BLIMPER (17) Anaconda

Michael Kempa

Mitglied
ANACONDA





Völlig verwirrt verließ Blimper den Strand und radelte zurück zu ihrem Haus. In der Küche zauberte sie wieder ein tolles Essen. Kochen war ihre Leidenschaft für den Winter geworden.
Niemand kam – und sie löffelte lustlos ihr Essen.
Ein weiterer verlorener Tag, so kam es Hannah vor.

Os meldete sich am nächsten Morgen, er berichtete von seine Fortschritten im Hüllenbau, seine Techniker waren von den Fraktalen begeistert. Die Hülle wurde dünner und stabiler, eine Wabenform wurde eingeprägt. Im 60-Grad-Winkel standen die Waben zueinander und bildeten so einen Kreis. Die Stabilität wuchs enorm, der Materialverbrauch sank. Die perfekte Hülle war gefunden.
„Hannah, möchtest du nicht in unser Team einsteigen? Du hast Ideen die uns voranbringen!“
Hannah wollte nicht. Zunächst nicht. Das nächste Bündel mit Geld brachte Jan vorbei und er verabschiedete sich rasch.

Die Einsamkeit nagte an Hannah. Sie kramte in ihren Sachen und entdeckte das Bild von ihr und Eve.
Das Bild war eine Erinnerung und eine Aufforderung zur Zukunft zugleich.

Hannah startete mit einem Buch in das nächste Jahr. Mit einfachen Worten beschrieb sie die Fraktale und die Selbstähnlichkeit. Romanesco war der Titel und bald wurde ihre Schrift als „Romanescotheorie“ gehandelt. Weite Abschnitte galten den Polymermolekülen. Wie aus dem Nichts entstanden Patente und Rechte. Jan verwaltete die Rechte und Patente und aus den Bündeln von Geld wurde ein belastbares Bankkonto.

Im Frühling landete der Blimp. Es war ein lokales Medienspektakel, ein Blimp über Oregon, gelandet in Netarts Bay! Hannah stieg in den Blimp ein und Os begrüßte sie. „Ich bin ja so stolz, dich zu sehen! Der Blimp hier wird die Luftfahrt revolutionieren! Wir haben eine Reichweite von fast 2500 Kilometern! Alles elektrisch! Keine Verbrennungsmotoren! Leise! Geruchlos!“
Os war aus dem Häuschen und überreichte Hannah ein Dokument, das ihr fünf Prozent der Aktien sicherte.
„Du bist damit eine reiche Frau“, schmunzelte Os.
Hannah stieg zum Heck und begutachtete die Bordküche und den sauber getrennten Sanitärbereich.
„Du hast gelernt,Os!“, lobte sie. „Wann können wir über den Atlantik?“
Os war sprachlos.
„Atlantik?“, stammelte er. „So weit sind wir lange noch nicht. Ich freue mich über jeden Kilometer, eine Atlantikfahrt ist unmöglich und außerdem sind wir hier am Pazifik, wir müssten erst mal quer durch Amerika. Vergiss es!“
„Was soll ich vergessen?“, fragte Hannah. „Soll ich vergessen, dass die „Hindenburg“ vor langer Zeit 16000 Kilometer Reichweite hatte? Soll ich vergessen, dass mit antiken Motoren 125 km/h normal waren? Dass es über 60 Fluggäste gab? Linienflüge über den Atlantik normal waren?“
Hannah stemmte die Hände in ihre Hüften und reckte das Kinn. Sie war auf Angriff programmiert.
Os sammelte sich. So einfach zog er nicht vom Feld. „Hast du vergessen, dass die Zeppeline längst Geschichte sind? Dass es in Lakehurst fast 100 Tote gab? Jets nun die Musik spielen, die fast zehn mal schneller sind als ein Blimp? Von Jets Millionen Passagiere im Jahr geflogen werden? Wo lebst du? Auf welchem Planeten? Ein Blimp über dem Atlantik... Lachhaft!“
Os und Hannah trennten sich im Streit.

Netarts Bay war Hannahs Rückzugsort, sie verbrachte viel Zeit am Strand, die Sonne gerbte ihre Haut. An den Abenden dachte sie an Alaska.
Sie untersuchte die Ergebnisse der Suche und befragte Karl. Klar war, dass Hawaii nicht der Ort war, an dem Alaska lebte. Alaska Carmendottier... die Suche zeigte kein Ergebnis. Carmendottier schien es nicht zu geben.
In der Nacht träumte sie von Paul. „Blimper vergessen sich nicht!“,davon war Hannah überzeugt.
Mansfeld war in Miami, Denise auf Hawaii. Elberton. Das hämmerte in Hannahs Schläfe. Elberton und die Zentrale.

Hannah verbrachte eine schlaflose Nacht und war froh, die ersten Sonnenstrahlen zu sehen. Sie nahm das Rad und drehte eine Runde um den Block. Zurück nahm sie sich Zeit für eine Tasse Tee. Irgendwie war ihre Zunge schwer, es wollte nicht raus. Sie zwang sich.
„Karl?“
„Hannah?“
„Suche nach Alaska!“
Karl antwortete prompt, das elektronische Gehirn hatte alles gespeichert und war um eine Antwort nicht verlegen.
„Es liegen mehrere Ergebnisse vor.“
Hannah räusperte sich. „Suche nach Alaska Lorson!“
Hannah trank ihren Tee aus und Karl meldete sich wieder. „Alaska Lorson. Wohnort: Elberton, Georgia. Die Adresse ist bekannt, soll ich anrufen?“
„Nein.“ Hannah versuchte ihre Haltung zu wahren, sie sprang auf und wanderte von der Küche zum Wohnzimmer, immer wieder schlug sie mit der Faust gegen die Wand. Ein Bild fiel von der Wand, ein Knöchel blutete leicht. Sie musste raus. Erst auf dem Highway drehte sie um, trabte zur Garage und nahm das Auto. Am Strand ließ sie sich die Gedanken aus dem Hirn blasen. Nach einer Stunde konnte sie wieder Gedanken ordnen, nach einer weiteren Stunde fuhr sie nach Hause. „Nach Hause...“ Bitter rann ihr das Wort durch die Kehle.
Alaska wohnte nun also in Elberton und hieß mit Nachnamen Lorson. Sie hatte Paul geheiratet und seinen Namen angenommen! Hannah war enttäuscht, sie fühlte sich verraten. Sie hatte zwei Freunde wieder gefunden und mit einem Schlag verloren. Die Erkenntnis fraß sich wie Gift in ihr Herz. Paul Lorson und Alaska ein Paar? Verheiratet? Glücklich zusammen in Elberton? Elberton und Netarts Bay, Oregon und Georgia. Quer durch die USA. Hannah fühlte sich am falschen Platz, sie fühlte sich verraten und hintergangen. Möglicherweise wusste auch Eve davon, dann wäre sie von ihr betrogen worden, angelogen!

Hannah schäumte vor Wut. An einem nahen See warf sie mit Steinen um sich, dann suchte sie besonders flache Steine und warf sie flach über das Wasser. Flipp, flipp, flipp, weg. Dann schaffte sie auch fünf Hüpfer, einmal waren es sogar sechs. „Flippstones“, dachte sie bitter. Paul hatte ihr gezeigt, wie das geht. Dann warf sie Steine fast senkrecht in die Luft. Mit einem leisen „Flupp“ verschwanden die flachen Steine im See, zogen eine silberne Spur in die Tiefe. Manchmal wallte das Wasser auf. „Fluppstones, meine Antwort“, dachte Hannah voller Zorn. Nach vielen Würfen brach sie zusammen und ließ den Tränen freien Lauf. Erst nach einer Zeit fasste sie sich, und erreichte völlig ausgelaugt das Haus am Netarts Bay.

Die nächsten Tage flossen wie Blei. Hannah ging durch das Haus und schaute was ihr wichtig war, sie packte ihre Sachen, sie packte die Sachen wieder aus und packte neu. Übrig blieben zwei Seesäcke, die sie einfach schnappen konnte. Hannah war bereit zur Abreise. Nur wohin?
Sie saß am Küchentisch und raufte sich die Haare. Sie hatte kein Ziel. „Hawaii? Quatsch!“ Ein Gedanke ließ sie nicht los. Wenn alles nicht hilft, dann hilft vielleicht die Zitadelle. Sie musste zur Basis, zum Ursprung ihrer Reise. Vielleicht gab es dort Antworten.

Hannah packte ihre Sachen in den Transporter, sie programmierte das Navi und fuhr los. Die Fahrt gefiel ihr, es gab kaum besiedelte Städte, es gab keine Besuche. Das mobile Kommunikations-Teil schaltete sie ab und sie genoss ihre erste Nacht in der Wildnis. Vier weitere Nächte sollten folgen. Hannah vermisste die Annehmlichkeiten ihres Hauses. Eine Dusche, die Küche. Doch ein Kaffee auf dem Gaskocher schmeckte irgendwie mehr nach Freiheit. Das entschädigte.

Die Umgebung der Zitadelle kannte Blimper aus der Luft. In den Badlands kannte sie sich aus. Doch bis zum Tor der Zitadelle brauchte sie einige Anläufe. Sie ließ alles im Transporter, schulterte den Tagesrucksack und zog los. Die Anlage lag komplett in Dunkelheit, Hannahs Schritte waren deutlich zu hören, es gab ein unheimliches Echo, wie in einer Kathedrale.
Die Scheinwerfer leuchteten nackte, feuchte Wände an. Hannah fand sich zurecht. Hinunter zur Mall. Die Einkaufszeile war leer, eine große, feuchte Betonblase, mehr nicht. Hannah lief weiter zu ihrer Wohnung, zu den Wohnungen ihrer Freunde. Blanker, feuchter Beton. Keine Möbel, keine Teppiche, keine Tapeten, keine Bilder. Nichts! Sie lief weiter, überprüfte die Scheinwerfer und sah, dass noch für Stunden Strom da war. Hannah schaute sich um, dann nahm sie den Weg zum Schwimmbad. Das Bad lag vor ihr, aus den Wänden ragten hier und dort Leitungen, die einst Duschen waren, die Reste einer Sauna versperrten den einfachen Weiterweg. Dann das Becken: Gefüllt mit einer schlammigen Masse. Nur mit viel Fantasie war ein Schwimmbad zu erkennen. Keine Algen, nichts was grün war. Es war einfach dunkel und kalt. Hannah trat den Rückweg an. Noch eine Sache wollte sie sehen: Den Hangar.
Dann sah sie die Kiste. Verstaubt und kaum von der Wand zu unterscheiden. Sie öffnete die Kiste und glaubte ihren Augen nicht zu trauen: Eine ANACONDA! Blimper ließ sich an der Wand herunter auf den Boden und schaltete die Lichter aus. Alle Lichter. Es war stockdunkel und totenstill. So saß sie da. Sekunden? Minuten? Es gab kein Licht. Nichts woran sich das Auge gewöhnen könnte. Doch dann sah Hannah das schwache, bläuliche Strahlen. Ein Energypack. Sehr vorsichtig tastete sie sich an das Leuchten heran. Die Entfernung konnte sie nicht abschätzen. Das Leuchten wurde eindringlicher. Es waren vier Packs, die in einer Nische lagerten. Die Packs hatten kaum Platz in ihrem Rucksack, ein Pack band sie außen an. Dann vorsichtig zurück zur ANACONDA. Sie packte die Hülle und schleifte das Teil hinter sich her. Wie sie es zur Ebene Null geschafft hatte, wusste Blimper nicht mehr, doch hinter der letzten Wand war die Freiheit und die Dämmerung blendete sie. Nach einer weiteren Stunde lud sie ihre Beute in den Transporter und verließ ohne Licht das Gebäude. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie vorsichtig sein musste. In den Badlands parkte sie den Transporter in einer Kuhle und zog die Tarnnetze darüber. Tarnnetze? Sie wunderte sich, was alles in dem Auto verstaut war. Am Rand der Kuhle wartete sie auf den Sonnenaufgang, am Horizont kreisten Suchscheinwerfer. Mit den ersten Sonnenstrahlen suchte sie den Highway, fand ihn, fuhr ein paar Kilometer, parkte und schlief sich aus. Selbst im Traum fiel ihr kein Ziel ein. Sie war auf der Flucht ohne Ziel. Dann kam ihr der Gedanke, dass sie nicht flüchten musste. Da war ja noch das Haus in Netarts Bay.
 



 
Oben Unten