Bleib doch

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Rafi

Mitglied
Bleib doch

Schmerz! Das war das Erste, was er spürte, was er dachte, als sein Verstand sich aus der Trägheit des Schlafes löste. Hinter seinen Augen pochte es und glühte. Hunderte von Insekten stachen von innen in seine Schädeldecke, bissen sich fest und schlugen mit ihren Flügeln. Seine Beine waren verkrampft, sein Arm, verwinkelt unter dem Kopf, taub. Etwas drückte in seinem Magen und brodelte, wollte nach oben.
Mühsam öffnete er die Augen; sie waren verklebt. Wie durch Milchglas erkannte er sein Wohnzimmer. Er war auf der Couch eingeschlafen. Wie er nach Hause gekommen war, wusste er nicht. Zu viel Whiskey, zu viele Zigaretten. Zu viel, alles viel zu viel …
Warum war er aufgewacht? Sicher nicht, weil er seinen Rausch schon ausgeschlafen hatte. Er lauschte. Ein Geräusch holte ihn weiter in die Wirklichkeit. Das Rasseln des Schlüsselbundes. Ein Schatten fiel auf ihn. „Du …“, hörte er seine eigene Stimme, die rissig klang und fremd.
„Du siehst beschissen aus.“ Dies war nicht seine Stimme. Diese klang hart, doch auch vertraut.
Er richtete sich auf, ächzte, fasste seinen Kopf und drückte ihn. Dann rieb er sich die Augen, sah klarer. Den Blick, der ihn traf, die hochgezogene Braue, typisch. Diese Braue, nur die rechte, drückte Abscheu aus, Ekel vielleicht. Kein Mitleid.
„Du bist wieder da?“, fragte er, und in ihm regte sich Hoffnung wie ein Funken in einem erloschenen Feuer.
„Nur um ein paar Sachen zu holen. Die letzten. Ich koch Kaffee.“
Ein Dienst, erwiesen aus Erbarmen. So, wie man einem Bettler am Straßenrand eine Münze in seinen Plastikbecher wirft. Einen Schritt weiter ist er vergessen.

Er ging ins Bad und wusch sich. Dann saßen sie einander gegenüber, und sie spürten, dass nichts mehr zu sagen war. Die Duelle waren ausgefochten. Alle Vorwürfe waren gemacht, ein jeder von ihnen hatte längst die Fehler des anderen in harte Worte gepackt und sie wie Fausthiebe benutzt. Verletzungen hatten sie einander zugefügt, Wunden geschlagen, Narben hinterlassen. Schreien und weinen, ringen und küssen; und am Ende doch verloren, beide, aufgegeben. Wofür das alles, wofür? All die Liebe und all der Hass. Diese vielen gemeinsamen Jahre; die zahllosen allein verbrachten Nächte. Wofür?
„Soll es das wirklich gewesen sein?“ Er sah das Schulterzucken. Gleichgültig; hilflos. „Was … was soll ich sagen. Ich will nicht, dass es so endet. Einfach so. Einfach so banal.“
„Wie sollte es denn enden, deiner Meinung nach?“
„Ich weiß nicht“, antwortete er. „Vielleicht so – ja, vielleicht, wie es angefangen hat zwischen uns. Erinnerst du dich?“
„Natürlich erinnere ich mich. Damals waren wir jung. Einfach angesprochen hast du mich und von meinen Augen geschwärmt. Dass sie wie zwei tiefe Seen seien, hast du gemeint, unergründlich und geheimnisvoll. Du konntest immer schon schöne Worte finden. Aber es waren doch nur Worte.“
Er lächelte. „Ja, ich war ganz verrückt nach ihnen. Vom ersten Moment an. Immer wollte ich sie sehen, diese wundervollen Augen. Mein Leben lang.“
„Ich wollte nicht schlafen, damals. Niemals wieder, damit du nicht fort bist, wenn ich aufwache. Und doch konnte ich nur noch schlafen, wenn du neben mir lagst und ich in deinem Arm.“
„Was ist nur geschehen? Sag mir, was?“ Er wollte nach der Hand greifen, die die Kaffeetasse umfasste, zögerte, nahm stattdessen seine eigene Tasse.
„Wir haben es am Ende doch nicht anders gemacht als alle anderen. Wir wollten es, ja, wir hatten es uns vorgenommen. Aber dann ist es doch so gekommen wie bei allen.“
„Ein Haus wollten wir bauen mit einer Bank davor im Garten.“ So klar sah er diesen alten Traum vor sich, als sei er längst in Erfüllung gegangen. „In den Sonnenuntergang wollten wir blicken. Später, wenn wir alt und müde geworden wären. In unseren Sonnenuntergang, in unseren.“
„Ein Träumer warst du immer. Hast vom Süden geschwärmt, von Italien und von Spanien. Da wolltest du unser Haus bauen und die Bank davor stellen.“
„Du wolltest bleiben“, sagte er. „Also blieb ich auch. Trotz allem.“
Da war sie wieder, diese Augenbraue, die Vorwurf war und Zweifel. „Du bist nicht wegen mir geblieben, nicht wegen mir. Weil du meintest, dass wir es allen anderen zeigen müssten, ihnen beweisen, dass wir es schaffen. Deswegen bist du geblieben, sind wir geblieben.“

Sie schwiegen, weil sie spürten, dass sie zwei Raubtiere wurden, die angriffslustig mit den Krallen im Sand scharrten. Keine Kämpfe mehr. Sie waren zu erschöpft.
„Ich hab in den letzten Tagen sogar versucht, deinen Namen zu vergessen“, sagte er leise. „Ich wollte nicht länger den Gang anderer mit deinem vergleichen. Sinnlos, so sinnlos. Du bist doch noch überall.“
„Du hast mich zu spät gesehen.“
Er seufzte, starrte auf die Hand, die schöne, welche sich an die Kaffeetasse klammerte. „Du trägst den Ring nicht mehr“, stellte er fest.
„Ich habe ihn nicht mehr.“
„Warum? Was hast du damit gemacht?“
„Ich hab ihn in unseren See geworfen.“
Ihr See! Die dunkle, ruhige Fläche tauchte vor ihm auf. Wie oft waren sie am Anfang in den Sommernächten hinausgeschwommen, weiter und weiter, ließen das Ufer hinter sich. Dort hatte er damals den Ring über die Stelle am Finger gestreift, die nun blass wie eine Narbe wirkte. Eine Narbe wie die an der Wand, die zuvor von einem Foto verdeckt worden war. Zwei Gesichter aneinander geschmiegt. Glücklich. Lächelnd. Voller Zuversicht. Nun waren sie in einem Koffer vergraben, die Gesichter von einst. Tief im Dunkeln. Narben an Ringfingern und Narben auf vergilbten Tapeten hatten etwas Endgültiges. Etwas Trauriges. Wie leere Gedanken, deren Sinn im Fegefeuer der vergessenen Gefühle verloren gegangen war.

„Warum willst du gehen?“, fragte er unvermittelt. „Sag mir – was habe ich falsch gemacht?“
„Hast du es denn nicht bemerkt? Dass unsere Körper gläserner wurden. Wir kennen uns zu genau. Jeder von uns sieht durch den anderen hindurch, sieht ihn nicht mehr. Nur die Schwächen. Darum konnten wir uns so leicht und so tief verletzen.“
„Ich wollte dich nie verletzen.“
„Es tat weh, nachts neben dir zu liegen.“
„Ich wusste nicht, dass es weh tat. Verzeih.“
„Dein schwerer Arm, dein schwerer Atem, deine schweren Bewegungen. Alles, alles hat mich erdrückt, bis ich glaubte, kleiner zu werden und immer kleiner. Ich bekam keine Luft mehr.“
„Vielleicht wollte ich dich wärmen – vielleicht habe ich Wärme gesucht.“

Eine Mauer aus Stille baute sich zwischen ihnen auf. Die Hand mit der Narbe am Ringfinger hob die Tasse zu den Lippen, die voll waren und sanft geschwungen. Ein letzter Schluck. „Ich denke, ich habe alles. Würdest du mir ein Taxi rufen?“
Er erstarrte. War das wirklich das Ende? Ein gepackter Koffer, eine leere Tasse. Ein Taxi. Einsamkeit floss in ihn wie zäher Brei. So plötzlich, so schmerzhaft. Er hatte Angst. Angst, zu sterben. Angst, zu leben

Die Straße war kalt und zugig. Es hatte geregnet.
„Bleib doch“, sagte er leise und sah nicht auf dabei. „Können wir nicht alles vergessen, was war? Die Vergangenheit vergessen?“ Seine Stimme zitterte. Seine Hände zitterten. „Die Zeit, in der wir zu schwer füreinander wurden. Bleib doch.“
„Ich sehe dich nicht mehr.“
„Aber … ich kann mich ändern, kann alles ändern. Wenn du nur bleibst. Ich schenke dir einen neuen Ring, den ich mit meinen eigenen Händen schmiede. Ich reise mit dir, reise nach Italien und nach Spanien, ich baue uns ein Haus mit einer Bank davor im Garten, wo wir in den Sonnenuntergang blicken, in unseren Sonnenuntergang. Bleib doch.“
Die Hand mit ihren langen, schlanken Fingern, die von keinem Ring mehr geschmückt wurden, streichelte sein Gesicht. „So schöne Worte. Und doch nur Worte.“
„Nein, nicht nur Worte. Ein Bekenntnis. Ich schreibe Gedichte für dich, Lieder. Wenn du nur bleibst, bei mir bleibst.“ Seine Stimme wurde zum Flehen. „Ich war doch dein Prinz, das hast du gesagt. Und soll ich denn nun sterben, wenn ich zum Bettler werde? Wenn ich um deine Liebe bettel.“
Ein Lächeln auf den schönen Lippen war die Antwort. Weiter nichts.
„Bleib doch. Bleib doch bei mir“, flehte er weiter. „Unsere Liebe, sie kann ganz neu erblühen. So wie ein Baum, der im Winter wie tot scheint. Im Frühling aber, im Frühling, da treibt er Knospen aus und Blätter, und er lebt. Lass uns doch das Dunkel verjagen, lass uns Fackeln anzünden und einen neuen Anfang wagen.“
„Ach, mein Lieber. Du sagst so viel. Aber du sagst nichts wirklich.“
„Ich schweige. Ja, ich sage nichts mehr, wenn du es willst. Glaub mir, ich werde nicht mehr jammern und nicht mehr betteln. Ganz still werde ich sein, ganz still, wenn du es willst. Ich möchte nur bei dir sein, möchte deine Augen sehen. Ich will …“
„Da kommt mein Taxi.“
Er fiel auf die Knie. Es begann wieder zu regnen. „Bleib doch. Ich liebe dich, Harald. Ich liebe dich …“
„Ach, Georg, mein lieber, lieber Georg. Es ist vorbei.“
Er gab dem Fahrer seinen Koffer, stieg ein. Ein letzter Blick durchs Fenster, das vom Regen getrübt war wie eine Milchglasscheibe. Ein letztes Winken. Er sah nicht die Tränen auf Georgs Wangen, die sich mit dem Regen vermischten.
 
A

aligaga

Gast
Wer Schwulenwitze oder pointierte G’schichterln über Homosexuelle so erzählt, dass der Leser bis zum coming out bewusst „genasführt“ wird, muss obachtgeben, @Rafi, dass er sich nicht ins eigene Bein schießt. Denn letztlich kostet er das Anderssein Dritter aus und kann bei seinem Publikum die erhofften Punkte (Gröhlen, Lachen oder Schmunzeln) nur dann machen, wenn es das „richtige“ ist.

Ein Kritiker wird dem Autor dies sofort zum Vorwurf machen und bemerken, dass Texte wie der deine ja nur dann „funktionieren“ können, wenn sie mit allen Klischees arbeiten, die bei heterosexuellen Beziehungen gängig sind und erst am Schluss (hier nota bene recht unbeholfen) die „Hüllen“ fallen gelassen werden.

Manche bezeichnen solche schriftstellerischen „Techniken“ als bereits political incorrect. Ich würde nicht so weit gehen, sehe sie aber als ziemlich billig an und glaube nicht, dass du diese Mittel – bei deinen zweifellos vorhandenen sprachlichen Fähigkeiten! – wirklich nötig hättest.

Intime oder platonische Beziehungen zwischen Gleichgeschlechtlichen sind, Pegida hin oder her, längst etwas Stinknormales im Abendlande; damit ist per se, jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und in der Schweiz, schon längst kein „Staat“ mehr zu machen. Was interessant wäre, @Rafi, sind Ansätze, die den zweifellos vorhandenen Unterschied einer homosexuellen zu einer heterosexuellen Beziehung thematisierten und allen näherbrächten – kritsch, tragisch, humorvoll oder analytisch, jedenfalls aber literarisch.

Gruß

aligaga
 

Rafi

Mitglied
Aligaga – ganz sicher will ich durch Gröhlen, Lachen oder Schmunzeln keine „Punkte machen“. Was ich wollte, war einfach nur ein „G’schichterl“ schreiben, welches gerade zeigt, dass sich eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft von einer heterosexuellen eben nicht so sehr unterscheidet. Dass eine solche Beziehung normal ist, zweifel ich nicht an. Aber soll und darf man wegen dieser Normalität denn nicht darüber schreiben? Im Umkehrschluss hieße das dann ja, dass man gar keine Liebesgeschichten mehr schreiben sollte, weil das Thema Liebe ja „in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und in der Schweiz“ normal ist und damit „schon längst kein Staat mehr zu machen“ ist.

Gruß
Rafi
 
A

aligaga

Gast
Ich glaube, @Rafi, du habest meine Kritik nicht gelesen, sondern nur überflogen. Es ging eindeutig nicht darum, ob man über homosexuelle Beziehungen schreibt, sondern wie.

Ich sehe in der von dir geübten, beim "Volk" immer noch sehr beliebten Masche (ein finales "ätsch, die beiden sind schwu-hul!") einen literarischen Missbrauch.

Mag sein, dass weniger zart Besaitete solche Töne nicht erkennen können. Aber das ist ihr Pech, nicht meines.

Liebe Grüße und nichts für ungut!

aligaga
 

Maribu

Mitglied
Hallo Rafi,

sehr gut geschrieben; poetisch und mit zutreffenden Metaphern!

Dass es sich um zwei Männer handelt, ist für mich als Hetero gewöhnungsbedürftig. - Aber warum kann man sich nicht ebenso auseinanderleben wie Mann und Frau?!

L.G. Maribu
 

Rafi

Mitglied
Vielen Dank, Maribu.
Letzteres war die Idee, welche dahintersteckte. Schwul sein ist nichts Besonderes, sondern ebenso furchtbar banal wie hetero sein.
 
A

aligaga

Gast
Schwul sein ist nichts Besonderes, sondern ebenso furchtbar banal wie hetero sein.
Soso. Aber offensichtlich kann über diese vorgebliche "Banalität" immer noch ein pointiertes "Ätschibätsch!"- G'schichterl schreiben.

Wie schon gesagt - robusten Naturen und oberflächlichen Lesern mag so etwas nicht aufstoßen.

Mois, je suis Charlie ...

aligaga
 

Elenore May

Mitglied
Hallo Rafi,
...eine berührend schöne Geschichte - wie es eben so ist, wenn einer verliert; kennt, so nehme ich mal an, jeder aus eigener Erfahrung (wenn er nicht mit einem Beton-Herzen ausgestattet ist).
Ob Hetero oder Homo, der Schmerz ist gleich, das sollte vielleicht mal langsam in den Köpfen ankommen...
Beste Grüße
 

Rafi

Mitglied
Vielen Dank, Elender May. Genau so ist es, und das wollte ich mit dieser kleinen Erzählung ausdrücken.

Lieben Gruß
Rafi
 

valcanale

Mitglied
Beim Lesen dieses Textes ist mir sofort das alte berühmte Chanson von Jaques Brel "Ne me quitte pas" (Bitte geh nicht fort) in den Sinn gekommen, das ich immer schon so als bedrückend empfand, weil sich hier jemand so erniedrigen und um Liebe betteln muss.
So eine Beziehung kann nicht funktionieren, ob jetzt auf gleichgeschlechtlicher oder heterosexueller Basis, weil das fehlende Selbstwertgefühl abhängig vom Partner macht und man diesen zur eigenen Bestätigung braucht.
Dass sich zum Ende der Geschichte herausstellt, dass es sich um eine gleichgeschlechtliche Beziehung handelt ist für mich schon fast wie ein zweiter Plot, - ist dies die Ursache für den geringen Selbstwert des Protagonisten? Steht er (vielleicht unbewusst) nicht zu seiner sexuellen Ausrichtung? Das wäre fast eine zweite Geschichte wert!
LG Valcanale
 

Rafi

Mitglied
Hallo, Valcanale!

Dank Dir für Deinen Kommentar. Du hast recht, jetzt fällt mir tatsächlich auch die Ähnlichkeit zum Chanson von Brel auf …
Und die Fragen, die sich Dir stellen, finde ich ebenfalls bemerkenswert. Es ist gut für einen Schreiber, lösen seine Geschichten weitergehende Gedanken beim Leser aus, werfen sie Fragen auf.

Gruß
Rafi
 



 
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