Blauauge

Charlene

Mitglied
Hallo!
Ich hoffe, ich bin mit dem 1.Kapitel des Romans, an dem ich gerade arbeite, hier im Fantasy-Forum richtig. Zwar würde ich die Geschichte an sich eher im Bereich Urban Fantasy ansiedeln, doch allzu viele fantastische Elemente tauchen im 1. Kapitel noch nicht auf...

Über Kommentare würde ich mich sehr freuen. V.a. interessiert mich, ob der Textauszug neugierig auf mehr macht.
Danke!

~Charlene

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Die Stimmen in meinem Kopf bombardierten sich wieder gegenseitig mit Beleidigungen. Wie jedes Mal ging es ums Geld und mit jeder neuen Anschuldigung steigerte sich die Lautstärke. Zu blöd, dass ich mir nicht einfach die Ohren zuhalten konnte, aber da ich das Gezeter nur in meinen Gedanken hörte, funktionierte das leider nicht. Also war Ignorieren angesagt. Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen, zählte das Wechselgeld aus der Kasse und wünschte der Frau, die gerade noch eine Prosecco-Flasche in ihrem Stoffbeutel verstaute, einen schönen Abend. Mein Blick folgte ihr, als sie mit hastigen Schritten den Laden verließ und auf dem Gehweg davon eilte. Erst als sich die Schiebetür automatisch hinter der Kundin geschlossen hatte und einige Momente vergangen waren, atmete ich erleichtert auf. Während draußen das unebene Kopfsteinpflaster im Schein der Abendsonne rot aufflammte, warfen die hohen, vollgestopften Regale des Ladens überlange Schatten im grellen Neonlicht. Außer mir war niemand mehr da. Ich blickte zu den schwarzen Zeigern der alten Bahnhofsuhr, die schräg gegenüber der Kasse ihr Dasein fristete und ein Relikt aus der Zeit war, als das "Lädle", in dem ich an drei Nachmittagen die Woche mein Taschengeld aufbesserte, noch ein wirklicher Tante-Emma-Laden gewesen war. Der Minutenzeiger rückte mit einem lauten Klacken um eine Position vorwärts. Noch genau acht Minuten bis Ladenschluss und dem offiziellen Ende meiner Schicht.
Es war angenehm still um mich herum, nur in meinem Kopf tobte der Ehekrach lautstark weiter. Ich schloss die Augen und massierte meine Schläfen, vergebens. Auch die drei Kopfschmerztabletten, die ich in den letzten Stunden eingeworfen hatte, blieben ohne jeden Effekt - die Stimmen keiften ohne Unterlass.
Es ist alles deine Schuld!, wetterte er gerade wieder. Nur weil du deinen Sohn nicht im Griff hast… - Ach, auf einmal ist es wieder mein Sohn und nicht deiner!, schmetterte sie mit mindestens ebenso viel Vehemenz zurück wie zuvor er. Wenn sie sich wenigstens mal etwas Neues ausdenken würden, das sie sich gegenseitig vorwerfen konnten! Aber nein, es musste ja immer die gleiche Leier sein. Ich setzte mich gerade hin, streckte meine Arme in die Luft und reckte mich. Noch sechs Minuten bis ich mich auf den Weg nach Hause machen konnte, vorausgesetzt meine Chefin tauchte zur Abwechslung mal pünktlich auf.
Du bist doch diejenige, die Christian erlaubt hat...! Es ging immer munter weiter und mir riss endgültig der Geduldsfaden. „Haltet endlich eure Klappe!“, fuhr ich auf, aber meine Stimme verhallte ungehört im leeren Laden. Es war zum Verrücktwerden! Es war die meiste Zeit zwar unheimlich nervig, dass ich in meinem Kopf Stimmen hörte - fremde Stimmen, die außer mir niemand wahrnehmen konnte - aber normalerweise war ich in der Lage, sie so weit zu verdrängen, dass sie zu einem unaufdringlichen Hintergrundgeräusch wurden. Aber seit ich Christian, dem Freund meiner besten Freundin, vor drei Wochen aus Versehen an der Hand berührt hatte, war ich tagtäglich Zeugin der Streitereien seiner Eltern, die sich fast ausschließlich um ihn drehten. Mittlerweile wusste ich besser über ihn Bescheid als Lea und meine zu Beginn neutrale Meinung von ihm war zusehends ins Negative gesunken. Ich seufzte. Seit ich mich erinnern konnte hatte ich diese Fähigkeit. Ich berührte eine Person und es machte „klick“ - ein leichtes Vibrieren ging durch meinen Körper, ähnlich einem kleinen Stromschlag. Dabei hatte ich immer das Gefühl, als ob etwas in meinem Geiste ins Schloss schnappte. Und ab diesem Moment hörte ich sämtliche Gespräche und Bemerkung über die Person, die ich berührt hatte. Diese ganze Angelegenheit war nicht nur lästig sondern vor allem total unnütz. Ich hatte keinerlei Kontrolle darüber, bei wem es klickte, noch konnte ich etwas mit den Informationen anfangen, die ich auf diese Weise erlangte. Ich hörte nur das, was in Abwesenheit des Betreffenden gesagt wurde und meist fand ich erst im Laufe des Gesprächs heraus, wer sich unterhielt und um wen es ging. Außerdem interessierte es mich nicht die Bohne, was die Nachbarin eines Mannes, der mich aus Versehen auf der Straße angerempelt hatte, über seinen nicht vorhandenen Modegeschmack zu seiner Putzfrau zu sagen hatte. Schon gar nicht, wenn ich mitten in einer Deutschklausur saß und schon ohne das nervige Geschnatter genug Probleme damit hatte, irgendwelche Stilfiguren zu analysieren und mir mit Müh und Not Interpretationen aus den Fingern zu saugen. Und nun also das ständige Gezanke um Christian, Leas Freund…
Ich schüttelte den Kopf, kramte meinen MP3-Player aus der Tasche meiner Jeans hervor und stöpselte die Kopfhörer ein. Doch bevor ich auf Play drücken und meine Nerven mit Walgesängen - uncool, aber erfahrungsgemäß bei mir sehr effektiv wenn es um Kopfschmerzen ging - beruhigen konnte, glitt die Ladentür fast geräuschlos auf. Noch vier Minuten bis Ladenschluss. Ich war kurz davor, laut aufzustöhnen und überlegte ernsthaft, ob ich den Mann, der soeben den Laden betreten hatte, wieder hinaus paradieren sollte. Bevor ich mich zu einer Entscheidung durchringen konnte, war er schon zwischen den Regalreihen in einem der Gänge verschwunden. Na ja, auf ein paar Minuten hin oder her kam es schließlich nicht an und ich musste sowieso noch auf Gisela, die Ladenbesitzerin, warten. Obwohl ich mit siebzehn alt genug und mit meinem Mathe-LK sicherlich auch qualifiziert genug war, die Abrechnung nach Ladenschluss selbst zu machen, bestand sie darauf, selbst die Münzen und Scheine zu zählen. Mir sollte es recht sein, wenn sie nur nicht immer so spät auftauchen würde. Bleiben musste ich also so oder so erfahrungsgemäß noch zwanzig Minuten, da konnte ich dem Kunden auch noch seinen Last-Minute-Einkauf gönnen.
Ich wechselte auf meinem MP3-Player blind die Playlist. Statt der Walgesänge wetteiferten nun die BeeGees ("Stayin Alive") mit Christians Eltern um meine Aufmerksamkeit, während die Zeiger der Uhr noch immer meinen Blick gefangen hielten. Der Minutenzeiger war mittlerweile auf zwei Minuten vor acht hervorgerückt. Warum hetzten ausgerechnet kurz vor Ladenschluss immer Leute herein, um die unwichtigsten Dinge zu kaufen? Nicht dass man das während der elf Stunden, die wir schon geöffnet hatten, hätte erledigen können, nein. Ich könnte es nachvollziehen wenn man fünf Minuten vor acht an einem Samstagabend feststellte, dass man gerade den letzten Tampon aus der Schachtel geholt hatte. Allerdings ging ich jede Wette ein, dass mein heutiger Eileinkäufer keine Tampons kaufen wollte und auch sonst nichts dringend Notwendiges aufs Band legen würde.
Meine Finger trommelten nervös und absolut nicht im Takt mit meiner Musik, als mir plötzlich eine zerfledderte Ausgabe der heutigen Nürnberger Zeitung vor die Nase gelegt wurde. Hatte ich es nicht gewusst? Warum musste man am Abend noch die Tageszeitung kaufen? Ich scannte die NZ ein, nannte den Betrag und sah zu, wie der Mann einen schwarzen Geldbeutel aus der Hintertasche seiner Jeans zog und mit langen, braungebrannten Fingern begann, Kleingeld abzuzählen. Mein Blick wanderte von den wohl geformten Fingern an aufwärts, entlang ebenso braun gebrannter und wohlgeformter Unterarme und weiter zu breiten Schultern, die in einem marineblauen Hemd steckten, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren. Schließlich kam mein Blick in einem sonnenverwöhnte Gesicht an. Die Haut schimmerte fast bronzefarben. In Anbetracht unseres bisher ziemlich verregneten Sommers und dem mittelblonden Haar kamen für mich nur ein ausgedehnter Urlaub im Süden oder zwei Tuben Selbstbräuner in Frage. Weil für mich weit und breit keine Ferien südlich von Nürnberg in Sicht waren, hoffte ich insgeheim, dass mein Gegenüber auch nur mit Selbstbräuner nachgeholfen hatte.
Der belustigte Blick aus türkisblauen Augen unterbrach meine Überlegungen und vor allem meine eingehende Musterung abrupt. Ertappt konzentrierte ich mich auf die Wechselgeldanzeige meiner Kasse, zählte ungewöhnlich aufmerksam die kupfernen und goldfarbenen Münzen ab. Es war schon peinlich genug, dass der Typ mich dabei erwischt hatte, wie ich ihn anstarrte - umso schlimmer, weil er ziemlich gut aussah und ich ihn auf Anfang zwanzig schätze - aber ich musste mich nicht auch noch blamieren und ihm das Wechselgeld falsch herausgeben. Deshalb verglich ich den Betrag in meiner Hand ein letztes Mal mit den leuchtenden Ziffern der Kasse und betete, dass meine Wangen nicht mehr glühten wie nach einem überlangen Sonnenbad.
„Und 45 Cent zurück. Bitte sehr. Noch einen…“ Ich hob meinen Kopf wieder, ignorierte den Eindruck eines unterdrückten Lächelns auf dem Gesicht des Mannes und wollte ihm das Wechselgeld in seine ausgestreckte Hand geben. Aber in dem Moment, als ich seine Handfläche und meine Finger sah, nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt, wusste ich es. Mit absoluter Sicherheit stand für mich fest, dass es mit ihm passieren würde, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Klick und wieder eine Person mehr, die in meinem Kopf herumspukte. Nur dass sich bei der Aussicht darauf mein Magen krampfhaft zusammenzog als ob ich seit Tagen nichts mehr gegessen hätte und mir im Nacken kalter Schweiß ausbrach. Die Kontrolle über meine Mimik und meinen Körper entglitt mir auf einmal. Meine Hand verharrte bewegungslos in der Luft. Mein Blick brannte sich auf den Linien seiner mir entgegengestreckten Handfläche fest. Die wackeligen inneren Schutzschilde, die ich über Jahre mühsam in meinem Kopf errichtet hatte, stürzten krachend in sich zusammen. Stimmen über Stimmen brachen über mich herein wie stürmisch aufgepeitschte Wellen, rissen mich mit sich, begruben mich unter sich, füllten meinen Kopf bis zum Platzen, bis ich fast vergaß, wer davon eigentlich ich war.
Dass ich nicht lache! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ihm den Geldhahn zugedreht! Wo sind wir denn?! Die zweite Lehre abbrechen und Ansprüche stellen! Aber dich hat er ja wieder um den Finger gewickelt! - Das hat doch mit jetzt gar nichts zu tun. Christian will doch nur... - Mein Gott, ich hätte sie beinahe nicht wiedererkannt! Ich hätt es ja nicht gedacht, aber… Die blonden Strähnchen stehen ihr verdammt gut und der Schnitt erst! - Nun, bei der Evaluierung schnitt er relativ schlecht ab. Deshalb war meine Überlegung, ob es für ihn nicht sinnvoller wäre, in einem anderen Tätigkeitsbereich... - Natürlich! Chris will immer irgendetwas und wehe er bekommt es nicht, wenn er mit den Fingern schnippst. Aber damit ist jetzt Schluss, ein für alle Mal. - Dabei sah der Salon von außen eher altmodisch aus. Aber egal, wenn sie jetzt nur noch mal checkt, dass das ewige Nachweinen absolut nichts nutzt und sie froh sein kann, dass der Kerl abgehauen ist! - Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Ich sehe ja ein, dass ich ein bisschen zu nachgiebig gewesen bin, aber deshalb darfst du den Jungen doch nicht so bloß stellen. Ich bitte dich, Heinz...
Kühle Finger schlossen sich um meine unkontrolliert zitternde Hand - und mit der Berührung kamen die elektrischen Stöße. Blitze zuckten durch mich. Ausgehend von meinen Fingerspitzen, stießen sie durch meine Handfläche, drangen in meinen Arm vor, in meinen ganzen Körper. Muskeln zogen sich schmerzhaft zusammen, krampften, mein Herz stolperte, alles bebte. Tränen rannen mein Gesicht hinunter, grelles Licht brannte in meinen Augen, die Stimmen wurden schriller und schriller, schrien, donnerten gefangen in meinem Kopf wie ein wütendes Gewitter im Talkessel. Und dann plötzlich Stille. Absolute Stille. Keine Stimmen, kein Summen der Neonröhren, kein Atmen und keine Herzschläge. Nur Stille.
Ein Blick aus kühlen blauen Augen, die sich kaum bemerkbar weiteten, drang in mich ein wie Säbelspitzen, während sich mein Blick ebenso unbarmherzige in ihn bohrte. Die Zeit stand still, floss rückwärts und vorwärts in Spiralen und Atem gefror in meinen Lungen. Das metallene Klirren als die Centmünzen zu Boden prasselten brach den Bann. Er ließ meine Hand los, als ob meine Berührung ihn verätzte, trat einen Schritt zurück und mein Arm sackte hinunter, schlug auf dem Warenband auf. Ich spürte nichts. Kälte fraß sich durch meine Gliedmaßen. Die Hand, die seine Haut berührt hatte, war taub. Atemzug um Atemzug verging und Gedankenfetzen flogen an meinem inneren Auge vorbei, ohne dass ich sie wirklich wahrnahm.
Er nahm einen leicht unsteten Atemzug, leise keuchend, trat zurück. Noch einen Moment schien die Zeit zäh zu fließen, eher zurück als nach vorne zu drängen und dann brachte er noch einen Schritt zwischen uns, atmete laut aus. Mein Blickfeld schrumpfte zusammen, engte sich ein auf die beiden blauen Kreise in seinem Gesicht und ich hatte das Gefühl, in meinem Kopf herrsche ein perfektes Vakuum. Er wandte seinen Kopf ab, schüttelte ihn und brach unseren Blickkontakt. Sofort begann das Blut in meinen Ohren zu rauschen, Wärme schoss zurück in meine Arme und Beine und das wilde Schlagen meines Herzen bildete den Rhythmus zu allem. Gedanken kehrten zurück, Worte formten sich wieder und ich angelte nach ihnen, um etwas sagen zu können, um Laute durch meinen Kehlkopf zu pressen und… und was? Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was sich gerade hier abgespielt hatte und in mir kämpfte die Neugierde mit dem Instinkt, wegzurennen und versteckt in einer Ecke zu kauern bis ich wieder alleine war. Unentschieden verharrte ich wie eine unvollendete Eisskulptur, unfähig mich zu regen und sah zu, wie sich mein Gegenüber wieder in den Griff bekam. Er wandte sich wieder mir zu. Ein leises, privates Lächeln huschte über seine Lippen und als er mich jetzt ansah, hatte ich den Eindruck, er nahm mich gerade zum ersten Mal richtig war.
„Behalt das Wechselgeld.“ Die Lippen formten die Worte, die zu mir drifteten, und tief und amüsiert in meinen Ohren klangen. „Gib Acht, dass die Rote dich nicht entdeckt. Der Berg ist tief und einmal gefangen, lässt sie dich nicht mehr gehen. Und…“ Ein kurzes Aufblitzen weißer Zähne, der Schatten eines richtigen Lachens, für mich bestimmt. „Einen schönen Abend noch.“ Damit drehte er sich um und erreichte mit weiten Schritten den Ausgang, die Zeitung vergessen auf dem Band, die Münzen überall verstreut.
„Einen schönen Abend.“, wiederholte ich flüsternd in die Leere hinein. Ich rieb meine taube Hand an meiner Jeans während ich ihm nachstarrte, lange noch nachdem er gegangen war, die Glastüren sich geschlossen hatten und der Bürgersteig von langen Schatten verschluckt wurde.


* * *

Die Haustüre fiel scheppernd hinter mir ins Schloss, die sicherste Methode meinen Vater auch aus dem hintersten Winkel hervorzulocken. Ich verharrte einen Augenblick und lauschte. Nichts rührte sich, zum Glück. Anscheinend war ich alleine daheim. Aufatmend ließ ich meinen Rucksack auf den Boden fallen, streifte meine Flip Flops ab und band mein Haar mit einem Gummi zu einem unordentlichen Pferdeschwanz hoch. Mein Nacken war schweißgebadet und eine kurze Geruchsprobe unter meinen Armen bewies, dass ich vielleicht über einen Wechsel meiner Deomarke nachdenken sollte. Ich blieb vor dem Garderobenspiegel stehen, stützte mich auf der Kommode davor auf und starrte mein Spiegelbild an. Mein eigener Geist starrte zurück. Von meinem mühsam erarbeiteten Hauch von Sommerbräune war nichts mehr übrig geblieben, stattdessen hatte mein Gesicht die Farbe eines frisch gewaschenen Bettlakens angenommen. Meine Sommersprossen glichen eher einem Windpockenausschlag. Ich schüttelte den Kopf und drängte die seltsame Begegnung vor einer guten halben Stunde in den Hintergrund. Darüber konnte ich nachdenken, wenn ich in meinem Zimmer und sicher vor ungebetenen Störungen war, aber nicht jetzt, wenn ich jede Minute damit rechnen musste, dass ein Familienmitglied nach Hause kam. Mit einem unterdrückten Seufzer machte ich mich auf den Weg in den zweiten Stock.
Nachdem ich mir eine fast zwanzigminütige Dusche gegönnt und versucht hatte, die Ereignisse des Tages abzuwaschen, stand ich nun in uralten, ausgeleierten Shorts und einem Spaghettiträgertop barfuß in der Küche. Während das Radio vor sich hin dudelte, mühte ich mich damit ab, mir zwei Brote zu schmieren. Meine rechte Hand war noch immer seltsam taub. Sie fühlte sich an, als ob sie eine ganze Ladung Eisspray abbekommen hätte, wie Ärzte es zur lokalen Betäubung benutzten. Ich hatte schon Probleme beim Anziehen nach dem Duschen gehabt und jetzt entpuppte sich das Unternehmen, die Brotscheiben zu halten und mit links das Messer zu führen als Aufgabe mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad.
„Man könnte meinen, du hättest noch nie ein Messer in der Hand gehabt, Siri.“ Vor Schreck wäre mir fast besagtes Messer aus der Hand gefallen. Verärgert drehte ich mich um und fixierte mit zusammengezogenen Augenbrauen meine ältere Schwester, die entspannt im Türrahmen lehnte. Obwohl Inessa seit einigen Jahren ihr Haar kastanienbraun färbte, ihr Hautton mehrere Nuancen dunkler und sie fast zehn Zentimeter größer war als ich, hatten wir genügend Gemeinsamkeiten, die uns als Schwestern äußerlich kennzeichneten. Innerlich ähnelten wir uns vor allem darin, dass wir beide eher ungewöhnliche Talente besaßen. Ich hörte Stimmen und Ines konnte die wahren Absichten einer Person erkennen, indem sie sie zeichnete. Objektiv betrachtet waren wir reif für die Psychiatrie. Gut, dass nur wir beide davon etwas wussten. Unsere Eltern glaubten, wir hätten als Kinder schlichtweg eine besonders blühende Fantasie besessen. Trotzdem, ohne die Ereignisse der vergangenen Stunde selbst verdaut zu haben, konnte ich mich den endlosen neugierigen Fragen nicht ausliefern, die auf ein Geständnis zweifellos folgen würden. Also war ein Ablenkungsmanöver angesagt.
„Handgelenk verknackst.“, schob ich vor und hielt meine taube Hand demonstrativ in die Höhe. „Und das ausgerechnet vor einem Typen, der extrem süß war. Peinlich, sag ich dir.“ Nicht ganz die Wahrheit, aber nahe genug dran. Blauauge, wie ich ihn insgeheim getauft hatte, war ziemlich gutaussehend gewesen. Auch wenn ich ihn eher mit faszinierend als mit süß beschreiben würde. Ehrlich gesagt, waren mir vor allem seine Augen in Erinnerung geblieben, während sein Gesicht nur einen vagen Eindruck hinterlassen hatte. Und seine Lippen natürlich. Der Gedanke an sein Lächeln machte meinen Mund ganz trocken. Aber all das konnte ich wohl kaum erzählen. Inessas Stirn runzelte sich misstrauisch.
„Bist du sicher, dass das alles ist? Ansonsten gab es nichts Ungewöhnliches, was dich vielleicht ein bisschen aus der Bahn geworfen hat?“ Sie kannte mich viel zu gut. Was sollte ich darauf nun sagen? Weißt du, da war so ein Typ im Laden. Bevor ich seine Haut berührt habe, wurde mir auf einmal total schlecht und ich konnte die Stimmen nicht mehr aus meinem Kopf ausschließen. Aber am seltsamsten war es, als er meine Hand angefasst hat. Ich hab den Schlag am ganzen Körper gespürt und meine Hand ist immer noch taub davon. Und er hat es auch bemerkt! Seitdem ist es grabesstill in meinem Kopf, ich kann keine einzige fremde Stimme mehr hören. Nein, ich glaube dabei hätte selbst Ines schwer schlucken müssen und verstohlene, besorgte Seitenblicke wären mir sicher gewesen. Selbst mir fiel es schwer, das alles zu glauben und ich war hautnah dabei gewesen. An dieses komische Gefühl von Vorahnung, die Gewissheit dass es klick machen würde, durfte ich gar nicht erst denken. Das hatte ich auch noch nie erlebt. Meiner Schwester zuliebe pflasterte ich mir ein hoffentlich überzeugendes Lächeln aufs Gesicht, seufzte erschöpft und schüttelte den Kopf.
„Wirklich, Ines. Ich bin einfach nur kaputt. Die Chefin kam natürlich wieder erst eine Viertelstunde nach Ladenschluss und das mit der Abrechnung hat auch wieder ewig gedauert. Wenn sie mir die Zeit wenigstens bezahlen würde, aber … Na ja, im Herbst such ich mir vielleicht was Neues.“ Inessa nickte. Das Thema war altbekannt und sie hatte mir ihre Meinung dazu schon oft genug unter die Nase gerieben.
„Ist was zum Abendessen da?“, erkundigte sie sich als sie ihre Adleraugen endlich von mir ablenkte und in die Küche schlenderte.
„Nope. Wir sind wieder mal auf uns allein gestellt.“, antwortete ich mit einer Handbewegung auf meinen missglückten Versuch Brot zu buttern. „Frag mich nicht wo Papa ist. Er sollte nebenan im Hotel sein, aber ich hab noch nicht nachgeschaut. Mama ist wahrscheinlich noch bei dieser Tourismusveranstaltung.“ Inessa rollte mit den Augen und nahm mir das Messer aus der Hand.
„Leg das bloß weg. Am Ende hackst du dir ausversehen noch selber einen Finger ab und ich bin dann diejenige, die den Notarzt rufen und dich am Verbluten hindern muss. Außerdem, was ist denn das für ein Abendessen?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und versuchte vergeblich ein Grinsen zu unterdrücken und mich mit einem strengen Gesichtsausdruck zu beeindrucken.
„Was schwebt dir denn so vor?“, hakte ich nach, obwohl ich wusste, was unvermeidlich kommen musste.
„Pizza!“, schallte es dementsprechend gleichzeitig aus unseren Mündern, bevor wir kichernd zum Telefon liefen und dem Lieferdienst unsere Bestellung mitteilten.

* * *​


Kurz nach Mitternacht ließ ich mich schließlich auf mein Bett fallen. Ich starrte die Decke an, auf die die Straßenlaterne vor dem Haus schlierenhafte Schatten pinselte. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei und ließ Lichtstrahlen über die Wände wandern. Inessa saß noch immer im Wohnzimmer vor dem Fernseher und das gedämpfte Gelächter einer Sitcom überwand selbst zwei Stockwerke und meine geschlossene Zimmertür. Ich presste meine Handflächen gegen die Augen, bis ich kleine Sterne sah. Seufzend schlüpfte ich unter die dünne Bettdecke und knipste das Licht auf meinem Nachttisch aus. In der Küche klapperte Geschirr und Mamas Lachen drang nach oben. Das war der Vorteil, wenn man in einem Hotel wohnte: der Lebensrhythmus war immer ein bisschen anders. Oder zumindest war er das bei uns.
Kurz nach Ines` Geburt hatten meine Eltern einen großen Kredit aufgenommen und im Nürnberger Stadtteil St. Johannis zwei alte Sandsteinhäuser gekauft, die „Rücken an Rücken“ standen, wie meine Mutter es auszudrücken pflegte. Das größere Vorderhaus beherbergte Gästezimmer, Speisesaal und Rezeption und besaß einen so großen Vorgarten, dass zwei Terrassen, ein Sandkasten mit Schaukel und genügend Grasfläche darin Platz fanden, dass mein Vater sich allein beim Blick aus dem Fenster jedes Mal lautstark über das anstehende Rasenmähen beklagte. Unsere Familie war im Hinterhaus untergebracht. Papa verbrachte die meiste Zeit des Tages im "Nürnberger Sandhaus", während Mama zusätzlich in Tourismusverbänden, Stadtführungen und zig anderen Sachen mitmischte. Irgendjemand war fast immer wach - Papa meistens schon vor Sonnenaufgang, Mama in der Regel bis tief in die Nacht hinein und Ines und ich irgendwo zwischendrin. Und während der Rest meiner Familie wahrscheinlich gerade einen improvisierten Mitternachtssnack einnahm, war ich ins Bett geschickt worden. Nur weil in der Schule Notenschluss vorbei war, bestand ja immer noch Anwesenheitspflicht. Als ob ich mich morgen in der Schule auf irgendetwas konzentrieren konnte! Ich wälzte mich jetzt schon alle halbe Minute auf die andere Seite, zog die Bettdecke hoch, strampelte sie auf den Boden, öffnete das Fenster, schloss es, kippte es und schaltete abwechselnd meinen CD-Player ein und aus.
Meine rechte Hand prickelte unangenehm und das Taubheitsgefühl zog sich allmählich zurück. Wieder und wieder spielte sich in meinem Kopf die Begegnung mit Blauauge ab, die nicht länger als eine Minute gedauert haben konnte, aber sich wie Stunden anfühlte. Ich war mir mittlerweile absolut sicher, dass er auch etwas gespürt hatte, dass seine Reaktion nicht nur durch mein auffälliges Verhalten ausgelöst worden war. Hatte sich mein „Talent“ weiterentwickelt und es war einfach das erste Mal gewesen, dass ich schon vor der Berührung wusste, was passieren würde? Oder hatte es an ihm gelegen? Ich tendierte dazu, ihm die Schuld zuzuschreiben, nicht nur, weil er auch etwas gefühlt hatte, sondern vor allem weil ich noch nie einen so starken Schlag abbekommen hatte. Das war ja schlimmer gewesen, als an einen elektrischen Weidezaun zu fassen!
Mein Wecker zeigte 1:45 Uhr an als ich endlich zu dem Schluss kam, dass meine heftige Reaktion darauf zurückzuführen war, dass Blauauge selbst eine ähnliche Fähigkeit haben musste. Aber was, um Himmels Willen, hatte er gemeint, als er sagte: Gib Acht, dass die Rote dich nicht entdeckt. Der Berg ist tief und einmal gefangen, lässt sie dich nicht mehr gehen. Hatte er mich verwechselt? Wohl kaum. Seine Worte hallten in meinem Kopf. Ich dämmerte in einen Halbschlaf und die Sätze verfolgten mich so lange, bis ich wieder aufwachte, nassgeschwitzt und kalt. Entnervt setzte ich mich auf, lehnte mich gegen die Wand, an der mein Bett stand, und starrte in die Dunkelheit. Es war still im Haus. Draußen nieselte es, die Luft, die durch mein gekipptes Fenster drang, war angenehm warm und duftete frisch. Stille. Ein Luxus, den ich normalerweise schätzte. Bisher hatte ich noch kein Muster entdeck, auf welche Personen ich auf meine besondere Weise reagierte, aber es gab immer genügend zufällige Begegnungen um sicherzustellen, dass die Gespräche über den ein oder anderen Menschen in meinem Kopf landeten. Ich hatte gelernt damit umzugehen und wenn ich eine dieser Personen länger als vier Wochen - oder einen Mondzyklus - nicht berührte, verschwand sie aus meinem Repertoire. Nachts hatte ich meinen Kopf meist für mich allein. Aber in dieser Nacht machte mir die Stille Angst. Oft genug hätte ich mein Talent am liebsten zum Teufel gejagt oder überlegt, ob ein Psychiater nicht vielleicht doch die richtige Anlaufstelle für mich wäre. Einfach ein paar Tabletten schlucken und die Stimmen würden aus meinem Kopf verschwinden. Theoretisch zumindest, aber es klang doch verlockend. Im Moment aber nagte die Stille an meinem Innersten und Einsamkeit grub sich kalt in mich hinein.
Sauer auf meine blöde, kindische Reaktion und wütend mit der Welt an sich, tastete ich unter meinem Bett so lange, bis ich Kori, mein altes Kuscheltier hervorgefischt hatte. Während andere Kinder Bären oder Hasen als Kuscheltiere bekamen, hatte meine Oma mir ein seltsames Plüschvieh geschenkt, das fast so wie ALF aussah, nur schlammgrün war und eine kürzere Schnauze hatte. Ich hatte mich schon häufig gefragt, wo sie dieses Ungetüm aufgetrieben hatte, denn normale Spielzeugläden führten wohl kaum ein Feenwesen aus der Bretagne als Kuscheltier. Mir war es egal gewesen, dass ich statt eines Teddybären eine Korrigan hatte, die ich nachts fest an mich drücken konnte, und lange Zet hatte ich mich geweigert, sie auch nur für kurze Momente aus den Augen zu lassen. Omas Faszination mit keltischen, besonders bretonischen, Mythen voller Feen und Fabelwesen hatte ich nur bis zu einem bestimmten Alter geteilt und irgendwann abgelegt wie meine Kuschel-Kori. Jetzt allerdings kam sie mir vor wie der Retter in der Not. Mit ihr im Arm verkroch ich mich unter meine Decke. Ich war müde und morgen hatte ich immerhin sechs Stunden Schule vor mir. Wir hatten noch kein einziges Mal Hitzefrei gehabt. Deutsch, Erdkunde, eine Doppelstunde Englisch, Reli - außer Geo war Mathe das einzige Highlight in der sechsten. Langsam kehrte Ruhe in meine Gedanken ein. Meine Finger gruben sich in Koris Fell und Müdigkeit schwappte durch meinen Körper.
War das der Regen, der gegen mein Fenster tröpfelte? Träge strich ich mir mein Haar aus dem Gesicht. Es rauschte und knackte. Aber mein Radio war ausgeschalten. Entnervt presste ich die Augen zusammen, hielt mir die Ohren zu. War es denn zu viel verlangt, einfach ein paar Stunden schlafen zu wollen?! Das Rauschen wurde lauter, mal höher, mal tiefer, als ob jemand im Radio einen Sender suchte. Dann brach es ab. Ein, zwei Sekunden war es still. Angespannt lag ich im Bett und lauschte. Dann war die Funkstille der letzten Stunden vorbei. Eine Stimme vibrierte in meinem Kopf. Ich hatte sie noch nie gehört und sie nannte keine Namen. Aber so wie ich mir sicher war, dass ich Siri hieß, so sicher wusste ich, über wen geredet wurde. Es war der erste Satz, der sich in mein Gedächtnis einbrannte, in meinem Kopf nachklang und jeden Gedanken an Schlaf vertrieb. Er hallte selbst dann noch wider als die Sonne den Horizont hochkroch und ich vor meinem geöffneten Fenster stand und dem Himmel zusah, wie er sich langsam rot färbte, wie ein Taschentuch, das Blut aufsaugte.
Dann bringen wir ihn um. Tot macht er uns keinen Ärger mehr. Je rascher desto besser.
Die Sonne stand rot am fahlen Morgenhimmel. Mir fröstelte.
 



 
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