Bittersüß duftet die Fremde

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Patrick M.

Mitglied
Bittersüß duftet die Fremde

„En-tu-schu-ru-di-gungu, kann ichi Ih-nen he-ru-fen?“

Verblüfft wandte Tom den Kopf und blickte in das lächelnde Gesicht einer in ein elegantes beiges Kostüm gekleideten Dame Mitte dreißig, die ihn aus schmalen Augen fragend ansah. „Äh, nein, mm, ja, na ja, das heißt vielleicht“, stotterte Tom vor Überraschung darüber, in diesem Vorort von Tokyo auf Deutsch angesprochen zu werden. Seine ursprüngliche Absicht, zum ersten Mal in das Zentrum der Metropole zu fahren, um ein elektronisches Wörterbuch zu kaufen, war angesichts der Herausforderung, diesem Gewirr von Kanji-Schriftzeichen und Linien auf dem Display des Fahrkartenautoamen einen Sinn zu entnehmen, völlig in den Hintergrund getreten.

„Mai-nu Do-ichi i-su-to lai-daa se-ru shi-lehi-to“, fuhr die Dame fort, als wäre ihr schlechtes Deutsch ein unverzeihliches Manko, für das sie tiefste Verachtung verdient habe. Auf Tom fühlte sich durch diese sympathische Zurückhaltung ermutigt, stolz seine eigenen Japanischkenntnisse zu präsentieren. Dankbar lobte er ihr Deutsch und hoffte nun auf eine rücksichtsvolle Konversation in einfachem Japanisch und vielleicht auch auf ein bisschen Lob für seinen Bemühungen. Doch nach einem kurzen Moment des betretenen Schweigens fragte sie Tom nun selbstbewusster und deutlich flüssiger, ob er eine Fahrkarte benötige. Auf seinen verblüfften Gesichtsausdruck hin lächelte sie nur nachsichtig und schob nach: „Wo wollen Sie denn hin?“

Tom schluckte. „Ja, äh, so genau…“, stammelte er und merkte sofort, wie dämlich er wirken musste.

„Das ist wirklich schlecht“, entgegnete sie mit kokettem Lächeln, „aber, dass das hier ein Bahnhof ist, mit Zügen und so, das wissen Sie schon, ne?“

„Ach so, ja klar.“ Tom versuchte, locker zu klingen, als er zu einer Erklärung ansetzte. „Ich möchte eigentlich ein elektronisches Wörterbuch kaufen, denshijiten.“

Die Dame zog eine Augenbraue hoch und sagte: „Ich verstehe, und Sie glauben, die Japaner verkaufen so etwas in Fahrkartenautomaten auf Bahnhöfen.“ Ihr herausforderndes Lächeln entwaffnete Tom völlig. Wie war es möglich, dass eine derart hübsche und offensichtlich kultivierte Japanerin ihn in seiner eigenen Sprache zu einem kompletten Idioten machen konnte, dem kein klarer Gedanke mehr gelang? Toms Laune sank in den Keller. Würde er jemals in der Lage sein, derart souverän in einer Fremdsprache aufzutreten?

„Sie können an allen Automaten hier Fahrausweise für JR-Bahnen im Großraum Tokyo lösen, zu dem - wie Sie sicher wissen“, dabei zwinkerte sie ihm schelmisch zu, „auch die Stadt Chiba und damit der Bahnhof Inage gehört.“

Tom wurde rot. Warum war sie nicht einfach nett und hilfsbereit? Er spürte, wie sein gekränktes Ego sich erst als Klumpen im Magen bemerkbar machte, doch dann langsam nach unten in Richtung Leistengegend sank und eine seltsame Strahlkraft entfaltete. Irgendwie war diese Arroganz sexy.

„Auf der linken Seite des Fahrkartenautomaten sehen Sie das Display, mithilfe dessen Sie die gewünschte Fahrkarte auswählen. Berühren Sie den Bildschirm für das Hauptmenü - so!“ Sie wedelte mit ihrer Handfläche kurz vor seinen Augen herum und tippte dann mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand auf die Mitte des Bildschirms.

„Die Standardmenüsprache ist natürlich Japanisch, für Englisch tippen Sie bitte hier auf das Symbol EN. Aber Sie können ja Japanisch. Mit dieser Information müssen Sie Ihr Gedächtnis also nicht belasten.“ Den Blick auf den Bildschirm fixiert, fuhr sie in dozierendem Ton fort, während bei Tom langsam ein Kribbeln zwischen den Beinen einsetzte. Plötzlich musste er an seine Freundin Sandra denken und ihm fiel ein, dass er ihr versprochen hatte, sie heute um 8 Uhr deutscher Zeit aus dem Bett zu klingeln, damit sie ihre Prüfungsvorbereitungen nicht vernachlässigte. Das Kribbeln verschwand wieder.

„Sie haben jetzt drei Wahlmöglichkeiten: mit Reservierung, ohne Reservierung oder Dauerkarte.“

Tom erkannte irgendwo auf dem Display das Kanji-Zeichen für „Fahrzeug“, sonst aber nichts.

„Sollten Sie heute mehrere Fahrten innerhalb des Stadtgebietes planen“, sagte sie und fuhr plötzlich mit dem Kopf herum, wobei ihr Pferdeschwanz seine Nase kitzelte, „was ich Ihnen auf Basis des Gesagten einfach mal unterstelle“, wieder lächelte sie ihn an, doch diesmal mit einer Ernsthaftigkeit, in der er einen Anflug von Traurigkeit zu erkennen glaubte, „ja, dann bietet es sich an, eine Tageskarte zu wählen. Das würde ich insbesondere dann empfehlen …“, der Ton wechselte von Traurigkeit zu offenem Mitleid, „wenn Sie begründete Angst haben, sich durch mehrfaches Verfahren finanziell zu ruinieren.“

In Toms aufkeimende Gereiztheit mischte sich ein Gefühl masochistischer Lust. Was führte diese Frau nur im Schilde?

„Aber zumindest in Inage ist das nicht so schwer. Es gibt ja nur einen Bahnsteig. Genauso wie in Trudering …“

Trudering? Woher zum Teufel wusste sie, dass er in Trudering wohnte? Noch bevor Tom den Mund zu einer Frage öffnen konnte, plapperte sie beflissen weiter. „Geben Sie hier die Einzelheiten Ihrer Fahrt an, etwa, ob Sie eine Seniorenermäßigung bekommen.“ Sie musterte ihn abschätzig. „Na, frühestens auf der Rückfahrt - und natürlich den Zielort.
Folgen Sie einfach den Anweisungen auf dem Bildschirm“. Sie tippte auf ein am Rande stehendes Schaltfeld und deutete auf ein kleines aufgepopptes Hiragana-Eingabefeld. „Falls Sie den Zielort nicht eigenständig eingeben wollen - oder können, dann besteht auch die Möglichkeit, direkt die gewünschte Haltestelle auf dem Linienplan anzutippen.“ Dabei kreiste sie mit ihrem Zeigefinger über den Linienplan, den sie durch Tippen auf eine andere Schaltfläche wieder aufgerufen hatte. „Die einzelnen Farben repräsentieren die verschiedenen Linien, was auch Sie nicht überraschen wird.“ Schon wieder dieser spöttische Unterton, im dem Tom jetzt seine männliche Eroberungslust klar herausgefordert sah. „Inage liegt an der Chūō-Sōbu-Linie, das ist diese hier.“ Sie deutete auf eine gelbe Linie, die sich von rechts unten in einem Bogen nach links zog. „Falls Sie es sich nicht merken können, hier finden Sie eine Legende.“

Sie deutete auf lange Spalte fingerbreiter Farblinien, die auf eine für Tom völlig nutzlose Art beschriftet waren. Dabei blickte sie Tom forschend ins Gesicht und musste den nervösen Ausdruck darin als Bitte um detailliertere Erläuterung verstanden haben. „Also, passen Sie gut auf. Wenn Sie zum Beispiel ins Ayase-Herzkrankenhaus möchten - nicht zu verwechseln mit dem Ayase-Krankenhaus! - dann fahren Sie so: Mit der lokalen Chūō-Sōbu-Linie bis nach Nishi-Funabashi, dort steigen Sie um auf die Musashino-Linie, fahren bis Shim-Matsudo und steigen auf die lokale Joban-Linie um, fahren dann bis zum Ayase-Bahnhof, dort steigen Sie auf die Chiyoda-Linie. Aber Vorsicht, dieser Zug wird von Tokyo Metro betrieben, nicht von JR. Dann fahren Sie nach Kita-Ayase, und von dort wären es dann noch ein paar hundert Meter bis zum Ayase-Herzkrankenaus. Aber für den Kauf der Fahrkarte reicht es aus, wenn Sie nur Kita-Ayase eingeben.“

Herzkrankenhaus? Jetzt wurde es unheimlich. Konnte sie hellsehen? Erst das mit Trudering und jetzt das Herzkrankenhaus, nachdem sein Vater voriges Jahr eine Bypass-Operation gehabt hatte, wie sein Großvater Jahre zuvor - genetische Prädisposition hatten die Ärzte ja gesagt …

„Na ja, der Rest ist dann einfach. Werfen Sie einfach Münzgeld ein, aber der Automat akzeptiert zur Not auch Scheine. In diesem Fall reicht ein Tausender. Kennen Sie den? Das ist der kleine bläuliche mit dem Bild von Noguchi Hideyo, der 1913 Spirochäten im Hirngewebe von Patienten mit progressiver Paralyse nachgewiesen hat.“ Sie musterte sein ratloses Gesicht. „Wie passend, finden Sie nicht?“

Paralyse auch noch … das konnte nicht sein. Onkel Dieter kam ihm in den Sinn, der seit 8 Jahren im Rollstuhl saß. Tom spürte ein beklemmendes Gefühl in der Herzgegend, langsam wurde es ihm zu viel. Diese Frau war ihm über, sie spielte mit ihm und weidete sich an seiner Hilflosigkeit. Gegen diesen kitzelnden Schmerz, den diese hinter vorgeschobener Bescheidenheit anmutig lauernde Löwin ihm zufügte, fand er kein Gegenmittel. Er gab sich geschlagen. Die Lust auf den Ausflug in die Stadt war ihm vergangen, er wollte zurück ins Wohnheim, Erdnüsse knabbern und wieder etwas Selbstachtung bei den amerikanischen Austauschstudenten tanken, die sicher schon dabei waren, ihre überstandene 50-Schriftzeichen-Prüfung mit ein paar Bier zu begießen.

Alles klar?“, fragte sie ihn scheinbar unbeschwert, doch in ihren Augen blitzte es immer noch herausfordernd.

„He, he, ja. So einigermaßen“, stammelte er und quälte sich ein Lächeln ab.

„Na, dann bin ich ja froh, wenn Sie jetzt alleine zurechtkommen.“

Es klang wie blanke Ironie und er fragte sich, wohin ihr nächster Pfeil wohl zielen würde.

„Sie wollten doch ein elektronisches Wörterbuch? Steigen Sie einfach in den nächsten Zug ein und in Akihabara aus. 570 Yen für die Fahrkarte und 23.000 für das Wörterbuch - ich empfehle Casio Ex-Word.“ Sie lächelte undurchschaubar liebenswürdig und wandte sich ruckartig um. Mit bezauberndem Hüftschwung schritt sie auf den Ausgang zu.

Tom blickte ihr nach, verwirrt, ungläubig und fasziniert, den Kopf voller Fragen, für die er die Worte vergessen hatte. Nach wenigen Schritten hielt sie nochmals inne, drehte sich langsam um und rief kopfschüttelnd: „TSV-Trudering - hinten auf Ihrem T-Shirt. Ich habe übrigens an der TU München habilitiert, Klinikum rechts der Isar.“ Sie zwinkerte ihm zu, winkte kurz und ließ Tom stehen - allein mit seinem Kribbeln.
 
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