Bildbetrachtung

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TanteErna

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Das Bild stand oben auf dem Schrank, gleich rechts, wenn man den Raum betrat. Man nahm es nicht sofort wahr, der Raum war gefüllt mit Akten, die sich über den Schreibtisch verteilten, mit alten Kalendern, Fotos und Selbstgebasteltem, sowie weiterer Dinge, die er im Laufe der Jahre geschenkt bekommen oder gesammelt hatte und die ihm etwas bedeuteten.
Der Blick eines Besuchers führte, so er denn seinen Blick überhaupt schweifen ließ, was in Anbetracht der besprochenen Themen eher ungewöhnlich war, zunächst zur Figur eines lachenden Buddha.
Erst im Verlaufe einer Unterhaltung, und auch dann nur selten, blieb ein Blick an besagtem Bild hängen. Wenn er diesen Blick jedoch bemerkte, und er mochte es, wenn jemand auf das Bild aufmerksam wurde, pflegte er zu sagen: "Nichts ist wie es scheint!" Mit verklärtem Blick würde er dann von dieser einen Begegnung erzählen, von einem Urlaub vor vielen Jahren. Von der Hand auf dem Bild würde er erzählen, die einer wunderschönen Französin gehört hatte. Die Hand, die mit dunkler Kreide ein Straßenbild malte und die die staubige Kreide verrieb. Das Bild einer dunklen Hand an einer jungen weißen Frau.
Er hatte sie bewundert, und er hatte sie fotografiert. Noch viel lieber als sie zu fotografieren hätte er sie gefickt damals, in dem Urlaub, aber das erzählte er seinen Besuchern natürlich nicht. Sie hätte mit ihrer Hand seinen Penis gerieben, mit leichtem Druck, grade so wie sie lustvoll die Kreide verrieben hatte. Und sie hätten gemeinsam nach dem Sex eine Zigarette im Bett geraucht, grade so wie es in zu vielen kitschigen französischen Liebesfilmen zu sehen war. Anstelle der Französin hatte er an jenem Abend seine Frau gefickt, in Gedanken an ebenjene, und vielleicht hatte er in jener Nacht seine Tochter gezeugt, für die er dann einen französischen Vornamen wählte.
Der Gegenstand jedenfalls, den die Hand auf dem Bild anmutig zwischen den Fingern hielt und der das Bild dominierte, war genau das was es zu sein schien. Eine glimmende Zigarette, die den Blick des Betrachters mit voller Wucht traf. Weit mehr als die Hand schien die Zigarette übergroß im Raum zu schweben. Rauchschwaden verließen das Bild, um den Raum in Zigarettenqualm zu tunken, gleich so, als ob er in diesem Raum noch rauchen dürfte, wie er es lange Jahre getan hatte. Damals, als das Fernsehprogramm mit Zigarettenwerbung viele Minuten füllte. Als Rauchen als erwachsen und männlich galt und man die gesundheitlichen Folgen kaum kannte oder ignorierte. Das Bild erinnerte an diese Zeiten. Und auch die vergilbten Vorhänge im Raum zeugten noch davon, gleichwohl ein Anstrich dem Raum zu neuer Frische verholfen hatte, und der Geruch vollends aus dem Raum verschwunden war.
Das Raucherleben war ihm im Laufe der Jahre unbequem geworden und er war ebenso mit den Jahren gealtert. Er fickte schon lange keine Frauen mehr. Seine Hautfarbe hatte leicht diesen Ascheton angenommen, den man oft bei langjährigen Rauchern sieht, doch seine Hände waren gepflegt und glatt. Er spürte eine leise Ahnung, daß auch seine Zeit als Raucher zu Ende gehen sollte, zu Ende gehen musste, wollte er mit der Zeit gehen. "Die wollen, daß ich aufhöre", so sagte er. Die, das waren seine Frau, sein Hausarzt, sein Urologe, seine Tochter, seine Freunde, seine Kollegen. Die wollten das. Schon länger spürte er diesen Druck. Zunächst war er ihm trotzig entgegnet, doch dann wurde er nachdenklicher, und irgendwann auch verzeifelter. Der Gedanke quälte ihn, er spürte daß er es tun musste und doch wusste er nicht, wie er den Willen aufbringen konnte, der für dieses kühne Vorhaben vonnöten wäre.
Und das Bild stand weiterhin oben auf seinem Schrank, gleich rechts, wenn man seinen Raum betrat. Es stand auf Buddhahöhe, eine in Zigarettenrauch geschriebene Erinnerung an nicht gelebten Sex, an gelebten Sex und an sein Leben.
 
Das ist ein sicher und gut erzähltes Bildnis eines alternden Mannes, ein überzeugendes psychologisches Porträt mit Rückblick, aufgehängt eben an einem zunächst rätselhaft erscheinenden Bild. Mir scheint der Text nicht unbedingt in die Kategorie Kurzgeschichten zu gehören. Nur aus diesem Grund habe ich einen Punkt bei der Wertung abgezogen und frage mich jetzt, ob das nicht zu weitgehend war. Im Ganzen ein vielversprechender Einstand, besonders sprachlich und stilistisch.

In der viertletzten Zeile ist ein Tippfehler: verzweifelter müsste es lauten.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

hein

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Hallo TanteErna,

einige zusätzliche Absätze und Leerzeilen würden das Lesevergnügen enorm steigern.

Ansonsten gerne gelesen.

LG
hein
 
Es ist wohl ein Grenzfall, werte Redakteurin. Bei folgenden Kriterien aus dem "Forentext" kann man Bedenken haben:

Die Kurzgeschichte ist die exemplarische Form für Geschichten, die aus einer einzigen Episode bestehen ...

Die Kurzgeschichte hat in der Regel einen stringenten Handlungsablauf und gestattet sich keine zusätzlichen Episoden ...


Im vorliegenden Text wird kein bestimmter, abgrenzbarer Besuch im Arbeitszimmer dargestellt, sondern ein allgemeines Muster solcher Visiten behandelt. Die Erzählung greift dabei außerdem zurück auf eine weit in der Vergangenheit liegende Episode. Ferner erweitert sie sich, indem sie eine spezielle gesundheitliche Problematik erörtert.

Wir sind uns wohl einig, dass diese zweitrangige Frage der Einordnung die Qualität des Textes nicht in Frage stellt.

Als Gegenbeispiel werde ich hier bald einmal eine eigene Büro-Kürzestgeschichte einstellen. Dabei könnte es mit der Länge kritisch werden. Wie bemisst sich eine halbe Manuskriptseite ?

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

TanteErna

Mitglied
Erstmal vielen herzlichen Dank für die nette Aufnahme hier im Forum. So viel gutes Feedback, wow. Freue mich, dass der Text gefällt.

@Arno Abendschön: Danke für deine Bewertung. Ich bin bei dir, dass der Text nicht so ganz die "Vorgaben" für eine Kurzgeschichte erfüllt. Bei der nächsten Geschichte werde ich das mal versuchen, dann auch mit überraschendem Ende.

@hein: Danke auch dir fürs Feedback, beim nächsten Mal achte ich auf die Abschnitte und visuelle Lesbarkeit, versprochen. Zu meiner Entlastung muss ich sagen, daß ich den Text rein am Smartphone geschrieben habe, da sieht man selbst nicht so gut...
 
Werte Redakteurin, von mir wurde deine Entscheidung, den Text im Forum "Kurzgeschichten" zu belassen, nicht diskutiert. Es ging vielmehr um die Frage, inwiefern dieser Text seiner Struktur nach als Kurzgeschichte anzusehen ist. Diese Frage habe ich bereits in meinem allerersten Kommentar aufgeworfen und du bist dann inhaltlich darauf eingegangen. Es liegt mir fern, deine redaktionellen Entscheidungen zu kritisieren. Unabhängig davon können aber doch wohl Merkmale des Textes diskutiert werden. Oder?

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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