Blaue Linie

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Mimi

Mitglied
Staub liegt in der Luft. Es ist, als würde die Zeit hier nicht voranschreiten, als sei jeder Moment nur ein Echo des vorherigen.
Ich sitze auf der alten Mauer, von der man über das Tal blickt, das einmal grün gewesen ist.
Jetzt ist es nur eine brüchige Linie zwischen Himmel und Erde, alles in der Ferne verschwimmt im dunstigen Grau.
Die Stimmen der Anderen dringen gedämpft zu mir herüber.
Sie sprechen leise, fast flüsternd, als könnten Worte etwas zerbrechen, das noch in der Schwebe ist. Ich verstehe kaum, was sie sagen, nur Fetzen, Bruchstücke eines Gesprächs, das längst nicht mehr meines ist. Ihre Blicke meiden den meinen, und ich frage mich, ob sie es spüren. Dieses Schweigen zwischen meinen Rippen, dieses ungesagte Gewicht.
Unter mir, am Fuß der Mauer, ragt der Olivenbaum aus der Erde, knorrig, uralt.

Ich erinnere mich, wie ich ihn das erste Mal gesehen habe, Jahre zuvor, als alles noch anders war. Samir hielt meine Hand fest umschlossen, führte mich grinsend unter die schattigen Äste des Baumes. Ganz dicht standen wir beieinander, Stirn an Stirn, als ob uns nichts trennen könnte und lauschten dem leisen Blätterrauschen.

Doch jetzt, während der Wind durch die verdorrten Blätter fährt, klingt es wie ein Abschiedslied, das sich immerzu wiederholt.
Die Hitze des Tages schwindet, doch ich spüre sie kaum noch. Stattdessen ist da diese Kälte, die aus dem Boden zu kommen scheint, durch die Mauer hinauf in meine Beine kriecht und sich in meinem Bauch festsetzt. Ich könnte einfach aufstehen, könnte zurückgehen zu den Anderen, aber die Schwere in meinen Gliedern hält mich gefangen. Der Himmel färbt sich rot, ein Glühen, das an vergangene Sommerabende erinnert, doch es gibt keinen Trost darin, nur eine ferne Erinnerung an etwas, das vielleicht nie wirklich existierte. Ein Gedanke stiehlt sich in meinen Kopf, leise, fast ungreifbar, und ich lasse ihn zu. Die Frage, ob es einen Unterschied macht, ob ich hier sitze oder nicht. Ob irgendetwas von dem, was ich tue oder denke, diese Erde unter meinen Füßen verändern kann. Oder ob ich längst zu einem Teil dieser Landschaft geworden bin, so fest verwurzelt wie der alte Baum da unten.

Ich sehe Samir noch immer vor mir, sein Gesicht im fahlen Licht der Dämmerung. Es war nicht der Knall, der das Schweigen brachte, nicht der Moment, als sein Körper fiel. Es war das Danach, das Aufstehen, das Weitergehen, als hätte die Welt einfach beschlossen, dass nichts passiert ist. Der Schmerz lag nicht im Verlust, sondern in der Gleichgültigkeit, in der Art, wie das Leben einfach weiterging, als wäre alles bedeutungslos.

Die Dunkelheit breitet sich aus, und die ersten Sterne blitzen am Himmel auf. Ich schließe die Augen, lausche dem Wind und dem fernen Surren der Rotoren.
Hier, entlang der Linie, finde ich das, was ich suchte. Eine Antwort, so klar und schneidend wie der Schmerz, der sie mit sich bringt.
Ich lasse die Antwort unausgesprochen, schlucke sie wie eine bittere Pille hinunter.
 

Zensis

Mitglied
Hey Mimi,
das gefällt mir unglaublich gut. Ich lese normalerweise eher keine Kurzprose, jetzt hatte ich aber den plötzlichen Impuls dazu dein Werk zu lesen und ich freue mich sehr, dass ich ihm nachgegangen bin. Es ist so wundervoll gefühlvoll geschrieben. Die Landschaft, der beschrieben Augenblick, die Einsamkeit in der Gruppe, die Melancholie, der Schmerz. Es breitet sich alles so greifbar und nahbar beim lesen vor mir aus, ich bin wirklich ganz entzückt!

Sehr sehr gern gelesen und liebe Grüße
Zensis
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mimi,

ich denke, dass es in deiner Kurzprosa um die Demarkationslinie zwischen dem Libanon und Israel geht.
Da ist so viel Schmerz und Sprachlosigkeit. Das ist in Worten eigentlich nicht zu fassen.
Ich empfehle den Text.

Liebe Grüße
Manfred
 

Mimi

Mitglied
ich denke, dass es in deiner Kurzprosa um die Demarkationslinie zwischen dem Libanon und Israel geht.
Da liegst Du völlig richtig, lieber Manfred.
Bei der Blauen Linie handelt es sich um die
von den UN als temporäre Grenze gezogene Demarkationslinie zwischen dem Libanon und Israel.
Ich war das letzte Mal 2017 an dieser Grenze, in der Nähe des Dorfes Kafr Kila auf der libanesischen Seite.
Wenn ich die Bilder heute sehe, macht mich das mehr als sprachlos.

Dankeschön fürs Lesen, Bewerten und die Empfehlung!

Gruß
Mimi
 

Mimi

Mitglied
"typisch für diesen Autor - verkitschter Liebeskrempel"

Lieber @wiesner, der "verkitschte Liebeskrempel" sei Dir unbenommen - (auch wenn ich es entschieden anders sehe.)
" typisch für diesen Autor" ist wahrscheinlich eher der aktuellen Hitze geschuldet ... bekommt halt nicht jedem.

Gruß
Mimi
 

wiesner

Mitglied
Und Dir sei's unbenommen, alles entschieden anders zu sehen.
Aber dass Du mich hier als Hitzegeschädigten hinstellst, ist eine Unverschämtheit. Ich habe bei meinem kürzlichen Italienaufenthalt sehr viel geschrieben - und ich habe es auch für die Leselupe getan!

B.W.
 

Zensis

Mitglied
Aber dass Du mich hier als Hitzegeschädigten hinstellst, ist eine Unverschämtheit.
Eigentlich geht mich eure Auseinandersetzung ja nichts an, aber einen Text als verkitschten Liebeskrempel zu bezeichnen, finde ich zu aller erst sehr unverschämt und respektlos. Gleichsam, alle anderen Texte der Autorin direkt mit abzuwerten, mit einem "typisch für den Autor". Das hat nichts mit einem konstruktiven Beitrag oder Ähnlichem zu tun, sondern ist einfach nur beleidigend.
 

Mimi

Mitglied
Gleichsam, alle anderen Texte der Autorin direkt mit abzuwerten, mit einem "typisch für den Autor". Das hat nichts mit einem konstruktiven Beitrag oder Ähnlichem zu tun, sondern ist einfach nur beleidigend
Das ehrt Dich, lieber Zensis, aber nicht jeder Beitrag auf der Leselupe ist nun einmal konstruktiv, wie auch immer man "konstruktiv" auslegen möchte.

Sollte wiesner doch noch etwas halbwegs Konstruktives zu meiner Kurzprosa nachlegen wollen, bin ich gerne bereit ihm "zuzuhören".
Alles andere hat in den Werksforen sowieso nichts zu suchen ...

Gruß
Mimi
 

fee_reloaded

Mitglied
Das Tolle an deinem Text, liebe Mimi,

ist doch, dass eben genau nichts Verkitschtes darin zu finden ist, und dennoch das Gefühl nicht zu kurz kommt. Perfekt dosiert, würde ich das nennen.
Ich lese darin Wehmut und Restspuren einer Fassungslosigkeit, die die Menschlichkeit gebietet.

Sehr gerne gelesen und den sanften Wind im Olivenhain gespürt. Der kennt keine blauen Linien.


Liebe Grüße,
fee
 

Mimi

Mitglied
dass eben genau nichts Verkitschtes darin zu finden ist, und dennoch das Gefühl nicht zu kurz kommt. Perfekt dosiert, würde ich das nennen.
Dankeschön, fee, für Deine Rückmeldung bzw. Einschätzung.
Denn um "Kitsch" oder "Liebeskrempel" (die ja durchaus ihre Daseinsberechtigungen haben) ging es mir in dieser Kurzprosa nun wirklich nicht.

Mich hat Dein Kommentar sehr gefreut!

Gruß
Mimi
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Denn um "Kitsch" oder "Liebeskrempel" (die ja durchaus ihre Daseinsberechtigungen haben) ging es mir in dieser Kurzprosa nun wirklich nicht.
Tja Mimi, um das zu erkennen, hätte der verehrte Kollege deine Kurzprosa auch lesen müssen.

Liebe Grüße
Manfred
 

John Wein

Mitglied
Werte Mimi,

Als ich den Beitrag las, kannte ich weder die Überschrift noch die Kommentare. Deshalb bewerte ich das Werk aus dieser persönlichen, noch unbeeinflussten Sicht.

Die ersten Sätze führten mich in die Stimmung eines noch nicht bekannten Vorgangs. Ich sehe eine Landschaft, karg und verbrannt und höre Stimmen und nun mit dem Olivenbaum grenzt sich schon die Lage des Geschehens ein. Es könnte Spanien sein oder Griechenland oder der Nahe Osten o.m.

Der Name Samir gibt mir jetzt einen weiteren noch unbestimmten Hinweis. Dann kommt die melancholische Rückbesinnung, die mich sacht und voller Spannung auf den Kern der Geschichte vorbereitet.

Im vorletzten Abschnitt, ohne weitschweifiges Ausholen ein Knall, die Auflösung. Danach und das ist für mich die eigentliche Tragödie des Vorfalls, geht die Zeit wieder über das Geschehen hinweg in den Modus der Tagesordnung. Alles wie gehabt, gehen sie weiter, da gibt’s nichts zu sehen.

Noch meine Anmerkung: Ich sehe hier keine verkitschte Romanze, vielmehr ein gefühlvolles und ohne Direktbeschreibung verfasste Geschichte, die zum Denken (nach…denken) anregen soll.

Liebe Grüße,

J.W.
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Mimi,

fulminante Schilderung einer inneren Zerrissenheit. Klug gewählte Metapher. Folgenden Satz find ich besonders stark:

"Der Himmel färbt sich rot, ein Glühen, das an vergangene Sommerabende erinnert, doch es gibt keinen Trost darin, nur eine ferne Erinnerung an etwas, das vielleicht nie wirklich existierte."

VG,
V
 

Mimi

Mitglied
Noch meine Anmerkung: Ich sehe hier keine verkitschte Romanze, vielmehr ein gefühlvolles und ohne Direktbeschreibung verfasste Geschichte, die zum Denken (nach…denken) anregen soll.
Lieber John,
Dankeschön für Deine Rückmeldung und insbesondere Deiner Anmerkung oben.

Ich habe mich über Deinen Besuch hier sehr gefreut!

Gruß
Mimi
 

Mimi

Mitglied
Grüß Dich, Vitelli,
auch an Dich ein Dankeschön für Deinen Kommentar und die gute Bewertung.
Ich habe ja gefühlt schon länger nichts mehr von Dir hier auf der Leselupe gelesen, (zugegeben; hab' ja selbst kaum noch Zeit) umso mehr hat es mich natürlich gefreut, dass Du meine Kurzprosa gelesen hast.

Gruß
Mimi
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Mimi,

ich freue mich von dir zu lesen. Ja, bei mir war sehr viel los die letzten Jahre - Einschneidendes und Prägendes -, daher blieb für Hobbies kaum Zeit. Oder ich hatte den Kopf nicht frei. Aber nun bin ich back on track.

Hoffe, dass du uns trotz Zeitmangel erhalten bleibst.

VG,
V
 

Agnete

Mitglied
sehr gut geschriebene lyrische Kurzprosa, Mimi Du schreibst in einem den meinen ähnlichen Stil. Klar, dass mich das begeistert. :) LG von Agnete
 

Mimi

Mitglied
Dankeschön, liebe Agnete, für Deine positive Rückmeldung.

Hat mich natürlich gefreut!

Gruß
Mimi
 



 
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