Betriebsprüfung

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Amadis

Mitglied
Hallo,
ich bin neu hier und erst gestern auf diese Website gestoßen. Da ich seit vielen Jahren SF und Fantasy lese, habe ich auch schon vor einiger Zeit angefangen, selbst ein wenig zu schreiben. Nachstehend eine meiner Kurzgeschichten in der Hoffnung, dass sie euch gefällt.

Amadis

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„Es ist haarsträubend!“, schimpfte der Mann im dunklen Anzug. Er trug einen Homburg auf dem Kopf. Seine rechte Hand hielt einen Stockschirm, ebenfalls von dunkler Farbe, mit dem er jetzt drohend in der Luft herumfuchtelte. In der linken Hand trug er einen flachen, schwarzen Aktenkoffer aus Leder. „Skandalös! Wann unternimmt in dieser Stadt endlich jemand etwas gegen diese Parkrowdies?“

Mit wütender Drohgebärde umrundete er das halb auf dem Bürgersteig stehende Auto, dessen Heck auf die Straße ragte. Der Wagen nahm keine Notiz von dem Mann, der schon seit einigen Tagen diese Schimpftirade von sich gab – genau genommen, seit der Wagen hier – mit den Vorderrädern auf dem Bürgersteig, mit den hinteren Rädern auf der Straße – abgestellt war.

Der Mann ging noch einen Block weiter und betrat dann durch eine gläserne Drehtür eine in braunem Marmor gehaltene Empfangshalle. Die Uhr in der Halle zeigte eine Minute vor neun Uhr. Er nahm den Homburg vom Kopf, grüßte in Richtung der Portiersloge und betrat den Aufzug um wie an jedem Tag in sein Büro im zwölften Stock des Gebäudes zu fahren. Die wenigen Sekunden nutzte er, um über die Ärmel seines dunklen Jacketts zu streifen, eventuell vorhandenen Staub zu entfernen.

Ein leiser Gong signalisierte ihm die Ankunft im gewünschten Stockwerk. Die Aufzugtüren glitten beinahe lautlos beiseite und er verließ die Kabine. Auf der braunen Tür seines Büros stand in erhabener, goldfarbener Schrift „Erhard Klausitz“ und darunter „Vizepräsident Finanzen“. Wiederum darunter „Susanne Kleist“ und „Sekretariat“.

Erhard Klausitz – Vizepräsident Finanzen – öffnete die Tür und betrat das Vorzimmer.
„Guten Morgen, Frau Kleist“, grüßte er, wie er es immer tat seit fünfundzwanzig Jahren – nein, eigentlich erst seit fünf Jahren, denn vor fünf Jahren war seine langjährige Sekretärin Hannelore Rohrbach in den Ruhestand gegangen. Klausitz hängte den Homburg und seinen Stockschirm an den Kleiderständer und durchquerte das Vorzimmer, um in sein Büro zu gelangen, nicht ohne Frau Kleist anzuweisen „Einen Kaffee und die Post bitte, Frau Kleist!“.

Von seinem Büro aus hatte Herr Klausitz einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt. Allerdings hatte er dafür keine Augen, denn es lagen noch einige wichtige Akten auf seinem Tisch. In der nächsten Woche wartete eine Steuerprüfung auf ihn und er würde natürlich wie immer vorzüglich vorbereitet sein.

Herr Klausitz vertiefte sich in seine Arbeit, blätterte in Akten, machte sich Notizen und sprach einiges in sein Diktiergerät.

Um genau dreizehn Uhr erhob sich Herr Klausitz von seinem Stuhl, streckte sich, wie er es immer tat und verließ sein Büro.
„Ich gehe kurz nach draußen, Frau Kleist“, teilte er seiner Sekretärin mit. „In einer halben Stunde bin ich wieder zurück.“ Er nahm Hut und Schirm vom Kleiderständer und ging hinaus.

Der Aufzug war gerade da und so musste Herr Klausitz nicht lange warten. Er fuhr nach unten, durchquerte die Eingangshalle, rief ein markiges „Mahlzeit“ in Richtung der Portiersloge und gelangte durch die gläserne Drehtür ins Freie.

Er wandte sich nach rechts – wie er es in jeder Mittagspause zu tun pflegte – und betrat den kleinen Zeitungs- und Tabakladen an der Ecke.
„Mahlzeit, Herr Carstens!“, grüßte er den Inhaber. Herr Klausitz war Stammkunde. In jeder Mittagspause kaufte er eine Zeitung – meist die „Financial Times“ – und eine Zigarre, die er vorerst in die Brusttasche seines Jacketts steckte. Er legte den gleichen Betrag wie immer auf den Tresen und verließ mit einem „Wiederschauen, Herr Carstens!“ den Laden.

Draußen wandte er sich wiederum nach rechts und steuerte auf eine Bank in dem kleinen Park zu, auf der er jeden Tag während seiner Mittagspause zehn Minuten zu sitzen pflegte. Den Mann, der auf der Bank saß, grüßte er mit einem Kopfnicken und nahm Platz.

Er nahm seine Zigarre aus der Brusttasche und suchte eine Weile in der Innentasche seines Jacketts nach dem Zigarrenabschneider. Als er ihn gefunden hatte, schnitt er fein säuberlich das Ende der Zigarre ab, steckte den Abschneider wieder ein und zündete die Zigarre an.

Genüsslich paffend schaute er sich um. Es war ein sonniger Frühlingstag, überall begannen Bäume und Büsche zu blühen. Insekten wagten sich hervor und belebten die Luft, während sie ihrem Tagwerk nachgingen. Herr Klausitz schloss die Augen und genoss die wärmenden Strahlen der Aprilsonne, während er weiter an seiner Zigarre saugte und dann und wann eine Wolke weißen Rauches ausstieß.

Exakt um dreizehn Uhr zwanzig löschte Herr Klausitz seine Zigarre, wickelte den Rest in ein Papiertaschentuch und steckte ihn wieder in die Brusttasche seines Jacketts. Dann erhob er sich von der Bank, verabschiedete sich von seinem schweigsamen Nachbarn mit einem erneuten Kopfnicken und trat den Rückweg an. Um dreizehn Uhr achtundzwanzig stand er wieder vor der gläsernen Drehtür und wollte gerade das Gebäude betreten, als er angerufen wurde. Der Ruf durchschnitt die Stille wie ein Messer und Herr Klausitz erschrak regelrecht, schaute sich irritiert um.
„Hallo, Sie!!“ Es war die Stimme einer jungen Frau, die jetzt über die Straße lief, die zahlreichen Fahrzeuge nicht beachtend, lachend und winkend auf ihn zukam. Schnaufend und immer noch lachend blieb sie vor ihm stehen.

„Und ich habe schon gedacht, ich wäre die einzige“, prustete sie überschwänglich. Sie war Anfang zwanzig, blond mit langem, etwas strähnig wirkenden Haar. Ihre Kleidung bestand aus einem dieser knappen T-Shirts, die die jungen Dinger heute trugen, und einer engen Jeanshose. Herr Klausitz sah die junge Frau irritiert an.
„Was wünschen Sie, junge Dame?“, erkundigte er sich steif.
„Was ich wünsche? Na Sie sind gut! Sie sind seit vier Tagen der erste lebende Mensch, den ich sehe und da fragen Sie, was ich wünsche!“

„Sie müssen wahnsinnig sein“, konstatierte Klausitz und schaute auf die Uhr. Er würde zu spät kommen – zum ersten Mal in fünfundzwanzig Jahren und alles nur wegen dieser Verrückten. „Ich habe keine Zeit für Ihren Unsinn, ich muss in mein Büro. Bitte gehen Sie mir aus dem Weg!“ Er versuchte, sich an der Frau vorbei zur Drehtür zu drängen. Diese aber verstellte ihm erneut den Weg.

„Ich glaube eher, dass Sie nicht mehr ganz richtig ticken, Alterchen! Wir beide scheinen immun gegen die Seuche zu sein. Wenn es zwei von uns gibt, dann gibt es bestimmt auch mehr! Wir müssen versuchen, mehr Überlebende zu finden!“

„Sind Sie eine von diesen Weltuntergangsfanatikerinnen?“, erkundigte sich Klausitz und machte Anstalten, seinen Stockschirm gegen die Widerspenstige einzusetzen. „Erzählen Sie Ihren Unfug einem anderen. Ich habe zu tun und jetzt keine Zeit für derartigen Unsinn.“

Die junge Frau schien ratlos, versuchte aber immer noch, Klausitz vom Betreten des Gebäudes abzuhalten.
„Schauen Sie sich doch um, Mann!“, rief sie verzweifelt. „Sehen Sie außer uns noch irgendeinen, der am Leben ist?“ Sie deutete auf die Straße.
„Junge Frau, irgendwann ist der Spaß zuende. Wenn Sie mich nicht augenblicklich passieren lassen, werde ich den Wachdienst unserer Bank herbeirufen!“

Die Frau lachte verächtlich und resigniert.
„Sicher, Alterchen, rufen Sie nur Ihren Wachdienst. Sie werden sehen, wie viele da kommen!“ Fast ein wenig mitleidig und mit Tränen in den Augen schaute sie Klausitz an. Dann trat sie beiseite und ging in Richtung Park davon.

Klausitz schüttelte noch einmal den Kopf und betrat dann durch die gläserne Drehtür die kühlen Marmorhallen der Bank. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er bereits drei Minuten zu spät war. Der Gruß in Richtung der Portiersloge fiel knapp und hastig aus. Zum Glück war der Aufzug bereits da und Klausitz musste nur einsteigen.

Ungeduldig wartete er, bis der Aufzug endlich den zwölften Stock erreichte, strich dabei fast automatisch nicht vorhandenen Staub von den Ärmeln seines Jacketts. Es war bereits dreizehn Uhr vierunddreißig, als Herr Klausitz das Vorzimmer betrat.

„Es tut mir leid, Frau Kleist“, entschuldigte er sich. „aber ich wurde von einer offenbar wahnsinnigen jungen Frau aufgehalten. Waren irgendwelche Anrufe?“

Natürlich antwortete Frau Kleist nicht, denn sie war vor fast einer Woche schon in ihrer Wohnung gestorben – an der gleichen Seuche, die auch den Portier der Bank und die Männer vom Wachdienst dahingerafft hatte. An der gleichen Seuche, die mehr als neunundneunzig Prozent der Menschheit innerhalb nur einer Woche getötet hatte.

Herr Klausitz setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und schlug eine der Akten auf. Dann hielt er kurz inne und drückte den Knopf der Gegensprechanlage.
„Würden Sie mir noch einen Kaffee bringen, Frau Kleist? Vielen Dank!“

Dann vertiefte er sich wieder in seine Akten. Er musste sich ranhalten, um für die Steuerprüfung gewappnet zu sein.

Um achtzehn Uhr würde Herr Klausitz wie an jedem Tag seit fünfundzwanzig Jahren zu Fuß durch die Stadt nach hause gehen. Zu seiner Frau, die vor sechs Tagen gestorben war und nun in ihrem Bett in dem kleinen Haus von Herrn Klausitz lag, zu seinem Hund, der gestern ebenfalls gestorben war, weil ihn niemand mehr gefüttert hatte.

Am nächsten Morgen würde Herr Klausitz wieder durch die Stadt zur Arbeit gehen, wie an jedem Tag seit fünfundzwanzig Jahren. Immerhin hatte er eine Betriebsprüfung vorzubereiten...
 

dan

Mitglied
und nochmal hallo!

die hier ('betriebsprüfung') hab ich erst entdeckt, als ich nach deinen weiteren stories gesucht hab - ein gelungener einstieg in die lupe.

was mich etwas beunruhigt: es gibt glaub' ich wirklich menschen, die nach einem solchen vorfall weitere 25 jahre zur arbeit gehen würden und nichts davon mitbekämen.

cu dan
 

Amadis

Mitglied
hallo dan,

danke nochmal ;-). ja, nur schade, dass die story fast niemand gelesen hat. habe wohl die zweite geschichte zu schnell hinterher geschoben.

ich hab mich mal mit einem psychologen unterhalten, der meinte, dass solche verdrängungsreaktionen durchaus vorkommen können. das ist eine schutzfunktion, um nicht durchzudrehen. naja, ist die frage, was besser ist.

gruß

amadis
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Nicht schlecht, nicht schlecht…


Die Reaktion der Frau ist nicht ganz glaubwürdig – und zwar genau diese Passage:
„Ich glaube eher, dass Sie nicht mehr ganz richtig ticken, Alterchen! Wir beide scheinen immun gegen die Seuche zu sein. Wenn es zwei von uns gibt, dann gibt es bestimmt auch mehr! Wir müssen versuchen, mehr Überlebende zu finden!“

„Sind ... Unsinn.“

Die junge Frau schien ratlos, versuchte aber immer noch, Klausitz vom Betreten des Gebäudes abzuhalten.
„Schauen Sie sich doch um, Mann!“, rief sie verzweifelt. „Sehen Sie außer uns noch irgendeinen, der am Leben ist?“ Sie deutete auf die Straße.
„Junge Frau, irgendwann ist der Spaß zuende. Wenn Sie mich nicht augenblicklich passieren lassen, werde ich den Wachdienst unserer Bank herbeirufen!“

Die Frau lachte verächtlich und resigniert.
„Sicher, Alterchen, rufen Sie nur Ihren Wachdienst. Sie werden sehen, wie viele da kommen!“ Fast ein wenig mitleidig und mit Tränen in den Augen schaute sie Klausitz an. Dann trat sie beiseite und ging in Richtung Park davon.
Es wäre nachvollziehbarer, wenn die Frau erstmal perplex über die Reaktion von Klausnitz wäre. Sie würde bestimmt auch nicht Alterchen sagen – so abfällig redet man nicht mit jemandem, den man vier Tage lang gesucht hat. Die ganze Redeweise passt irgendwie nicht. Konkretere Vorschläge würden hier aber zu weit führen – vielleicht machst du deinen inneren Filmprojektor einfach noch mal an und versetzt dich in die Situation…



Viel Wirkung geht in dem Absatz verloren:
„Es tut mir leid, Frau Kleist“, entschuldigte er sich. „aber ich wurde von einer offenbar wahnsinnigen jungen Frau aufgehalten. Waren irgendwelche Anrufe?“

Natürlich antwortete Frau Kleist nicht, denn sie war vor fast einer Woche schon in ihrer Wohnung gestorben – an der gleichen Seuche, die auch den Portier der Bank und die Männer vom Wachdienst dahingerafft hatte. An der gleichen Seuche, die mehr als neunundneunzig Prozent der Menschheit innerhalb nur einer Woche getötet hatte.
Stärker fände ich, wenn sowas da stünde wie:
„Es tut mir leid, Frau Kleist“, entschuldigte er sich. „aber ich wurde von einer offenbar wahnsinnigen jungen Frau aufgehalten." Es sah zu dem leeren Stuhl hinüber, auf dem bis vor einer Woche Frau Kleist gesessen hatte. „Waren irgendwelche Anrufe?“ Dann nickte er dankend und ging in sein Büro.
…nichts von der Seuche (das hat die junge Frau ja schon gesagt), nichts von Portier und Wachmännern (auch das hat sie schon gesagt) und nichts von 99 % (auch das hat sie im Prinzip gesagt). Nur der leere Stuhl, der ihre Worte bestätigt.
 
E

Edgar Güttge

Gast
Wer druckt die Times?

Hallo Amadis,

zuerst dachte ich beim Lesen: viel zu zähflüssig, straffen!
Aber bei der zweiten Lektüre wurde es mir klar, was du erreichen willst: der Mann ist so zerstreut, dass er nicht einmal merkt, dass er seinen Kaffee nicht bekommt.
Eine Überlegung am Rande: Es ist doch wirklich ein toller Zufall, dass ausgerechnet die Journalisten, die Redakteure, die Drucker und diejenigen, die die Times zu den Kiosken bringen, zu den wenigen Überlebenden gehören. (Was steht da eigentlich noch in der Zeitung, wenn nichts mehr passiert?) Oder kauft sich der gute Mann jeden Tag dieselbe Ausgabe? Zuzutrauen wäre es ihm ja.

Gruß
Edgar
 



 
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