Arno Abendschön
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Nachher schrieb Bodo einen Brief an seinen Freund Winfried in Nürnberg. Darin hieß es:
… Nun war ja mein Bruder neulich hier, Ferdinand, der Halbbruder, den Du nicht kennst. Mechthild war mit den Kindern in Düren geblieben, glücklicherweise. Auch nach zehn Jahren verdecken ihr Lächeln, ihr Plaudern die Irritation nur schlecht, die meine bloße Gegenwart bei ihr auslöst. Und aus Kleinkindern mache ich mir auch nicht viel …
Ferdinand gab sich wie immer, ganz der kluge ältere Bruder, recht neugierig, ein wenig gönnerhaft und von großer Gelassenheit. Am letzten Abend gingen wir ins Schauspielhaus. Er wollte Yerma von Garcia Lorca sehen, weiß der Himmel warum. Gerade er leidet doch wohl nicht an Impotentia generandi. Die Aufführung war eindrucksvoll, Zadek hatte selbst inszeniert.
In einem Lokal in der Nähe redeten wir nachher über das Stück und die Darbietung. Ein Jugoslawe hat die Rolle des Juan, und mich hatte es gestört, dass er seinem serbokroatischen Akzent freien Lauf ließ in einem Stück, das in Spanien spielt. Ferdinand sagte, Juan sei ihm von Akt zu Akt sympathischer geworden.
„Tatsächlich, diese negative Figur?“
„Ja, er ist noch schlimmer dran als sie. Ihr fehlen die Kinder, aber er weiß von Anfang an, dass keine kommen werden. Sie kann warten und hoffen und allmählich aggressiver werden – er muss schweigen, stillhalten.“
Er trank einen Schluck. Als er das Glas absetzte, glitt sein Blick schräg von oben nach unten über die junge Kellnerin, die an uns vorbeiging.
„Mach mir ein Kind – das ist alles, was sie ihm zu sagen hat. Vielleicht kannst du es nicht verstehen, aber jeder Mann, der Kinder gezeugt hat, wird zugleich mit diesem Juan attackiert.“
Wir saßen sehr lange in dieser Bier- und Weinstube und tranken. Ich bestellte nur Bier, Ferdinand, der mehr verträgt, genehmigte sich auch den einen oder anderen Schnaps. Wir schwatzten stundenlang, frönten unserer Lust an Gedankensprüngen und gewaltsamen Vergleichen. Bei solchen Biertischgesprächen tritt bei uns die Familienähnlichkeit klar zutage.
Wir saßen dort an einem der großen Fenster, sie sind wahre Schaufenster. Der Blick geht auf den massigen Hauptbahnhof, der wie die Dome des Mittelalters nie fertig wird. So entstehen gerade neue plexiglasüberkuppelte Portale und Seitenkapellen.
Es war Freitagnacht und hatte bis in den Abend stark geregnet. Eine vergnügungssüchtige Masse schob sich über die Gehwege vor den Restaurants und Kinos, wich Pfützen aus und wurde von den Lichtern der Autos und Leuchtreklamen geblendet, deren Widerschein hundertfach auf dem nassen Asphalt aufblinkte. Zeitweise schwiegen wir und hefteten unsere Blicke an einzelne Passanten, bis sie unserer Sichtweite entschwanden.
Nach Mitternacht nahm der Betrieb deutlich ab. Es trieben jetzt nur noch kleine Gruppen an unserem Aussichtspunkt vorbei und zwischen ihnen schlüpften manche Einzelgänger durch. Ferdinand sagte, wir befänden uns gleichsam in einer verglasten Kuppel auf dem Meeresgrund und sähen die Schwärme vorüberziehen.
„Fehlen nur noch die Seeschlangen und andere Meeresungeheuer“, versetzte ich.
Da nahm draußen das Schimmern und Blenden auf einmal zu. Ferdinand reckte den Hals. Ich sah, dass er einen Ledermann im Visier hatte. „Hier hast du schon einen geschuppten und gepanzerten Riesenfisch“, sagte er.
„Das ist Mr. Hauptbahnhof.“
„Kennst du ihn?“
„Nur vom Sehen.“ Ich hätte ihm allerlei erzählen können, Klatsch, der mich erreicht hatte, aber das fiel mir nicht ein. Ferdinand war vorurteilsfrei und das sollte er auch bleiben. Die Wendung, die unser Gespräch nahm, gefiel mir nicht.
„Wo mag er hingehen?“
„In eine Bar in der Nähe. Ein Laden für Lederfetischisten.“
Wie weit es dahin sei? - „Fünf Minuten.“
Er wollte es sehen. „Sitten und Gebräuche fremder Völker haben mich schon immer interessiert.“
„Also gut, folgen wir ihm, dem smarten Psychagogen.“
Unser Aufbruch verzögerte sich etwas. Als wir bezahlt hatten und draußen standen, war es drei Uhr morgens. Wir hatten das Zeitgefühl schon seit längerem verloren. Es war eigentlich zu spät, einem neugierigen Touristen das Lokal zu zeigen. Falsche Eindrücke wird er gewinnen, sagte ich mir, Mechthild wird er zu Hause mit Schauergeschichten versorgen. Denn das stand für mich schon fest: Dass es reiner Wissensdurst war, das ihn jetzt in den abseitigen Keller drängte. So war er immer schon gewesen. In unserer Jugend hatte er ein kleines Labor im Tiefparterre gehabt und gern mit Chemikalien experimentiert. Wenn es richtig gezischt und gestunken hatte, kam er befriedigt herauf. Er wusste es nun genau, ihm konnte man nichts vormachen.
Wir bogen in den Steindamm ein. Schon ziemlich verödet, doch weiter strahlend hell lagen die Tempel des stationären erotischen Gewerbes. Ferdinand, der zum ersten Mal in dieser Gegend war, lachte: „Und zwischen all den Peepshows noch ein richtiger Schlachter!“
Ich sagte, der Steindamm sei die Straße der geheimen Nebenbedeutungen, wo sich das Alltägliche leicht ins Anzügliche verwandle und umgekehrt ebenso. So wie es Fleisch und Fleisch zu kaufen gebe, so würden auch die unterschiedlichsten Hilfsmittel angeboten, Reizwäsche, Dildos und Machoklamotten auf der linken Seite und gegenüber Schuhe für orthopädische Einlagen.
Das ambulante erotische Gewerbe war nur noch durch wenige Damen vertreten. Eine ging so weit, uns anzusprechen, erst Ferdinand, dann mich. „Ein anderes Mal“, sagte mein Bruder, ich schüttelte stumm den Kopf. Wir kamen an geschlossenen Kinos und Restaurants vorbei. Offen waren noch einige türkische Imbissstuben. Den Ledermann sahen wir nicht.
Du, lieber Winfried, kennst ja die ziemlich dunkle Seitenstraße, in die ich meinen Bruder dann führte. Ich sagte ihm, hier würden die ausgefalleneren Bedürfnisse befriedigt. „Da ziehen sich echte Männer vor Damen aus, die nur dafür schon zahlen. Gleich daneben räkeln und spreizen sich falsche Damen in üppigen Roben vor gelangweilten Ehepaaren. Beides ziemlich teuer … Aber da drüben ist es.“
Also die kleine Treppe zum Eingang hoch, den langen Gang ins Hausinnere und die Treppe hinunter. Albert, der im Keller an der Kasse saß, riss die Augen auf.
„Das ist mein großer Bruder, mit ihm war ich im Theater. Schade, dass ihr für solche Fälle keinen Kostümverleih habt.“ Mein eigenes Outfit war der Bar angepasst, als hätte ich den Abstecher von vornherein geplant.
Ich weiß nicht, wo Ferdinand mehr auffiel, im Theater oder jetzt hier. Schon im Schauspielhaus war er durch seine elegante und unter all den Pullovern und Lederjacken provinzlerisch wirkende Abendgarderobe fehl am Platz gewesen. In der Bar stach er zwar farblich nicht ab und doch hätte der Kontrast nicht größer sein können: mein Bruder in feinem, weichem Tuch, satt und gepflegt – um ihn herum Männer in harten Schalen und mit hungrigen Gesichtern. Statt selbst unauffällig beobachten zu können, stand Ferdinand daher eine Zeitlang im Kreuzfeuer der Blicke. Er ist übrigens ein recht attraktiver Mann.
Ich schlug vor, gleich vorn an der Bar Platz zu nehmen. Mein Bruder fand das naheliegend; er wusste nicht, dass ich gewöhnlich nicht dort sitze, sondern stundenlang in den verschiedenen Räumen auf und ab gehe und meist nur kurze Zeit an einem Punkt stehenbleibe. Er sollte keine falschen Eindrücke bekommen, aber allzu realistisch sollten sie auch nicht sein. Ich wollte ihn nicht überfordern.
Es war schon relativ leer. Der gesellige Teil der Nacht war vorüber, jetzt begann das Suchen. Die gesellschaftliche Schminke aus Wohlerzogenheit und Wohlverhalten platzte ab. Die Gesichter darunter zeigten die wahren Interessen, das heftige Begehren, die krasse Ablehnung. Weiter hinten musste man mit Handgreiflichem rechnen. Verdammt, wir hätten so spät nicht hierherkommen sollen! Ferdinand schien zum Glück noch nicht bemerkt zu haben, dass wir uns nur in einem Vorraum befanden, Vorhimmel oder Vorhölle, das kam darauf an … Sein bürgerlich-feierlicher Anzug schützte ihn vor Annäherungen, die ihm gewiss unerwünscht gewesen wären. Im Umkreis der Fetischisten war die korrekte Abendkleidung tatsächlich sein Schutzanzug. Ohne mich hätte Albert ihn gar nicht hereingelassen.
Bald kam Fredi herein, den ich gut kenne. Ich stellte meinen Bruder vor: „Er hat Frau und Kinder im Rheinland gelassen, um uns hier ungestört belauern zu können. Vielleicht schreibt er noch einen Aufsatz und wir kommen in eine Fachzeitschrift.“
Fredi nahm den Hocker neben Ferdinand. Er war vor Jahren aus Köln gekommen und froh, mit einem Landsmann ein rheinisches Palaver beginnen zu können. Sie redeten über Kölner und Aachener Affären, über Museen und Stiftungen. Mir war es recht, ich hörte bloß zu.
Ein neuer Gast traf ein, begrüßte mich und blieb bei uns stehen. Es war ein Maskenbildner, der in meiner Nähe wohnt. Auch ihn machte ich mit meinem Bruder bekannt und sagte, das sei ein Doppelgänger von Andy Warhol. Der Maskenbilder lächelte zugleich verlegen und geschmeichelt. Trotz seines abweichenden Äußeren – Blazer, dunkle Sonnenbrille und auffallend hellblondes, doch schon gelichtetes Haar – gehört auch er zu den Stammgästen. Ich fragte ihn, ob er seinen Prozess inzwischen gewonnen habe, und erfuhr, er habe eine Abfindung vom Theater erhalten. Bald ging er weiter, um die hinteren Räume zu inspizieren.
Wieder kam einer herunter, ich kannte ihn noch nicht. Er nahm am anderen Ende des langen Tresens Platz, wir hatten ihn gut im Blick. Ich werde Dich jetzt nicht mit einer Beschreibung seiner Vorzüge langweilen – sie entstehen oft erst im Geist des Betrachters. Wir nehmen bestimmte, eher banale Eigenschaften wahr (oder suggerieren uns ihr Vorhandensein) und legen ihnen dann eine für uns erfreuliche Bedeutung bei. Davon kann man dem, der nicht so empfindet, so wenig eine wirkliche Vorstellung vermitteln wie ihn die Angst oder das intensive Glück nachfühlen lassen, die wir in einem nächtlichen Traum erlebt haben.
Meine Begeisterung schien aufzufallen. Ich hatte sogar meinen Bruder vergessen. Fredi unterbrach ihr Gespräch: „Er scheint dich ja sehr zu interessieren.“
„Wer ist er?“
„Gabriel, er tritt im Männerstrip gegenüber auf. Er kommt gerade von der letzten Show.“
„Gabriel“, wiederholte mein Bruder, „schön und streng sieht er aus, wie der Erzengel persönlich. Gabriel, gebenedeit bist du unter den Weibern!“
„Nicht so laut. Er trennt den Beruf strikt vom Privatleben“, setzte Ferdi uns ins Bild. „Sein Geld verdient er bei Frauen, Entspannung sucht er anderswo.“
Ferdinand lachte. „Gut gesagt, klare Verhältnisse.“
„Aber du“, wandte sich Fredi wieder an mich, „mach du dir keine Illusionen. Wenn du mit ihm ins Bett willst, musst du dir vorher einen Fummel anziehen. Er schläft nur mit Transvestiten.“
„Aber warum kommt er dann ausgerechnet hierher?“ Ich war überrascht und enttäuscht.
„Keine Ahnung. Vielleicht will er nur in Ruhe was trinken, bevor er allein schlafen geht.“
Unsere neugierigen Blicke und das angeregte Gespräch, das sich nur auf ihn beziehen konnte, beunruhigten Gabriel sichtlich. Er stützte die Ellbogen auf, beugte sich vor und vermied es, zu uns herüberzublicken. Er trank hastig. Das Glas noch nicht ganz leer, wollte er schon zahlen. Mit einem, wie mir schien, ziemlich großen Geldschein in der Rechten versuchte er, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Er wedelte dabei mit stolzer Gebärde.
„Seht euch das an, wie ein Grandseigneur“, höhnte Fredi.
Verstärktes Wedeln. Irgendetwas schien zu pressieren. Waren wir wirklich so lästig? Wir sollten es gleich erfahren. Peter nahm ihm endlich die Banknote aus der Rechten – und Gabriel wischte sich rasch mit dem linken Handrücken den Rotz von der Nase, einen mächtigen Tropfen; Sekunden später wäre er heruntergefallen.
„Scheint sich beim Strippen erkältet zu haben", witzelte Fredi, der sich mit seinen Boshaftigkeiten vielleicht für erlittene Schmach zu rächen versuchte.
„Immerhin verraten die gemessenen Bewegungen den Künstler,“ ergänzte Ferdinand, „nämlich den Artisten, der seinen Körper beherrscht und alle Gesten gezielt einsetzt. Zuerst Wedeln, dann Wischen – und nicht etwa umgekehrt oder beides zugleich.“ Ich staunte, mein Bruder traf den hier manchmal üblichen Ton ja schon gut.
Wir feixten noch – Gabriel war schon verschwunden -, als Andy Warhols Doppelgänger aus dem Hintergrund zurückkam. Er schlug vor, gemeinsam eine Taxe nach Hause zu nehmen. Weiteres Bleiben lohne sich nicht mehr. Ich sagte sofort ja, ohne meinen Bruder nach seiner Meinung zu fragen. So verabschiedeten wir uns von Fredi und gingen zu dritt hinauf und ins Freie.
Auf der Straße war gerade kein freies Taxi zu sehen. Wir gingen zum Steindamm. An der Ecke bot sich ein seltsames Bild. Ein älterer Mann war gestürzt oder zusammengebrochen, ein jüngerer half ihm beim Aufstehen. Der Ältere war nur noch ein Wrack, der Jüngere hübsch und in schwarzem Leder, sehr schmuck anzusehen. Er stützte den Alten und sprach zu ihm.
Ich wunderte mich: „Ich habe ihn noch nie gesehen. Wo kommt er her?“
Der Maskenbildner kannte ihn: „Er ist ein Drogenhändler.“ Das kam so beiläufig heraus, als könnte man mit Kokain ebenso gut handeln wie mit Bananen. Er hatte auch schon mit ihm geschlafen. „Es war in einer Clique. Da war er ganz kühl und unbeteiligt und nur auf sich bezogen.“
Ich glaube, ich war nicht weniger verdutzt als mein Bruder. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte solche Einblicke nicht bekommen. Wir schwiegen dann und fuhren bald in einer Taxe aus dem verschachtelten Viertel heraus.
„Sag mal, Bodo, wo war eigentlich der Ledermann, der uns den Steindamm hinaufgelockt hat?“ Ich zuckte nur die Achseln. Mein Bruder musste nicht wissen, dass wir ihn wahrscheinlich in einem der hinteren Räume entdeckt hätten.
Der Maskenbildner döste vor sich hin. Noch einmal brach Ferdinand unser Schweigen „Tja, das war also ein Abend bei den Perversen … Nichts für ungut, ihr beiden … Sie sind wirklich anders, aber sie sind es auf noch andere Art, als ich gedacht hätte. Vertrackte Geschichte. Muss ich mal drüber nachdenken …“
Ja, dachte ich, philosophiere du nur in deinem Suff. Ein paar zufällige Brocken hast du da aufgeschnappt. Was wirklich gespielt wird, bleibt dir verborgen, wie hinter einem Vorhang, der nicht aufgezogen wird.
Wir fuhren jetzt über die Alster. Du, Winfried, kennst das von Deinen Besuchen hier: Der Morgen dämmert herauf. Das Licht durchdringt allmählich die tiefhängende Wolkendecke. Zögernd breitet es sich über der stillen, grauen Wasserfläche aus. Weißt Du, was das Schönste dabei ist: noch nicht zu wissen, was der Tag bringen wird ...
… Nun war ja mein Bruder neulich hier, Ferdinand, der Halbbruder, den Du nicht kennst. Mechthild war mit den Kindern in Düren geblieben, glücklicherweise. Auch nach zehn Jahren verdecken ihr Lächeln, ihr Plaudern die Irritation nur schlecht, die meine bloße Gegenwart bei ihr auslöst. Und aus Kleinkindern mache ich mir auch nicht viel …
Ferdinand gab sich wie immer, ganz der kluge ältere Bruder, recht neugierig, ein wenig gönnerhaft und von großer Gelassenheit. Am letzten Abend gingen wir ins Schauspielhaus. Er wollte Yerma von Garcia Lorca sehen, weiß der Himmel warum. Gerade er leidet doch wohl nicht an Impotentia generandi. Die Aufführung war eindrucksvoll, Zadek hatte selbst inszeniert.
In einem Lokal in der Nähe redeten wir nachher über das Stück und die Darbietung. Ein Jugoslawe hat die Rolle des Juan, und mich hatte es gestört, dass er seinem serbokroatischen Akzent freien Lauf ließ in einem Stück, das in Spanien spielt. Ferdinand sagte, Juan sei ihm von Akt zu Akt sympathischer geworden.
„Tatsächlich, diese negative Figur?“
„Ja, er ist noch schlimmer dran als sie. Ihr fehlen die Kinder, aber er weiß von Anfang an, dass keine kommen werden. Sie kann warten und hoffen und allmählich aggressiver werden – er muss schweigen, stillhalten.“
Er trank einen Schluck. Als er das Glas absetzte, glitt sein Blick schräg von oben nach unten über die junge Kellnerin, die an uns vorbeiging.
„Mach mir ein Kind – das ist alles, was sie ihm zu sagen hat. Vielleicht kannst du es nicht verstehen, aber jeder Mann, der Kinder gezeugt hat, wird zugleich mit diesem Juan attackiert.“
Wir saßen sehr lange in dieser Bier- und Weinstube und tranken. Ich bestellte nur Bier, Ferdinand, der mehr verträgt, genehmigte sich auch den einen oder anderen Schnaps. Wir schwatzten stundenlang, frönten unserer Lust an Gedankensprüngen und gewaltsamen Vergleichen. Bei solchen Biertischgesprächen tritt bei uns die Familienähnlichkeit klar zutage.
Wir saßen dort an einem der großen Fenster, sie sind wahre Schaufenster. Der Blick geht auf den massigen Hauptbahnhof, der wie die Dome des Mittelalters nie fertig wird. So entstehen gerade neue plexiglasüberkuppelte Portale und Seitenkapellen.
Es war Freitagnacht und hatte bis in den Abend stark geregnet. Eine vergnügungssüchtige Masse schob sich über die Gehwege vor den Restaurants und Kinos, wich Pfützen aus und wurde von den Lichtern der Autos und Leuchtreklamen geblendet, deren Widerschein hundertfach auf dem nassen Asphalt aufblinkte. Zeitweise schwiegen wir und hefteten unsere Blicke an einzelne Passanten, bis sie unserer Sichtweite entschwanden.
Nach Mitternacht nahm der Betrieb deutlich ab. Es trieben jetzt nur noch kleine Gruppen an unserem Aussichtspunkt vorbei und zwischen ihnen schlüpften manche Einzelgänger durch. Ferdinand sagte, wir befänden uns gleichsam in einer verglasten Kuppel auf dem Meeresgrund und sähen die Schwärme vorüberziehen.
„Fehlen nur noch die Seeschlangen und andere Meeresungeheuer“, versetzte ich.
Da nahm draußen das Schimmern und Blenden auf einmal zu. Ferdinand reckte den Hals. Ich sah, dass er einen Ledermann im Visier hatte. „Hier hast du schon einen geschuppten und gepanzerten Riesenfisch“, sagte er.
„Das ist Mr. Hauptbahnhof.“
„Kennst du ihn?“
„Nur vom Sehen.“ Ich hätte ihm allerlei erzählen können, Klatsch, der mich erreicht hatte, aber das fiel mir nicht ein. Ferdinand war vorurteilsfrei und das sollte er auch bleiben. Die Wendung, die unser Gespräch nahm, gefiel mir nicht.
„Wo mag er hingehen?“
„In eine Bar in der Nähe. Ein Laden für Lederfetischisten.“
Wie weit es dahin sei? - „Fünf Minuten.“
Er wollte es sehen. „Sitten und Gebräuche fremder Völker haben mich schon immer interessiert.“
„Also gut, folgen wir ihm, dem smarten Psychagogen.“
Unser Aufbruch verzögerte sich etwas. Als wir bezahlt hatten und draußen standen, war es drei Uhr morgens. Wir hatten das Zeitgefühl schon seit längerem verloren. Es war eigentlich zu spät, einem neugierigen Touristen das Lokal zu zeigen. Falsche Eindrücke wird er gewinnen, sagte ich mir, Mechthild wird er zu Hause mit Schauergeschichten versorgen. Denn das stand für mich schon fest: Dass es reiner Wissensdurst war, das ihn jetzt in den abseitigen Keller drängte. So war er immer schon gewesen. In unserer Jugend hatte er ein kleines Labor im Tiefparterre gehabt und gern mit Chemikalien experimentiert. Wenn es richtig gezischt und gestunken hatte, kam er befriedigt herauf. Er wusste es nun genau, ihm konnte man nichts vormachen.
Wir bogen in den Steindamm ein. Schon ziemlich verödet, doch weiter strahlend hell lagen die Tempel des stationären erotischen Gewerbes. Ferdinand, der zum ersten Mal in dieser Gegend war, lachte: „Und zwischen all den Peepshows noch ein richtiger Schlachter!“
Ich sagte, der Steindamm sei die Straße der geheimen Nebenbedeutungen, wo sich das Alltägliche leicht ins Anzügliche verwandle und umgekehrt ebenso. So wie es Fleisch und Fleisch zu kaufen gebe, so würden auch die unterschiedlichsten Hilfsmittel angeboten, Reizwäsche, Dildos und Machoklamotten auf der linken Seite und gegenüber Schuhe für orthopädische Einlagen.
Das ambulante erotische Gewerbe war nur noch durch wenige Damen vertreten. Eine ging so weit, uns anzusprechen, erst Ferdinand, dann mich. „Ein anderes Mal“, sagte mein Bruder, ich schüttelte stumm den Kopf. Wir kamen an geschlossenen Kinos und Restaurants vorbei. Offen waren noch einige türkische Imbissstuben. Den Ledermann sahen wir nicht.
Du, lieber Winfried, kennst ja die ziemlich dunkle Seitenstraße, in die ich meinen Bruder dann führte. Ich sagte ihm, hier würden die ausgefalleneren Bedürfnisse befriedigt. „Da ziehen sich echte Männer vor Damen aus, die nur dafür schon zahlen. Gleich daneben räkeln und spreizen sich falsche Damen in üppigen Roben vor gelangweilten Ehepaaren. Beides ziemlich teuer … Aber da drüben ist es.“
Also die kleine Treppe zum Eingang hoch, den langen Gang ins Hausinnere und die Treppe hinunter. Albert, der im Keller an der Kasse saß, riss die Augen auf.
„Das ist mein großer Bruder, mit ihm war ich im Theater. Schade, dass ihr für solche Fälle keinen Kostümverleih habt.“ Mein eigenes Outfit war der Bar angepasst, als hätte ich den Abstecher von vornherein geplant.
Ich weiß nicht, wo Ferdinand mehr auffiel, im Theater oder jetzt hier. Schon im Schauspielhaus war er durch seine elegante und unter all den Pullovern und Lederjacken provinzlerisch wirkende Abendgarderobe fehl am Platz gewesen. In der Bar stach er zwar farblich nicht ab und doch hätte der Kontrast nicht größer sein können: mein Bruder in feinem, weichem Tuch, satt und gepflegt – um ihn herum Männer in harten Schalen und mit hungrigen Gesichtern. Statt selbst unauffällig beobachten zu können, stand Ferdinand daher eine Zeitlang im Kreuzfeuer der Blicke. Er ist übrigens ein recht attraktiver Mann.
Ich schlug vor, gleich vorn an der Bar Platz zu nehmen. Mein Bruder fand das naheliegend; er wusste nicht, dass ich gewöhnlich nicht dort sitze, sondern stundenlang in den verschiedenen Räumen auf und ab gehe und meist nur kurze Zeit an einem Punkt stehenbleibe. Er sollte keine falschen Eindrücke bekommen, aber allzu realistisch sollten sie auch nicht sein. Ich wollte ihn nicht überfordern.
Es war schon relativ leer. Der gesellige Teil der Nacht war vorüber, jetzt begann das Suchen. Die gesellschaftliche Schminke aus Wohlerzogenheit und Wohlverhalten platzte ab. Die Gesichter darunter zeigten die wahren Interessen, das heftige Begehren, die krasse Ablehnung. Weiter hinten musste man mit Handgreiflichem rechnen. Verdammt, wir hätten so spät nicht hierherkommen sollen! Ferdinand schien zum Glück noch nicht bemerkt zu haben, dass wir uns nur in einem Vorraum befanden, Vorhimmel oder Vorhölle, das kam darauf an … Sein bürgerlich-feierlicher Anzug schützte ihn vor Annäherungen, die ihm gewiss unerwünscht gewesen wären. Im Umkreis der Fetischisten war die korrekte Abendkleidung tatsächlich sein Schutzanzug. Ohne mich hätte Albert ihn gar nicht hereingelassen.
Bald kam Fredi herein, den ich gut kenne. Ich stellte meinen Bruder vor: „Er hat Frau und Kinder im Rheinland gelassen, um uns hier ungestört belauern zu können. Vielleicht schreibt er noch einen Aufsatz und wir kommen in eine Fachzeitschrift.“
Fredi nahm den Hocker neben Ferdinand. Er war vor Jahren aus Köln gekommen und froh, mit einem Landsmann ein rheinisches Palaver beginnen zu können. Sie redeten über Kölner und Aachener Affären, über Museen und Stiftungen. Mir war es recht, ich hörte bloß zu.
Ein neuer Gast traf ein, begrüßte mich und blieb bei uns stehen. Es war ein Maskenbildner, der in meiner Nähe wohnt. Auch ihn machte ich mit meinem Bruder bekannt und sagte, das sei ein Doppelgänger von Andy Warhol. Der Maskenbilder lächelte zugleich verlegen und geschmeichelt. Trotz seines abweichenden Äußeren – Blazer, dunkle Sonnenbrille und auffallend hellblondes, doch schon gelichtetes Haar – gehört auch er zu den Stammgästen. Ich fragte ihn, ob er seinen Prozess inzwischen gewonnen habe, und erfuhr, er habe eine Abfindung vom Theater erhalten. Bald ging er weiter, um die hinteren Räume zu inspizieren.
Wieder kam einer herunter, ich kannte ihn noch nicht. Er nahm am anderen Ende des langen Tresens Platz, wir hatten ihn gut im Blick. Ich werde Dich jetzt nicht mit einer Beschreibung seiner Vorzüge langweilen – sie entstehen oft erst im Geist des Betrachters. Wir nehmen bestimmte, eher banale Eigenschaften wahr (oder suggerieren uns ihr Vorhandensein) und legen ihnen dann eine für uns erfreuliche Bedeutung bei. Davon kann man dem, der nicht so empfindet, so wenig eine wirkliche Vorstellung vermitteln wie ihn die Angst oder das intensive Glück nachfühlen lassen, die wir in einem nächtlichen Traum erlebt haben.
Meine Begeisterung schien aufzufallen. Ich hatte sogar meinen Bruder vergessen. Fredi unterbrach ihr Gespräch: „Er scheint dich ja sehr zu interessieren.“
„Wer ist er?“
„Gabriel, er tritt im Männerstrip gegenüber auf. Er kommt gerade von der letzten Show.“
„Gabriel“, wiederholte mein Bruder, „schön und streng sieht er aus, wie der Erzengel persönlich. Gabriel, gebenedeit bist du unter den Weibern!“
„Nicht so laut. Er trennt den Beruf strikt vom Privatleben“, setzte Ferdi uns ins Bild. „Sein Geld verdient er bei Frauen, Entspannung sucht er anderswo.“
Ferdinand lachte. „Gut gesagt, klare Verhältnisse.“
„Aber du“, wandte sich Fredi wieder an mich, „mach du dir keine Illusionen. Wenn du mit ihm ins Bett willst, musst du dir vorher einen Fummel anziehen. Er schläft nur mit Transvestiten.“
„Aber warum kommt er dann ausgerechnet hierher?“ Ich war überrascht und enttäuscht.
„Keine Ahnung. Vielleicht will er nur in Ruhe was trinken, bevor er allein schlafen geht.“
Unsere neugierigen Blicke und das angeregte Gespräch, das sich nur auf ihn beziehen konnte, beunruhigten Gabriel sichtlich. Er stützte die Ellbogen auf, beugte sich vor und vermied es, zu uns herüberzublicken. Er trank hastig. Das Glas noch nicht ganz leer, wollte er schon zahlen. Mit einem, wie mir schien, ziemlich großen Geldschein in der Rechten versuchte er, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Er wedelte dabei mit stolzer Gebärde.
„Seht euch das an, wie ein Grandseigneur“, höhnte Fredi.
Verstärktes Wedeln. Irgendetwas schien zu pressieren. Waren wir wirklich so lästig? Wir sollten es gleich erfahren. Peter nahm ihm endlich die Banknote aus der Rechten – und Gabriel wischte sich rasch mit dem linken Handrücken den Rotz von der Nase, einen mächtigen Tropfen; Sekunden später wäre er heruntergefallen.
„Scheint sich beim Strippen erkältet zu haben", witzelte Fredi, der sich mit seinen Boshaftigkeiten vielleicht für erlittene Schmach zu rächen versuchte.
„Immerhin verraten die gemessenen Bewegungen den Künstler,“ ergänzte Ferdinand, „nämlich den Artisten, der seinen Körper beherrscht und alle Gesten gezielt einsetzt. Zuerst Wedeln, dann Wischen – und nicht etwa umgekehrt oder beides zugleich.“ Ich staunte, mein Bruder traf den hier manchmal üblichen Ton ja schon gut.
Wir feixten noch – Gabriel war schon verschwunden -, als Andy Warhols Doppelgänger aus dem Hintergrund zurückkam. Er schlug vor, gemeinsam eine Taxe nach Hause zu nehmen. Weiteres Bleiben lohne sich nicht mehr. Ich sagte sofort ja, ohne meinen Bruder nach seiner Meinung zu fragen. So verabschiedeten wir uns von Fredi und gingen zu dritt hinauf und ins Freie.
Auf der Straße war gerade kein freies Taxi zu sehen. Wir gingen zum Steindamm. An der Ecke bot sich ein seltsames Bild. Ein älterer Mann war gestürzt oder zusammengebrochen, ein jüngerer half ihm beim Aufstehen. Der Ältere war nur noch ein Wrack, der Jüngere hübsch und in schwarzem Leder, sehr schmuck anzusehen. Er stützte den Alten und sprach zu ihm.
Ich wunderte mich: „Ich habe ihn noch nie gesehen. Wo kommt er her?“
Der Maskenbildner kannte ihn: „Er ist ein Drogenhändler.“ Das kam so beiläufig heraus, als könnte man mit Kokain ebenso gut handeln wie mit Bananen. Er hatte auch schon mit ihm geschlafen. „Es war in einer Clique. Da war er ganz kühl und unbeteiligt und nur auf sich bezogen.“
Ich glaube, ich war nicht weniger verdutzt als mein Bruder. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte solche Einblicke nicht bekommen. Wir schwiegen dann und fuhren bald in einer Taxe aus dem verschachtelten Viertel heraus.
„Sag mal, Bodo, wo war eigentlich der Ledermann, der uns den Steindamm hinaufgelockt hat?“ Ich zuckte nur die Achseln. Mein Bruder musste nicht wissen, dass wir ihn wahrscheinlich in einem der hinteren Räume entdeckt hätten.
Der Maskenbildner döste vor sich hin. Noch einmal brach Ferdinand unser Schweigen „Tja, das war also ein Abend bei den Perversen … Nichts für ungut, ihr beiden … Sie sind wirklich anders, aber sie sind es auf noch andere Art, als ich gedacht hätte. Vertrackte Geschichte. Muss ich mal drüber nachdenken …“
Ja, dachte ich, philosophiere du nur in deinem Suff. Ein paar zufällige Brocken hast du da aufgeschnappt. Was wirklich gespielt wird, bleibt dir verborgen, wie hinter einem Vorhang, der nicht aufgezogen wird.
Wir fuhren jetzt über die Alster. Du, Winfried, kennst das von Deinen Besuchen hier: Der Morgen dämmert herauf. Das Licht durchdringt allmählich die tiefhängende Wolkendecke. Zögernd breitet es sich über der stillen, grauen Wasserfläche aus. Weißt Du, was das Schönste dabei ist: noch nicht zu wissen, was der Tag bringen wird ...
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