten zu arbeiten. Höhenlage achthundert Meter, da zieht der Frühling später ein.
Für weitere längere Ausflüge ins prosaische Threatgebiet fehlt es mir im Moment ohnehin an Durchhaltekraft, auch wenn sich dort reizvolle und lehrreiche Gespräche mit bemerkenswerten Erzählkünstlern führen lassen.
Da ich ohne TV, Facebook, WhatsApp und Twitter, ergeben sich manchmal Zeiträumchen, die ich dann hobbymäßig, mit dem Notizbüchlein am Schoß, lyristisch auszufüllen versuche; ich erlaube mir an dieser Stelle, unbescheiden, einen Reisetipp zu meinem Textlein „Moment, gelegentlich“.

Freundlich grüßt
Scal
 

Ixolotl

Mitglied
Dass es hier nicht um den "Müll" als solchen geht (das ist eine Wertung) und - für mich jedenfalls - eine "Entsorgung" nichts ist als billiger Euphemismus, habe ich bereits geschrieben, lieber Binsenbrecher. Letzteres Wort stammt übrigens von dir und hat nichts mit dem hier vorgestellten Text, auch nichts mit seiner nachträglichen Erweiterung, zu tun.

Wenn man die Texte nicht nur überfliegt, sondern sorgfältig liest, könnte man erkennen, dass der Protagonist sich nicht nur an dem Mädchen, sondern auch an den Umständen erbaut, in denen er sich mit ihm befindet. Im zweiten Teil zahlt er sogar Eintritt. Die Ausschwitzungen moderner Gesellschaften bieten mitunter großartige Sichten - man muss nur wissen, wo. Googlen kann man das nicht, und erfinden auch nicht. Man sollte schon mitten drin stehen, oder drin gestanden sein, wenn man über sie schreiben will. Sonst wird's nichts.

lg

Ixo
 
Hallo Ixo,

ich hoffe sehr, dass ich nicht den falschen Eindruck erweckt habe, hier einen Text als "Müll" bewerten zu wollen. Im Gegenteil, ich bleibe bei meiner ersten Eischätzung einer gewissen Ambivalenz und Mehrdeutigkeit, die mir recht gut gefällt; der erste, kürzere besser als die "Nachlieferung" an Scal. Und bei der angenehmen Überraschung, ein von Dir dann bestätigtes Detail so erkannt zu haben, wie es gemeint war, auch wenn ich dem anfangs nicht trauen wollte ...

MfG
Binsenbrecher
 

Ixolotl

Mitglied
Ich bin mir ziemlich sicher, lieber Binsenbrecher, dass Du immer noch auf dem Schlauch stehst. Hier geht's doch gar nicht um "Müll", und schon gar nicht um die immer wieder bemühten "Mehrdeutigkeiten", mit denen nur die ankommen müssen, die unscharf sehen.

Hier tänzelt kein Eloy mit seinem Mädchen den sonnenbeschienen Boulevard entlang und blickt auf die Morlocks herunter, sondern sucht nach dem Stoffwechsel der Stadt, der unter dem Pflaster tobt und sich, wie immer, in den Fluss ergießt, der sich durch die Metropole zwängt. Der Protagonist erhebt sich nicht über den Schmutz, sondern besingt ihn. Ob das Mädchen, das ihn begleitet, auch so denkt, wissen wir nicht. Es singt zwar nicht mit, aber es läuft ihm ihm nicht weg.

Es sind Stücke, die nicht gemacht sind, um zu gefallen. Eigentlich sind sie gar nicht "gemacht" - es sind ja nur die Abbildungen, die jeder sehen könnte, wenn er die Augen unter Wasser nicht zudrückte, sondern offen ließe. So wie die Babies, die man mit ins Warmbad nimmt. Später verlernen sie es wieder. Pass auf - aller guten Dinge sind drei:

Im Frankfurter Liebieghaus werden die „phantastischen Köpfe“ des Franz Xaver Messerschmidt ausgestellt. Das Liebieghaus liegt am Schaumainkai.

"Schaumainkai": Wem fällt wohl eine solche Wortschöpfung ein? Gesprochen klingt sie dem Fremden wie eine Aufforderung, gelesen wird sie erst einmal, dann noch einmal falsch, und erst beim dritten Mal begreift man, dass es um eine Uferseite geht, Sprache des Magistrats, die sich in aller Welt gleicht, wenn es gilt, Dinge zu benennen, die so öd und so simpel sind wie der Rand eines von Amts wegen begradigten Flusses.

Andreas Gursky ist schuld daran, dass ich hierher wollte. Der Widerwille gegen seine hoch über das Gewusel einer Zwergenwelt abgehobenen Standpunkte, gegen die seelenlose Riesenkunst eines Riesenkünstlers klang mir nach bis an den Main, wurde erst ausgelöscht vom nächtlichen Flüstern meiner Geliebten und jetzt vom Geräusch des Flusses, der sich den vor Anker liegenden Ausflugsschiffen entgegenstemmt.

Franz Xaver Messerschmidt gab seinen "phantastischen Köpfen" keine Eigennamen. Er hat sie als die bezeichnet, die sie darstellten: einen kräftigen Mann, einen mit Verstopfung Behafteten, einen Gähnenden, einen Satirikus. Von seinen insgesamt 64 Werken sind 19 erhalten geblieben und ausgestellt, Gegenstücke zu Gurskys unmenschlichen Fototapeten: statt Menschenmasse eine Masse Mensch.

Ich frage den Aufseher, ob ich den Kopf knipsen darf, ihre Kinderhand auf der Steinglatze der Einfalt im höchsten Grade, aber es heißt streng, bei Sonderausstellungen sei Fotografieren grundsätzlich verboten. Das macht uns die bronzenen, bleiernen und marmornen Gesichtszüge doppelt wertvoll, und wir bleiben lange, aber nicht todernst wie die anderen Besucher.

Mich wundert, dass außer uns keine Kinder da sind. Wahrscheinlich sind sie alle in London, New York oder in Düsseldorf, Gursky-Fotos guckend.

Das Liebieghaus ist ein massiver Jugendstilschnörkel, das Café in seinem Innern die übliche Lieblosigkeit kommunaler Einrichtungen; auf der sonnigen Terrasse sind alle Tischchen besetzt. Ich nehme sie an die Hand und geh mit ihr hinunter zum Main: zwischen dunklen Platanenkronen die glitzernde Skyline der Geldspeicher, auf der anderen Seite des Ufers über die Stadthäuser hinauswachsend. "Es ist alles so blank in dieser Stadt", sag ich. „Lass uns zum Hafen hinunter und den Schmutz suchen, bevor wir Schwimmen gehen. Im Hafen ist Leben!“


Lg

Ixo
 
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