BLIMPER (10) Heimat

Michael Kempa

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Heimat





Die Luftfahrer steuerten weiter auf das Arabische Meer, der Indische Ozean wartete. Das nächste Ziel. Wieder würden Tage vergehen, Tage über den Wellen, Tage mit dem monotonen Summen der Motoren. Tage mit Gesprächen über Funk und Tage mit dem Blick auf das endlose Meer.
Eve stellte die entscheidende Frage: „Was wollt ihr machen? Was ist euer Ziel?“
Ricarda startete die Gegenfrage: „Was ist dein Ziel, Eve?“
„Unser Ziel.“ Eve korrigierte. „Wir sind viele, wenn du es genau nimmst, gibt es nicht eine Eve, es gibt Eve, ich bin ein Bild davon. Natürlich haben wir ein Ziel, seit vielen Jahren. Hannah hat uns auf eine Lösung gebracht, wir mussten nicht lange darüber reden. Hannah zeigte uns eine Lösung, die klar war, so klar, dass wir sie nicht gesehen haben. Die Welt ist so groß und die Erde hat so viele Ozeane. Wir können problemlos darin leben, es gibt dort genug Raum für uns. Die Menschen werden uns zunächst nicht folgen und die lange Reise von den Plejaden war nicht umsonst. Für uns ist das eine Lösung. Doch was machen wir mit euch? Was machen wir mit euch Luftfahrern, die etwas mehr wissen, als sie sollten? Was machen wir mit den 500 Leuten aus dem Dorf, die die Welt erkunden wollen?“
Paul tastete sich vorwärts. „Was ist mit den Funksprüchen?“
Eve wirkte angestrengt. „Du hättest sie nicht hören müssen, es wäre einfacher gewesen.“
„Ich habe sie aber gehört!“ Paul wirkte fast verzweifelt.
„Das ist ja ein Teil des Problems...“, gab Eve zurück.
„Wir wissen nun zusammen, dass es eine Außenwelt gibt. Das Dorf geht davon aus, dass es sonst keine Überlebende gibt – das ist falsch, das entspricht nicht der Wahrheit.“
„Es gibt Überlebende?“, fragte Sabrina.
„Mehr als du denkst, viel mehr, als du fassen kannst!“ Eve senkte ihre Stimme. „Wir haben ein Problem, ein großes Problem...“

„Ja, was soll denn aus dem Dorf werden? Was soll aus meinen Freunden werden? Das Dorf ist meine Heimat! Es warten so viele Freunde. Denise zum Beispiel, die in der Bakery arbeitet, Simon, der Luftfahrer, der gerettet wurde, die anderen, die verschollen sind – Annadotir? Die vielen Freunde...“ Sabrina konnte ihre Tränen nicht unterdrücken, wischte sie mit dem Ärmel ab.
Eve blieb hart. „Das Wohl vieler, steht über dem Wohl eines einzelnen. Das Wohl eines einzelnen steht über dem Wohl vieler... Das ist unser Dilemma.“
Sabrina suchte eine Schulter zum anlehnen und sie fand Ricarda. Von der „Kiew“ kam zunächst keine Botschaft mehr.
„Wir brauchen wieder ein Lagerfeuer“, murmelte Marcel.
„Wir brauchen DMT.“ Eve schien verzweifelt.

Die Flotte fuhr weiter in Richtung Süden. Der Indische Ozean war groß und es gab weitere Tage nichts als Ozean. Eve schwieg und zog sich in ihre Deckenburg zurück. An einem Tag ging Blimper in die Knie und tauchte in die Decken ein. Sie fasste Eves Knie und zog sich zu ihrem Gesicht. „Lass mich!“, fauchte Eve. Blimper ließ nicht nach. Sie suchte den Blick von Eve und fand ihn, Eves feuchte Augen. In einem Anflug von Irgendwas nahm sie Eve in die Arme und fühlte ihr Schluchzen. Ganz fest nahm sie das weinende Ding in die Arme und weinte mit, obwohl sie nicht wusste warum. Nach ein paar Stunden war Eve auf der Brücke. Eine strahlende Schönheit. Ihr weißes Haar floss ihr in den Nacken. Die blauen Augen beobachteten die Armaturen. Marcel fühlte sich beobachtet.
„Was willst du?“, fragte Marcel.
„Ich will dir nur sagen, dass ich da bin.“ Eve setzte sich neben Marcel auf den Copilotenplatz.

„Ich möchte dir sagen, dass eine Entscheidung gefallen ist, es gibt im Dorf derzeit 4500 Einwohner. 500 lebten im Südstützpunkt. Der Stützpunkt wurde aufgegeben, der Kontakt zum Dorf ist unterbrochen. Die 500 Menschen wandern nun nach Süden und sie haben gute Chancen. Einzelne Menschen haben wir in eine andere Umgebung versetzt. Ein Zielort war Australien im tiefen Outback, bei den Opalsuchern, wir finden auf der Welt viele Orte für die Leute aus dem Dorf. Wir zählen runter und sind derzeit bei 4450. Das wird täglich mehr und irgendwann ist das Problem gelöst, ohne jemanden getötet zu haben. Das Dorf wird aufgelöst.“

Marcel ließ das Steuer los. „Was sagst du da? Die Zitadelle, mein Dorf wird zerstört? Mein Leben? Mein Ziel, wohin ich mit unseren Blimps fahre, wofür ich lebe?“ Marcel stand auf und wusste nicht was er tun sollte. Ein Instinkt sagte ihm, dass er Eve sofort töten sollte, ein anderer Instinkt hinderte ihn daran. Er brach mit einem Schrei zusammen.
Blimper reagierte, sah Eve bei Marcel und sah, dass Marcel nicht direkt bedroht war. Blimper übernahm das Steuer und sorgte für eine sichere Weiterfahrt. Eve nahm Marcel unter den Arm und zog sich mit ihm in den hinteren Teil der Kabine zurück.

Eve übernahm die Kommunikation zwischen den Luftschiffen und hielt vorsichtig alle auf dem neuesten Stand. Langsam bewegte sich die Flotte auf Indonesien zu. Unter den Sichtschirmen gab es nur Wasser. Ozean. Blaue Unendlichkeit. Dann kamen Inseln, vereinzelt und im Nebel. Die Reise ging weiter. Nun lag Marcel in den Decken. Die „Cairo“ wurde von Blimper und Eve gesteuert. Die „London“ und die „Kiew“ folgten. Über Palau forderte Eve einen Stopp. Die Luftüberwachung wurde aktiviert und ausgewertet. Eve war zufrieden. Am Abend gab sie die neue Bevölkerungszahl der Zitadelle bekannt, es waren 100 Menschen weniger. Einige winzige Inseln folgten, es gab immer einen Stopp und Eve war meistens zufrieden.
„Wir sollten uns wieder unterhalten, Ziele definieren und Land unter die Füße bekommen,“ forderte Ricarda.
Eve stimmte zu. Am nächsten Tag sollte ein Landeplatz festgelegt werden.

Die Inselgruppe der Marianen war das nächste Ziel. Eine weitere Nachtreise. Es dauerte noch zwei Tage, bis die nächste Etappe erreicht war, am Rande des Pazifiks, auf dem Weg nach Japan. Mukoujima nannte sich die kleine Insel. Eine malerische Bucht gab den Blimps den nötigen Schutz. Es dauerte einen Vormittag, bis das Lager errichtet war. Das nötigste wurde ausgepackt. Zelte, Küche, Sanitär. Einen langen Aufenthalt sollte es nicht geben, nicht mehr als ein paar Tage.
Doch ein Lagerfeuer durfte nicht fehlen, Treibholz gab es genug. Wieder saßen alle beisammen, dieses mal mit Eve, die entspannt im Sand eine Kuhle für sich geschaffen hatte.
„Eve, wer bist du eigentlich?“, fragte Sabrina.
Eve schaute versonnen über die Funken des Feuers.
„Zusammen mit Sophia bin ich eins. Wir sind aber viele und sprechen mit einer Stimme. Seit langer Zeit sind wir hier und du weißt, dass unsere Herkunft die Plejaden sind. Ihr – du, ihr seid von diesem Planeten, aber auch von anderen Orten, ihr seid ebenso Plejadier wie ich, nur wisst ihr es nicht mehr... Zusammen mit Sophia habe ich die Entwicklung auf diesem Planeten beobachtet und wir haben Entscheidungen getroffen. Eine Entscheidung war falsch und die machen wir nun möglichst rückgängig. Es geht um die Zitadelle. Das Experiment mit 5000 Menschen. Es geht um eine Linie. Es geht auch um unsere Existenz. Wir sind Hannah sehr dankbar, sie hat uns eine Strategie nahe gebracht, die wir nun verfolgen werden. Zwei Drittel der Erdoberfläche sind Meer. Wir werden uns in das Meer zurückziehen und lassen den Menschen das Land. Es hat Kriege gegeben, furchtbare Kriege. Die Menschen haben sich beinahe selbst ausgelöscht. Doch wir sind nicht besser als die Menschen. Wir hatten selbst unsere eigenen Kriege und der furchtbarste von allen ist lange her. Es fielen die Sterne vom Himmel – unsere Städte. Es gab Wellen, die waren heller als die Sonne! Es gab Fluten und es gab Vernichtung, wie ihr euch das nicht vorstellen könnt. Viele von uns wollen das nicht wahr haben. Doch ich, Eve und Sophia arbeiten daran. Wir arbeiten daran, eine bessere Welt leben zu lassen. Das was geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen, doch die alte Welt ist konsistent, sie ist fest! Das was sich wandeln lässt, werden wir wandeln. Die, die nicht folgen können, erhalten eine alternative Realität. Sophia und ich sorgen dafür!“

Das Feuer knisterte, die Gruppe war still und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Marcel ging zum Gegenangriff über: „Du willst unsere Welt vernichten? Du schleimiges Ding! Merkst du nicht, dass du immer mehr nach Fisch riechst? Du bist kein Mensch! Du bist ein Etwas! Deine blonden Haare werden am Ansatz grün! Du bist ein Fisch! Du bist kalt! Und du willst meine Welt vernichten!“
Marcel sprang auf und wollte Eve angreifen. Eve hob ihre Hand und Marcel wurde von einem grünen Blitz getroffen, er wendete sich noch um und blieb reglos im Sand liegen. Paul sprang auf und beugte sich über Marcel. Zusammen mit Ricarda und Alaska trugen sie den Bewusstlosen in sein Zelt. Blimper und Sabrina blieben Zeugen mit offenem Mund. Eve ruckelte sich in ihrer Sandkuhle zurecht.

Nach einer Weile kamen Alaska, Paul und Ricarda zurück. Sie berichteten, dass es Marcel soweit gut geht, er atmete und er reagierte. Lebensgefahr bestand offenbar nicht. Immer wieder schaute jemand nach Marcel.
Fragende Blicke trafen Eve. Die stand auf und verließ langsam die Gruppe, drehte sich um und rief: „Ihr riecht übrigens sehr nach Schwein!“ Eve wurde nicht mehr gesehen und niemand folgte ihr.

Das Feuer brannte langsam nieder. Alaska legte nochmals einige Äste auf. Die Gruppe blieb schweigsam und löste sich dann auf.

Am nächsten Morgen krabbelte Marcel aus seinem Zelt, er richtete sich auf und schaute Eve direkt in die Augen. Sie hatte auf ihn gewartet. Eve reichte den Arm und Marcel zog sich daran hoch. „Gut?“, fragte Eve. „Gut!“, antwortete Marcel.

Am nächsten Abend erklärte Eve ihre Position. „Ihr seid meine Freunde! Niemandem möchte ich Schaden zufügen, doch bedrohen lasse ich mich nicht...“
Marcel senkte den Blick.
Eve ging bald in ihr Zelt, um ihren Körper wehte ein frischer Wind, das Haar so blond wie nie zuvor.
Das zweite Feuer brannte nieder und ohne Eve konnten die Gespräche freier fließen. Die Nacht wurde lang.

In der Zitadelle spitze sich der Konflikt zu. Wieder traf Simone auf Mansfeld. Der fragte sie nach dem Stand der Dinge.
„Wir haben noch etwas über 4000 Einwohner. Nicht mehr. Einiges lässt sich erklären, aber nicht alles.“
Simone Ford suchte nach einladenden Zeichen von Seiten Mansfelds. Da gab es keine. Mansfeld war außer sich. Mansfeld tobte. „4000 Einwohner? Wo sind die anderen hin?“
Ford zuckte mit den Schultern. Georg goss sich wieder einen ein und setzte sich lässig hinter seinen Schreibtisch. Er ließ Ford einfach stehen.
„Dann mal los! Ich mach dich jetzt fertig, Ford! Wenn du mich jetzt hier sitzen lässt, wie einen Deppen, dann mach ich dich nieder! Ich ruiniere dich. Ich mach dich fertig. Ich klebe dich zu, von oben bis unten! Das mache ich mit meiner Macht und mit deiner Angst. Ich kaufe dich einfach. Ich nehme dir dein Zuhause, dann gebe ich dir noch ein paar Privilegien. Dann schicke ich dir noch ein paar Schmuckstücke. Ich schiebe es dir vorne und hinten rein!“
Mansfeld zog seinen Arm vor und zurück. Eine ganz klare Ansage, von dem, was er wollte.
„Ich scheiß dich so was von zu, mit meiner Macht, dass du keine ruhige Minute mehr hast. Ich schicke dir jeden Tag einen neuen Posten – vertraulich – auf geschützten Wegen. Das wirst du ablehnen. Einmal, zweimal, vielleicht sogar ein drittes mal. Aber – ich biete dir jedes mal mehr an und irgendwann kommt der Punkt, da bist du so mürbe und so fertig und die Versuchung ist so groß – Dann nimmst du es. Und dann hab ich dich! Dann gehörst du mir. Dann bist du mein Knecht! Ich mache mit dir was ich will! Verstehst du Simone, ich bin dir einfach überlegen! Gegen meine Macht hast du doch keine Chance. Begreifst du das denn nicht, Simone? Mensch, Baby, Simone, ich will doch nur dein Freund sein. Nun komm, und sag einfach Georg zu mir!“

Simone verdaute im Stehen, was sie gehört hatte, drehte auf dem Absatz um und schloss betont leise die Tür zu Mansfelds Büro.
Wenige Minuten später hatte das Dorf 3999 Einwohner.
 



 
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