In meiner Hand eine alte Photographie. Ohne Vorwarnung war aus dem alten Gerümpel, den ich durchwühlte, der grösste Schatz der Menschheit geworden. Aus Dreck wurde Gold, aus Vergessen Erinnerung. In meiner Hand eine alte, vergilbte Photographie. Sie zeigt eine Frau mittleren Alters, das Grau in den Haaren mehr schlecht als recht verdeckt. Dieses Grau aber verdeckt nicht annähernd die farbige Freude des Lächelns. Es ist das unschuldige Lächeln eines Kindes, im falschen Leben gelandet, das niemals hätte leben dürfen, nur weil das Leben zu grausam ist für ein solches Kind. Das Lächeln leuchtete noch jetzt, Jahre später erhellt es das ganze Zimmer. Ein einziges Lächeln macht tausend Jahre Dunkelheit ungeschehen. Wie konnte ich nur diese Photographie irgendwo im Gerümpel dem Verfall überlassen. Es ist, als wäre es die Frau selbst, die ich gerade ausgegraben habe.
Viele Jahre zuvor war ich bei ihr zu Besuch gewesen. Es war mein letzter Besuch bei ihr, und dabei war eben auch jene Photographie entstanden. Damals wusste ich nicht, dass ich sie danach niemals wiedersehen würde, zumindest nicht wie ich es mir gewohnt war. Hätte ich es nur gewusst! Die Welt wäre heute eine bessere, oder auch eine schlechtere, aber zumindest könnte ich besser schlafen. Nicht alles läuft, wie es laufen sollte. Immer läuft es still im Hintergrund, das Leben, und dabei vergisst man zu schnell, dass es überhaupt läuft. Noch öfter vergisst man, dass es überhaupt nicht laufen muss. Und kaum hat es aufgehört zu laufen, laufen schon die Tränen.
Ich habe Lust zu weinen. Zu schreien, Himmel und Hölle tot zu schreien, die ganze Erde an die Wand zu schreien, nur schreien, alle Wut und Trauer aus meinem Körper hinauszujagen. Eine einzige Träne rollt langsam meine Wange hinunter. Der Rest der Gefühle frisst sich ins Fleisch. Ich wünschte, ich könnte weinen.
Bei meinem Besuch hatte sie mich noch mit offenen Armen empfangen, ihr Lächeln hatte mich fast geblendet und doch schaute ich gerne in die Sonne. Was ist schon Blindheit, wenn man einmal nur wirklich gesehen hat. Ich konnte gar nicht anders, als mich blenden zu lassen. Sie hatte sich nichts anmerken lassen damals, und ich hatte auch nichts bemerkt. Wie hätte ich denn, es gab ja nichts zu bemerken. Innere Feinde haben es so an sich, dass man sie nicht sehen kann, zumindest nicht, bis es zu spät ist. Ich hatte mit ihr Kuchen gegessen wie immer, Kaffee getrunken, als wäre nichts passiert, ich hatte mir mit der Serviette den Mund abgewischt, als wären die paar Krümel das einzig Beachtenswerte. Hätte ich die Zeit doch nur damit verbracht, noch ein letztes Mal ihr unverfälschtes Lächeln zu betrachten, ein letztes Mal nur, statt mich mit der Serviette zu beschäftigen. Was hatte ich mir dabei nur gedacht! Ich schüttelte ihr die Hand und ging, ohne mich ein einziges Mal umzudrehen, dabei hätte ich sie doch in den Arm nehmen sollen; ich hätte sie in den Arm nehmen und warten bis alles vorbei sein würde sollen. Ich wusste doch insgeheim, dass die ganze Normalität nur gespielt war, eine Farce, ein hohles Gebälk, morsch, nur Centimeter vom Zusammenbruch entfernt. Ein Windhauch hätte alles in sich zusammenfallen lassen. Doch an jenem Tag stand die Luft still. Nichts brach zusammen und ich brach unwissend auf. Wahrscheinlich winkte sie mir noch nach, mit einem Taschentuch, einer Serviette oder einfach mit der Hand, doch ich würdigte diese Geste nicht. Enttäuscht muss sie sich zurückgezogen haben. Oder aber sie ist sofort wieder in der Wohnung verschwunden, ohne mir nachzuwinken, enttäuscht, weil ich ihr Spiel nicht durchschaut hatte. Dabei hatte ich es doch durchschaut! Hätte ich nur nicht mitgespielt. Die Welt wäre heute keine bessere, doch wenigstens könnte ich besser schlafen.
Einmal hatte ich sogar noch ihren Sohn getroffen, der mir schlechte Nachrichten überbringen musste. Es war ein mickriger, bleicher Junge mit schlecht rasierten, hohlen Wangen. Ich habe seine Nachricht nie verstanden, ich wollte sie auch nicht verstehen. Gehorsam nickte ich dennoch jeden seiner Sätze ab, ohne nachzufragen. Ich bot ihm sogar einen Schnaps an, doch nun verstand er mich nicht. Vielleicht war das Angebot unangemessen gewesen, wer weiss. Es tat ja nichts zur Sache. Er ging also sofort wieder, nicht jedoch, ohne mir einen kleinen Umschlag zu hinterlassen. Ich öffnete ihn erst abends, während ich den Schnaps (nun gezwungenermassen allein) trank, als könnte wenigstens er, dieser jämmerliche Fetzen Papier, mir ein wenig Gesellschaft leisten. Der kleine Umschlag hatte diesen seltsamen Geruch eines fremden Haushaltes, der einem beim ersten Mal entgegen schlägt. Ich fühlte mich deshalb tatsächlich weniger allein. Es war nur eine Illusion, das wusste ich genau, doch es machte den Genuss, einen fremden Geruch in der Nase zu haben, nicht kleiner. Im Brief stand nichts, dadurch war es eigentlich auch gar kein Brief, sondern nur ein leeres Blatt Papier. Einzig auf dem Umschlag stand, an der Stelle einer Adresse, Folgendes: «Erster November, dreiviertel vier Uhr.» Daneben stand noch eine Jahreszahl, der ich jedoch wenig Beachtung schenkte, denn sie lag drei Jahre in der Zukunft. Ich warf den Brief (das Stück Papier) in die Ecke und sah es lange nicht wieder. Jemand musste sich einen Scherz erlaubt haben.
Der Alltag ging unvermindert schnell seinen Weg und schon bald lagen die zwei Besuche weit hinter mir. Ich begann die strahlende Frau und ihren kümmerlichen Sohn zu vergessen, die eigentlich schon lange beide verschwunden waren. Waren sie überhaupt jemals da gewesen? Es kam mir vor wie im Traum, und bald, wie von allen Träumen, blieb davon nur eine neblige Ahnung. Der Brief, der Zettel, die Frau, der Sohn, alles weg. Auch ich begann mich aufzulösen, ich war schon beinahe zu Staub zergangen, nichts hielt mich zurück, als der Kalender plötzlich den ersten November anzeigte. Drei Jahre waren vergangen, ohne dass ich eine einzige Sekunde gelebt hatte. Endlich war ich aus meinem Traum erwacht.
Ich beeilte mich, zur Kirche zu kommen. Als ich ankam hatte alles schon begonnen, war schon fast zu Ende, ich rannte durch das Schiff, es schwankte, mir wurde schlecht, ich war seekrank, wollte nur noch sitzen, sass, auf der harten Bank, und schloss die Augen.
In meiner Hand eine alte Photographie. Das strahlende Lächeln weckt mich wieder. Ich habe Lust, zu stehen. Also stehe ich auf und laufe nach vorn, zum Altar. Ich stosse den Priester weg, seine alten Rezepte und Bibelweisheiten interessieren sowieso keinen. Nur etwas interessiert mich. Da vorne liegt sie. Die Augen sanft geschlossen, ich wünschte ich könnte auch so ruhig schlafen. Zu schade kann sie nicht mehr aufwachen. Wenigstens kann sie nun ewig träumen. Kein strahlendes Lächeln der Welt wird sie je mehr stören. Nicht einmal der Tod selbst kann ihr nun noch etwas antun.
«Gute Nacht, Mama.»
Ich küsse sie noch auf die kalte, weisse Stirn und gehe dann zum Altar. Mit einer Armbewegung sind störende Kerzen und Papiere weggewischt. Ich lege mich auf die harte Steinplatte und schliesse die Augen und sterbe.
Viele Jahre zuvor war ich bei ihr zu Besuch gewesen. Es war mein letzter Besuch bei ihr, und dabei war eben auch jene Photographie entstanden. Damals wusste ich nicht, dass ich sie danach niemals wiedersehen würde, zumindest nicht wie ich es mir gewohnt war. Hätte ich es nur gewusst! Die Welt wäre heute eine bessere, oder auch eine schlechtere, aber zumindest könnte ich besser schlafen. Nicht alles läuft, wie es laufen sollte. Immer läuft es still im Hintergrund, das Leben, und dabei vergisst man zu schnell, dass es überhaupt läuft. Noch öfter vergisst man, dass es überhaupt nicht laufen muss. Und kaum hat es aufgehört zu laufen, laufen schon die Tränen.
Ich habe Lust zu weinen. Zu schreien, Himmel und Hölle tot zu schreien, die ganze Erde an die Wand zu schreien, nur schreien, alle Wut und Trauer aus meinem Körper hinauszujagen. Eine einzige Träne rollt langsam meine Wange hinunter. Der Rest der Gefühle frisst sich ins Fleisch. Ich wünschte, ich könnte weinen.
Bei meinem Besuch hatte sie mich noch mit offenen Armen empfangen, ihr Lächeln hatte mich fast geblendet und doch schaute ich gerne in die Sonne. Was ist schon Blindheit, wenn man einmal nur wirklich gesehen hat. Ich konnte gar nicht anders, als mich blenden zu lassen. Sie hatte sich nichts anmerken lassen damals, und ich hatte auch nichts bemerkt. Wie hätte ich denn, es gab ja nichts zu bemerken. Innere Feinde haben es so an sich, dass man sie nicht sehen kann, zumindest nicht, bis es zu spät ist. Ich hatte mit ihr Kuchen gegessen wie immer, Kaffee getrunken, als wäre nichts passiert, ich hatte mir mit der Serviette den Mund abgewischt, als wären die paar Krümel das einzig Beachtenswerte. Hätte ich die Zeit doch nur damit verbracht, noch ein letztes Mal ihr unverfälschtes Lächeln zu betrachten, ein letztes Mal nur, statt mich mit der Serviette zu beschäftigen. Was hatte ich mir dabei nur gedacht! Ich schüttelte ihr die Hand und ging, ohne mich ein einziges Mal umzudrehen, dabei hätte ich sie doch in den Arm nehmen sollen; ich hätte sie in den Arm nehmen und warten bis alles vorbei sein würde sollen. Ich wusste doch insgeheim, dass die ganze Normalität nur gespielt war, eine Farce, ein hohles Gebälk, morsch, nur Centimeter vom Zusammenbruch entfernt. Ein Windhauch hätte alles in sich zusammenfallen lassen. Doch an jenem Tag stand die Luft still. Nichts brach zusammen und ich brach unwissend auf. Wahrscheinlich winkte sie mir noch nach, mit einem Taschentuch, einer Serviette oder einfach mit der Hand, doch ich würdigte diese Geste nicht. Enttäuscht muss sie sich zurückgezogen haben. Oder aber sie ist sofort wieder in der Wohnung verschwunden, ohne mir nachzuwinken, enttäuscht, weil ich ihr Spiel nicht durchschaut hatte. Dabei hatte ich es doch durchschaut! Hätte ich nur nicht mitgespielt. Die Welt wäre heute keine bessere, doch wenigstens könnte ich besser schlafen.
Einmal hatte ich sogar noch ihren Sohn getroffen, der mir schlechte Nachrichten überbringen musste. Es war ein mickriger, bleicher Junge mit schlecht rasierten, hohlen Wangen. Ich habe seine Nachricht nie verstanden, ich wollte sie auch nicht verstehen. Gehorsam nickte ich dennoch jeden seiner Sätze ab, ohne nachzufragen. Ich bot ihm sogar einen Schnaps an, doch nun verstand er mich nicht. Vielleicht war das Angebot unangemessen gewesen, wer weiss. Es tat ja nichts zur Sache. Er ging also sofort wieder, nicht jedoch, ohne mir einen kleinen Umschlag zu hinterlassen. Ich öffnete ihn erst abends, während ich den Schnaps (nun gezwungenermassen allein) trank, als könnte wenigstens er, dieser jämmerliche Fetzen Papier, mir ein wenig Gesellschaft leisten. Der kleine Umschlag hatte diesen seltsamen Geruch eines fremden Haushaltes, der einem beim ersten Mal entgegen schlägt. Ich fühlte mich deshalb tatsächlich weniger allein. Es war nur eine Illusion, das wusste ich genau, doch es machte den Genuss, einen fremden Geruch in der Nase zu haben, nicht kleiner. Im Brief stand nichts, dadurch war es eigentlich auch gar kein Brief, sondern nur ein leeres Blatt Papier. Einzig auf dem Umschlag stand, an der Stelle einer Adresse, Folgendes: «Erster November, dreiviertel vier Uhr.» Daneben stand noch eine Jahreszahl, der ich jedoch wenig Beachtung schenkte, denn sie lag drei Jahre in der Zukunft. Ich warf den Brief (das Stück Papier) in die Ecke und sah es lange nicht wieder. Jemand musste sich einen Scherz erlaubt haben.
Der Alltag ging unvermindert schnell seinen Weg und schon bald lagen die zwei Besuche weit hinter mir. Ich begann die strahlende Frau und ihren kümmerlichen Sohn zu vergessen, die eigentlich schon lange beide verschwunden waren. Waren sie überhaupt jemals da gewesen? Es kam mir vor wie im Traum, und bald, wie von allen Träumen, blieb davon nur eine neblige Ahnung. Der Brief, der Zettel, die Frau, der Sohn, alles weg. Auch ich begann mich aufzulösen, ich war schon beinahe zu Staub zergangen, nichts hielt mich zurück, als der Kalender plötzlich den ersten November anzeigte. Drei Jahre waren vergangen, ohne dass ich eine einzige Sekunde gelebt hatte. Endlich war ich aus meinem Traum erwacht.
Ich beeilte mich, zur Kirche zu kommen. Als ich ankam hatte alles schon begonnen, war schon fast zu Ende, ich rannte durch das Schiff, es schwankte, mir wurde schlecht, ich war seekrank, wollte nur noch sitzen, sass, auf der harten Bank, und schloss die Augen.
In meiner Hand eine alte Photographie. Das strahlende Lächeln weckt mich wieder. Ich habe Lust, zu stehen. Also stehe ich auf und laufe nach vorn, zum Altar. Ich stosse den Priester weg, seine alten Rezepte und Bibelweisheiten interessieren sowieso keinen. Nur etwas interessiert mich. Da vorne liegt sie. Die Augen sanft geschlossen, ich wünschte ich könnte auch so ruhig schlafen. Zu schade kann sie nicht mehr aufwachen. Wenigstens kann sie nun ewig träumen. Kein strahlendes Lächeln der Welt wird sie je mehr stören. Nicht einmal der Tod selbst kann ihr nun noch etwas antun.
«Gute Nacht, Mama.»
Ich küsse sie noch auf die kalte, weisse Stirn und gehe dann zum Altar. Mit einer Armbewegung sind störende Kerzen und Papiere weggewischt. Ich lege mich auf die harte Steinplatte und schliesse die Augen und sterbe.