Blaue Flecken

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Naima Kruse

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Blaue Flecken

Sie trug einen Wollpullover mit überproportional langen Ärmeln. Den Wollpullover, der sich anfühlte wie ihre Vorstellung von dem was passiert, sollte man es sich mit einer Horde Feuerameisen verspaßen. Ein selbstgestricktes Weihnachtsgeschenk ihrer Mutter. Das lange, aschblonde Haar trug sie offen. Den Hals von einem gemusterten Schal bedeckt.


An diesem Juniwochenende betrug die Außentemperatur 35°C.


„Du kommst ja nur so selten vorbei“. In der letzten halben Stunde hatte ihre Mutter diesen Satz erst dreimal über die Lippen gebracht. Sie antwortete nicht. Blickte stattdessen ausgesprochen konzentriert auf die halb geschälte Kartoffel in ihrer Hand, um den Anschein zu erwecken, diese Tätigkeit beanspruche die Gesamtheit ihrer kognitiven Fähigkeiten. „Wärst du so lieb?“ Ihre Mutter gestikulierte in Richtung des Salzstreuers. Wortlos reichte sie ihr das gläserne Gefäß, darauf bedacht, ihre Hand nicht ausversehen zu streifen. In der Bewegung verrutschte der Stoff ihres Pullovers. Der Unterarm lag frei. Entblößt. Ungeschützt. Kaum war es passiert, war es auch schon wieder vorbei. Bemüht, nicht hektisch zu wirken, senkte sie ihren Arm, der augenblicklich wieder hinter dem Vorhang verschwand. Aber es war genug. Sie wusste, dass sie es gesehen hatte. Das tat sie immer. Erst blau, dann lila, dann grün. Langsam kletterten die Flecken ihren Unterarm entlang. Mittlerweile sagte ihre Mutter auch gar nichts mehr dazu. Man konnte lediglich erkennen wie ein Ansatz von Mitleid über ihr Gesicht huschte. Sie öffnete sogar kurz den Mund, nur um ihn im selben Moment wieder zu schließen, ohne ein Wort von sich gegeben zu haben. Aber das war auch nicht nötig. Ihre Mutter brauchte es nicht auszusprechen. All die Sorgenfalten, die ihre Stirn zeichneten, taten es für sie: Wann hat das ein Ende? Warum machst du nicht einfach Schluss?


Es war bereits Abend geworden. Ein distanzierter Kuss auf die Wange zum Abschied. Mehr zum Zweck der Geste als aus Zuneigung. Nun stand sie vor der morschen Holztür ihrer Wohnung. Die Hand auf der Klinke. Ihr entwich ein tiefer Atemzug. Hatte die Luft mal wieder unbewusst angehalten. Sich an ihr festgehalten . Das Scharnier gab einen leisen Schrei von sich und die Tür gab nach. Sie betrat die Wohnung. Den abgenutzten Parkettboden schmückte eine Reihe zweckentfremdeter Behälter. Marmeladengläser, Konserven, Joghurtbecher. Alle standen sie bis zur Hälfte voll mit Wasser, das von der Decke tropfte. Auf dem alten Polyestersessel stapelte sich ein Meer aus Briefen. Die Anschriften sämtlicher Kunsthochschulen verschwammen ineinander. „Vielen Dank für Ihr Interesse“, haben sie gesagt. „Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Bewerbung“, haben sie gesagt. Aber einen freien Ausbildungsplatz habe keiner. Sie wendete den Blick ab. Befreite sich hastig aus dem Foltergewand. Ließ es zu Boden fallen. Steckte die Haare hoch und kehrte das von Schweiß durchtränkte Kleiderbündel beiläufig unter den Schreibtisch. Im nächsten Moment stand sie vor der weißen Leinwand. Vollkommen unberührt. Mit Leere gefüllt. Die rechte Hand verschwand im Farbeimer. Für Pinsel fehlte ihr das Geld. Stück für Stück verschmolz ihr Körper mit den Farben. Die Welt versank, umhüllt vom Schleier ihrer Leidenschaft. Immer wieder tauchte ihre Hand ein. Auf die Leinwand. Farbe. Leinwand. Farbe. Erst blau, dann lila, dann grün.
 
Hallo Naima Kruse,

bis zum Schluss bin ich drauf reingefallen - habe ein anderes Ende erwartet.
Richtig, richtig gut geschrieben - du spielst mit den Erwartungen des Lesers und schmierst ihn dann an.

LG SilberneDelfine
 
G

Gelöschtes Mitglied 24147

Gast
Wer mit den Zulassungsverfahren zu den Kunsthochschulen ein wenig bewandert ist, weiß, dass sich die von allen anderen Sparten so gut wie gar nicht unterscheiden - wer nichts kann und nichts weiß, sondern sich nur für etwas hält, hat denkbar schlechte Papiere. Warum sollte es für "KünstlerInnen" gegenüber Handwerkern, Ingenieuren, Volksschullehrern, Medizinenern oder Berufsfußballern Ausnahmen geben? Gottlob wird hierzulande ja niemand gezwungen, sich für einen Künstler zu halten, Glaser oder Bibliothekarin zu werden. Noch haben wir freie Berufswahl, und zuallerletzt kann man ja immer noch mit ein bisschen Bürgergeld, ein wenig Schwarzarbeit und Schnorrerei zwar bescheiden, aber doch einigermaßen gesichert alt werden. Auch als "Künstler".

anschi
 
G

Gelöschtes Mitglied 24694

Gast
Hallo @Naima Kruse,

ein prima Text, in dem du den Leser geschickt aufs Glatteis führst.


Ein lieber Gruß
AVALON
 



 
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