Blind Date
Hallo, Herr Ober! Herr Ober, ich hätte bitte gerne zwei Bier! Ja, für die Dame und mich.
Was? Sie trinken kein Bier? Nur Wein – na gut, dann. Also bitte doch nur ein Bier und ein Viertel Wein, bitte!
Ach, ich finde es schön, dass es geklappt hat. Fast hätte ich ja schon nicht mehr daran geglaubt, dass wir beide, also Sie und ich, dass wir uns wirklich mal kennenlernen. So real, meine ich, so von Angesicht zu Angesicht.
Aber ja, da gebe ich Ihnen recht. Das Internet ist schon eine tolle Sache. Gerade für Singles, nicht wahr? So wie Sie und ich. Da kann man sich ja erst einmal so zwanglos kennenlernen, sich beschnuppern, wenn Sie so wollen. Tolle Sache, das, wirklich tolle Sache.
Ob ich das öfter mache? Aber nein, nein! Sie sind, wenn Sie so wollen, quasi mein erstes Mal. So ein – wie heißt das noch gleich?
Ja, richtig, so ein Blind Date macht man ja nicht alle Tage.
Ihr Bild war’s. Ja, wegen Ihres Bildes wollte ich mich mit Ihnen treffen. Angesprochen hat’s mich, Ihr Bild. Sie haben sehr melancholische Augen, wenn ich das sagen darf. Und Ihr Lächeln, wissen Sie, Ihr Lächeln ist so erfrischend, so kokett. Jünger sehen Sie ja aus, als Sie es in Ihrer Beschreibung angegeben haben, viel jünger. Aber was spielt das Alter schon für eine Rolle? Wissen Sie, ich kenne Zwanzigjährige, die sind schon alt, so alt. Und andere, andere, die fangen mit sechzig erst richtig an zu leben.
Ich? Ich – also, na ja, ich bin irgendwo dazwischen, ein bisschen älter als Sie. Nicht viel, eigentlich kaum der Rede wert, wirklich nicht. Und es spielt ja auch gar keine Rolle, wie alt man ist, nicht wahr? Man ist ja doch immer so jung, wie man sich fühlt. Habe ich nicht recht? Ach, ich kann mich noch gut erinnern. Wissen Sie, an damals, als ich noch jünger war. Ein richtiger Draufgänger war ich.
Ja ja, ein Filou vielleicht. Das klingt nett, wie Sie das sagen. So spitzbübisch. Wissen Sie, ich hatte diese Lebensart, diese Leichtigkeit aus Paris mitgebracht.
Ja, lachen Sie nicht, es ist wahr.
Aber ja, damals, zu dieser Zeit, hatte ich einen Ruf. Den Franzosen nannte man mich, ein richtiger Charmeur war ich. Drum bin ich ja auch lange Junggeselle geblieben. Man will ja nichts anbrennen lassen in diesem Alter, wenn Sie so wollen, da will man ja was erleben, nicht wahr?
Das ist lange her, ich weiß. Aber wenn ich Sie da bereits gekannt hätte, also wirklich!
Seltsam, wie die Jahre vergehen, nicht wahr? Die Zeit rennt einem doch immer davon, nicht wahr?
Herr Ober! Herr Ober, ich hätte gerne noch ein Bier!
Aber ja. Und ein Viertel Wein dazu, wenn ich bitten darf.
Ihre Lippen sind schneeweiß, wenn Sie trinken. Hat Ihnen das schon einmal jemand gesagt?
Es ist die Wahrheit. Glauben Sie mir, schneeweiß. Oder liegt’s an Ihrem schönen Lippenstift?
Was ist mit ihrem Lippenstift?
Ach so, Sie tragen keinen Lippenstift. Na ja, dann – dann ist es ja kein Wunder, dass Ihre Lippen beim Trinken schneeweiß aussehen, nicht wahr? Ich mag Frauen, die keinen Lippenstift tragen. Und Sie haben das ja auch wirklich überhaupt nicht nötig, schön wie Sie sind. So natürlich und frisch. Wissen Sie, diese Lippenstiftreste auf den Rändern der Gläser, wenn Frauen getrunken haben ... Das ist doch unappetitlich, habe ich nicht recht?
Was?
Wie?
Ach so, Sie haben ihn heute nur vergessen. Na ja, es gibt ja auch welchen, der nicht abfärbt, nicht wahr? Dann finde ich das auch schön. Und Ihnen steht ein leuchtend roter Lippenstift ganz sicher gut, habe ich nicht recht?
Ach, Sie tragen nur einen hellbraunen. Na ja, der passt auch viel besser zu Ihren Augen.
Schauen Sie mal, schauen Sie mal hier. Das da, die Frau, meine Frau. Edith trug auch immer Lippenstift, einen leuchtend roten meistens. Wie hübsch sie damit immer aussah, finden Sie nicht? Dieser Lippenstift, er passte ja auch ganz hervorragend zu ihrem Haar, wie ich finde. Meinen Sie nicht auch, dass Sie ihr ein bisschen ähnlich sehen? Ein bisschen nur.
Nein. Nein, ich bin nicht mehr verheiratet. Natürlich nicht. Sonst hätte ich mich ja nicht mit Ihnen getroffen. So jemand bin ich nicht, aber wirklich nicht. Ich bitte Sie!
Schon lange nicht mehr. Die Ehe, na ja, also – na ja, das war wohl nichts für mich. Oder für sie, wer weiß das schon. So etwas stellt man oft ja erst fest, wenn’s schon zu spät ist, nicht wahr? Da lebt man so vor sich hin, also sozusagen nebeneinander her, wenn Sie verstehen. Tag für Tag lebt man so und merkt gar nicht mehr, was man da eigentlich füreinander empfindet und was man aneinander hat. Das vergeht alles. Alles ist dann perdu. Bis es dann irgendwann zu spät ist. Und dann steht man da. Schön dumm steht man dann da.
Zehn Jahre. Also nicht ganz, eigentlich erst neun Jahre und vier Monate. Eine ganz schön lange Zeit. Edith trug damals ihren Lippenstift auf, machte ihr Haar zurecht und sagte, sie würde jetzt gehen. Ich fragte noch, wohin sie denn gehe, aber sie antwortete damals nicht. Ist einfach gegangen. Mir nichts, dir nichts gegangen und nicht wiedergekommen. Einfach so. Und dann, später, kamen die Papiere. Musste ich nur noch unterschreiben, dann war’s vorbei. Schluss mit lustig, wenn Sie wissen, was ich meine.
Nein, niemanden. Sie sind, wenn ich so sagen darf, mein erstes Mal. Oder mein letztes? Wer weiß das schon?
Ob ich einsam bin? Aber wie kommen Sie denn darauf? Warum sollte ich denn einsam sein? Ich bin ein freier Mann! Ich komme gut alleine zurecht.
Doch, wirklich.
Aber ja, ich kann sehr gut alleine sein, wirklich. Wissen Sie, ich bin ja daran gewöhnt. Man gewöhnt sich irgendwann ja an alles, nicht wahr? Auch an das Alleinsein kann man sich gewöhnen. Und ich sage ja immer: Lieber allein sein, als einsam zu zwein sein, nicht wahr?
Ob ich sie geliebt habe? Ja, also, wissen Sie, das ist jetzt aber mal eine Frage. Liebe – was ist denn die Liebe überhaupt? Das ist schon eine komische Sache mit der Liebe.
Aber ja, ich habe sie geliebt, natürlich habe ich das. Aber das ist ja jetzt vorbei. Ist ja auch schon lange her, fast zehn Jahre her. Na ja, wenn ich so recht darüber nachdenke – irgendwie vergeht Liebe ja nie wirklich, wenn Sie wissen, was ich meine. Irgendwie bleibt da ja immer was zurück. Das kann man ja nicht abschalten so einfach, das geht ja nicht. So gesehen ist Liebe etwas, das bleibt, nicht wahr? Sie kennen das ja sicher auch, oder?
Nein?
Oh, das ist jetzt aber schade.
Ach so, Sie ziehen da immer einen Schlussstrich. Radikal, ja, ziemlich radikal. Wenn Sie das können – also wirklich beneidenswert.
Ich? Nein, ich kann das nicht so … so endgültig. Edith konnte das, die ja. Mir nichts, dir nichts ist sie gegangen. Aber irgendwie, ich weiß jetzt auch nicht so genau wie, aber irgendwie ist sie ja doch auch noch da. Also ich meine, in mir ist sie ja irgendwie auch noch.
Warum ich …? Na, weil ich ja auch nicht für den Rest meines Lebens allein sein will. Das will ja keiner. Der Mensch ist ja ein soziales Wesen, das auch mal Liebe braucht, wenn Sie verstehen.
Nein! Nein, nein! Das ist vorbei, wirklich vorbei. Ich hab sie ja auch schon vergessen. Also fast, meine ich. Fast vergessen. Aber irgendwas bleibt ja immer, nicht wahr?
Kinder? Ja, wir hatten welche. Aber heute habe ich keinen Kontakt mehr. Ist alles so auseinandergebrochen, hat sich so verlaufen irgendwie. Das ist vorbei. Es geht ja alles im Leben vorbei, nicht wahr? Das werden Sie auch noch feststellen, dass alles im Leben vorbeigeht. Die Liebe, die Wut, die Einsamkeit. Nur manchmal, manchmal denke ich, dass es vielleicht ganz schön wäre, wieder jemanden … also, Sie wissen schon. Wenn man vielleicht nicht immer ganz allein und so …
Nein! Nein, nein! Die Trauer ist wirklich längst vorbei. So etwas legt sich mit der Zeit. Nur dass ich nie mehr in Paris gewesen bin, das macht mich manchmal vielleicht ein bisschen traurig. Aber das macht ja nichts. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, Sie wissen schon. Wer weiß – vielleicht reisen wir beide ja mal gemeinsam …
Aber wirklich nicht, warum sollte ich denn einsam sein?
Weil ich mich auf dieses Blind Date eingelassen habe? Aber doch nur, um Sie kennenzulernen, um mal ein bisschen Abwechslung zu haben. Ich fand Sie ja auch so nett auf dem Bild, so sympathisch.
Herr Ober! Herr Ober, ich hätte gerne noch ein Bier und ein Viertel Wein! Die Dame verdurstet ja schon fast!
Lachen Sie nicht. Ich sehe ja, dass Ihr Glas noch nicht leer ist. Aber so langsam, wie der Ober ist, da muss man rechtzeitig sehen, wo man bleibt. Wissen Sie eigentlich, dass Sie sehr schön sind?
Ja, es ist ein gutes Gefühl, Sie anzusehen, glauben Sie mir.
Eine zu große Nase? Herrgott, wer behauptet denn so etwas? Sie haben doch keine zu große Nase, also nein, wirklich nicht.
Nein, vielleicht nicht schön im klassischen Sinn. Ich glaube eher, Ihre Schönheit ist eine wertvollere, eine, die von innen kommt, nicht wahr? Sie müssen ein guter Mensch sein, dass Sie solch eine enorme Schönheit ausstrahlen.
Aber ja, glauben Sie mir, ich sehe so etwas. Mein Blut sagt mir das, wenn Sie verstehen. Ich erkenne das. Zum Wohl! Ein Prosit auf das Leben. Und auf die Liebe natürlich. Auf das Leben und auf die Liebe und auf die Schönheit. Ach, könnte es doch immer so sein. Wissen Sie was? Ich hätte da eine großartige Idee!
Aber ja, ich sprudel meistens nur so über von Ideen, wirklich! Meine Frau hat früher manchmal gesagt, ich sei total verrückt mit meinen Ideen. Am Ende allerdings, da hat Edith gemeint, ich sei nur noch verrückt. Ohne Ideen. Einmal, das muss ich Ihnen erzählen, also einmal, da waren wir gerade …
Was, wie?
Ach so, meine Idee. Na ja, also, ich würde Sie gerne noch einladen. Ganz gemütlich, wissen Sie. Ein Glas Champagner vielleicht oder ein Cognac. Und dazu, wenn Sie wollen, einen guten Kaffee.
Nur keine Bange, ich will doch nicht aufdringlich werden, aber wirklich nicht. Ich dachte mir nur, dass es hier vielleicht langsam ein bisschen ungemütlich wird.
Ohne Ihnen nahetreten zu wollen, bei mir zu Hause.
Was? Ach so, Musik hören. Sie mögen doch Musik?
Ich höre gerne Chansons. Die richtigen, die alten. Man nannte mich früher ja auch nicht umsonst den Franzosen. Jacques Brel, Yves Montant, Charles Aznavour, Gilbert Bécaud … ach, ich könnte schwärmen. Chansons, wenn sie gut sind, spiegeln doch das Leben wider und die Liebe, alle Leidenschaft, finden Sie nicht?
Was? Ach so, Sie verstehen kein Französisch. Kein einziges Wort? Aber die Musik …
Nein, das finde ich gar nicht. Chansons sind doch nicht langweilig oder schwermütig. Ernst sind sie, das ja, ernst. Aber traurig? Um Himmels Willen, nein! Hören Sie sich doch nur mal die Piaf an! Das ist doch Leben pur, das ist doch Freude und Leichtigkeit ist das!
Aber das macht doch nichts, ich habe ja auch noch andere Musik. Eigentlich sollte man sich Chansons auch in aller Ruhe anhören, wenn man alleine ist oder so, nicht wahr?
Wissen Sie, ich bin da in dieser Beziehung sehr vielfältig.
Es gibt eigentlich gar keine Musik, die ich nicht mag.
Ja, aber heute nicht mehr.
Warum? Na ja, tanzen sollte man schon zu zweit, finden Sie nicht?
Das weiß ich nicht. Aber früher war ich schon ein guter Tänzer, glauben Sie mir.
Tango, Foxtrott, Walzer – hab ich alles gekonnt, alles. Tanzen Sie auch gerne?
Oh, das ist schade. Aber dann könnten wir ja auch einfach nur so dasitzen und reden. Na, was halten Sie davon?
Ach, das ist ja schade. Aber gegen Kopfschmerzen kann man ja nichts machen.
Das ist wahr. Dumm, ich habe keine Tablette hier. Aber ich kann ja mal den Ober …
Nein, wenn Sie Magenschmerzen davon bekommen, natürlich nicht.
Ach! Jetzt hätte ich aber eine wirklich ganz fantastische Idee!
Ich könnte Ihnen den Nacken massieren. Und Ihre Schultern. Sie sind vielleicht nur völlig verspannt.
Wirklich, ich bin gut darin zu massieren. Edith hat sich immer gern von mir massieren lassen. Das hat sie genossen. Und geschnurrt dabei, also geschnurrt wie ein Kätzchen, wenn Sie wissen, was ich meine. Wenn sie Kopfschmerzen hatte, dann durfte ich sie immer …
Sie werden sehen, nach ein oder zwei Minuten sind Ihre Kopfschmerzen wie weggeblasen. Ich bin wirklich gut darin.
Sie müssen schon gehen?
Aber – ach so, Sie werden abgeholt.
Der da?
Ach ja, jetzt sehe ich ihn. Der, der Ihnen zuwinkt, nicht wahr?
Ja, ein interessanter Mann, wirklich.
Ach so, nur ein guter Freund.
Aber bitte, gern geschehen.
Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen noch.
Ja, auf Wiedersehen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.
Herr Ober! Herr Ober, kann ich bitte noch ein Bier haben ...?
Hallo, Herr Ober! Herr Ober, ich hätte bitte gerne zwei Bier! Ja, für die Dame und mich.
Was? Sie trinken kein Bier? Nur Wein – na gut, dann. Also bitte doch nur ein Bier und ein Viertel Wein, bitte!
Ach, ich finde es schön, dass es geklappt hat. Fast hätte ich ja schon nicht mehr daran geglaubt, dass wir beide, also Sie und ich, dass wir uns wirklich mal kennenlernen. So real, meine ich, so von Angesicht zu Angesicht.
Aber ja, da gebe ich Ihnen recht. Das Internet ist schon eine tolle Sache. Gerade für Singles, nicht wahr? So wie Sie und ich. Da kann man sich ja erst einmal so zwanglos kennenlernen, sich beschnuppern, wenn Sie so wollen. Tolle Sache, das, wirklich tolle Sache.
Ob ich das öfter mache? Aber nein, nein! Sie sind, wenn Sie so wollen, quasi mein erstes Mal. So ein – wie heißt das noch gleich?
Ja, richtig, so ein Blind Date macht man ja nicht alle Tage.
Ihr Bild war’s. Ja, wegen Ihres Bildes wollte ich mich mit Ihnen treffen. Angesprochen hat’s mich, Ihr Bild. Sie haben sehr melancholische Augen, wenn ich das sagen darf. Und Ihr Lächeln, wissen Sie, Ihr Lächeln ist so erfrischend, so kokett. Jünger sehen Sie ja aus, als Sie es in Ihrer Beschreibung angegeben haben, viel jünger. Aber was spielt das Alter schon für eine Rolle? Wissen Sie, ich kenne Zwanzigjährige, die sind schon alt, so alt. Und andere, andere, die fangen mit sechzig erst richtig an zu leben.
Ich? Ich – also, na ja, ich bin irgendwo dazwischen, ein bisschen älter als Sie. Nicht viel, eigentlich kaum der Rede wert, wirklich nicht. Und es spielt ja auch gar keine Rolle, wie alt man ist, nicht wahr? Man ist ja doch immer so jung, wie man sich fühlt. Habe ich nicht recht? Ach, ich kann mich noch gut erinnern. Wissen Sie, an damals, als ich noch jünger war. Ein richtiger Draufgänger war ich.
Ja ja, ein Filou vielleicht. Das klingt nett, wie Sie das sagen. So spitzbübisch. Wissen Sie, ich hatte diese Lebensart, diese Leichtigkeit aus Paris mitgebracht.
Ja, lachen Sie nicht, es ist wahr.
Aber ja, damals, zu dieser Zeit, hatte ich einen Ruf. Den Franzosen nannte man mich, ein richtiger Charmeur war ich. Drum bin ich ja auch lange Junggeselle geblieben. Man will ja nichts anbrennen lassen in diesem Alter, wenn Sie so wollen, da will man ja was erleben, nicht wahr?
Das ist lange her, ich weiß. Aber wenn ich Sie da bereits gekannt hätte, also wirklich!
Seltsam, wie die Jahre vergehen, nicht wahr? Die Zeit rennt einem doch immer davon, nicht wahr?
Herr Ober! Herr Ober, ich hätte gerne noch ein Bier!
Aber ja. Und ein Viertel Wein dazu, wenn ich bitten darf.
Ihre Lippen sind schneeweiß, wenn Sie trinken. Hat Ihnen das schon einmal jemand gesagt?
Es ist die Wahrheit. Glauben Sie mir, schneeweiß. Oder liegt’s an Ihrem schönen Lippenstift?
Was ist mit ihrem Lippenstift?
Ach so, Sie tragen keinen Lippenstift. Na ja, dann – dann ist es ja kein Wunder, dass Ihre Lippen beim Trinken schneeweiß aussehen, nicht wahr? Ich mag Frauen, die keinen Lippenstift tragen. Und Sie haben das ja auch wirklich überhaupt nicht nötig, schön wie Sie sind. So natürlich und frisch. Wissen Sie, diese Lippenstiftreste auf den Rändern der Gläser, wenn Frauen getrunken haben ... Das ist doch unappetitlich, habe ich nicht recht?
Was?
Wie?
Ach so, Sie haben ihn heute nur vergessen. Na ja, es gibt ja auch welchen, der nicht abfärbt, nicht wahr? Dann finde ich das auch schön. Und Ihnen steht ein leuchtend roter Lippenstift ganz sicher gut, habe ich nicht recht?
Ach, Sie tragen nur einen hellbraunen. Na ja, der passt auch viel besser zu Ihren Augen.
Schauen Sie mal, schauen Sie mal hier. Das da, die Frau, meine Frau. Edith trug auch immer Lippenstift, einen leuchtend roten meistens. Wie hübsch sie damit immer aussah, finden Sie nicht? Dieser Lippenstift, er passte ja auch ganz hervorragend zu ihrem Haar, wie ich finde. Meinen Sie nicht auch, dass Sie ihr ein bisschen ähnlich sehen? Ein bisschen nur.
Nein. Nein, ich bin nicht mehr verheiratet. Natürlich nicht. Sonst hätte ich mich ja nicht mit Ihnen getroffen. So jemand bin ich nicht, aber wirklich nicht. Ich bitte Sie!
Schon lange nicht mehr. Die Ehe, na ja, also – na ja, das war wohl nichts für mich. Oder für sie, wer weiß das schon. So etwas stellt man oft ja erst fest, wenn’s schon zu spät ist, nicht wahr? Da lebt man so vor sich hin, also sozusagen nebeneinander her, wenn Sie verstehen. Tag für Tag lebt man so und merkt gar nicht mehr, was man da eigentlich füreinander empfindet und was man aneinander hat. Das vergeht alles. Alles ist dann perdu. Bis es dann irgendwann zu spät ist. Und dann steht man da. Schön dumm steht man dann da.
Zehn Jahre. Also nicht ganz, eigentlich erst neun Jahre und vier Monate. Eine ganz schön lange Zeit. Edith trug damals ihren Lippenstift auf, machte ihr Haar zurecht und sagte, sie würde jetzt gehen. Ich fragte noch, wohin sie denn gehe, aber sie antwortete damals nicht. Ist einfach gegangen. Mir nichts, dir nichts gegangen und nicht wiedergekommen. Einfach so. Und dann, später, kamen die Papiere. Musste ich nur noch unterschreiben, dann war’s vorbei. Schluss mit lustig, wenn Sie wissen, was ich meine.
Nein, niemanden. Sie sind, wenn ich so sagen darf, mein erstes Mal. Oder mein letztes? Wer weiß das schon?
Ob ich einsam bin? Aber wie kommen Sie denn darauf? Warum sollte ich denn einsam sein? Ich bin ein freier Mann! Ich komme gut alleine zurecht.
Doch, wirklich.
Aber ja, ich kann sehr gut alleine sein, wirklich. Wissen Sie, ich bin ja daran gewöhnt. Man gewöhnt sich irgendwann ja an alles, nicht wahr? Auch an das Alleinsein kann man sich gewöhnen. Und ich sage ja immer: Lieber allein sein, als einsam zu zwein sein, nicht wahr?
Ob ich sie geliebt habe? Ja, also, wissen Sie, das ist jetzt aber mal eine Frage. Liebe – was ist denn die Liebe überhaupt? Das ist schon eine komische Sache mit der Liebe.
Aber ja, ich habe sie geliebt, natürlich habe ich das. Aber das ist ja jetzt vorbei. Ist ja auch schon lange her, fast zehn Jahre her. Na ja, wenn ich so recht darüber nachdenke – irgendwie vergeht Liebe ja nie wirklich, wenn Sie wissen, was ich meine. Irgendwie bleibt da ja immer was zurück. Das kann man ja nicht abschalten so einfach, das geht ja nicht. So gesehen ist Liebe etwas, das bleibt, nicht wahr? Sie kennen das ja sicher auch, oder?
Nein?
Oh, das ist jetzt aber schade.
Ach so, Sie ziehen da immer einen Schlussstrich. Radikal, ja, ziemlich radikal. Wenn Sie das können – also wirklich beneidenswert.
Ich? Nein, ich kann das nicht so … so endgültig. Edith konnte das, die ja. Mir nichts, dir nichts ist sie gegangen. Aber irgendwie, ich weiß jetzt auch nicht so genau wie, aber irgendwie ist sie ja doch auch noch da. Also ich meine, in mir ist sie ja irgendwie auch noch.
Warum ich …? Na, weil ich ja auch nicht für den Rest meines Lebens allein sein will. Das will ja keiner. Der Mensch ist ja ein soziales Wesen, das auch mal Liebe braucht, wenn Sie verstehen.
Nein! Nein, nein! Das ist vorbei, wirklich vorbei. Ich hab sie ja auch schon vergessen. Also fast, meine ich. Fast vergessen. Aber irgendwas bleibt ja immer, nicht wahr?
Kinder? Ja, wir hatten welche. Aber heute habe ich keinen Kontakt mehr. Ist alles so auseinandergebrochen, hat sich so verlaufen irgendwie. Das ist vorbei. Es geht ja alles im Leben vorbei, nicht wahr? Das werden Sie auch noch feststellen, dass alles im Leben vorbeigeht. Die Liebe, die Wut, die Einsamkeit. Nur manchmal, manchmal denke ich, dass es vielleicht ganz schön wäre, wieder jemanden … also, Sie wissen schon. Wenn man vielleicht nicht immer ganz allein und so …
Nein! Nein, nein! Die Trauer ist wirklich längst vorbei. So etwas legt sich mit der Zeit. Nur dass ich nie mehr in Paris gewesen bin, das macht mich manchmal vielleicht ein bisschen traurig. Aber das macht ja nichts. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, Sie wissen schon. Wer weiß – vielleicht reisen wir beide ja mal gemeinsam …
Aber wirklich nicht, warum sollte ich denn einsam sein?
Weil ich mich auf dieses Blind Date eingelassen habe? Aber doch nur, um Sie kennenzulernen, um mal ein bisschen Abwechslung zu haben. Ich fand Sie ja auch so nett auf dem Bild, so sympathisch.
Herr Ober! Herr Ober, ich hätte gerne noch ein Bier und ein Viertel Wein! Die Dame verdurstet ja schon fast!
Lachen Sie nicht. Ich sehe ja, dass Ihr Glas noch nicht leer ist. Aber so langsam, wie der Ober ist, da muss man rechtzeitig sehen, wo man bleibt. Wissen Sie eigentlich, dass Sie sehr schön sind?
Ja, es ist ein gutes Gefühl, Sie anzusehen, glauben Sie mir.
Eine zu große Nase? Herrgott, wer behauptet denn so etwas? Sie haben doch keine zu große Nase, also nein, wirklich nicht.
Nein, vielleicht nicht schön im klassischen Sinn. Ich glaube eher, Ihre Schönheit ist eine wertvollere, eine, die von innen kommt, nicht wahr? Sie müssen ein guter Mensch sein, dass Sie solch eine enorme Schönheit ausstrahlen.
Aber ja, glauben Sie mir, ich sehe so etwas. Mein Blut sagt mir das, wenn Sie verstehen. Ich erkenne das. Zum Wohl! Ein Prosit auf das Leben. Und auf die Liebe natürlich. Auf das Leben und auf die Liebe und auf die Schönheit. Ach, könnte es doch immer so sein. Wissen Sie was? Ich hätte da eine großartige Idee!
Aber ja, ich sprudel meistens nur so über von Ideen, wirklich! Meine Frau hat früher manchmal gesagt, ich sei total verrückt mit meinen Ideen. Am Ende allerdings, da hat Edith gemeint, ich sei nur noch verrückt. Ohne Ideen. Einmal, das muss ich Ihnen erzählen, also einmal, da waren wir gerade …
Was, wie?
Ach so, meine Idee. Na ja, also, ich würde Sie gerne noch einladen. Ganz gemütlich, wissen Sie. Ein Glas Champagner vielleicht oder ein Cognac. Und dazu, wenn Sie wollen, einen guten Kaffee.
Nur keine Bange, ich will doch nicht aufdringlich werden, aber wirklich nicht. Ich dachte mir nur, dass es hier vielleicht langsam ein bisschen ungemütlich wird.
Ohne Ihnen nahetreten zu wollen, bei mir zu Hause.
Was? Ach so, Musik hören. Sie mögen doch Musik?
Ich höre gerne Chansons. Die richtigen, die alten. Man nannte mich früher ja auch nicht umsonst den Franzosen. Jacques Brel, Yves Montant, Charles Aznavour, Gilbert Bécaud … ach, ich könnte schwärmen. Chansons, wenn sie gut sind, spiegeln doch das Leben wider und die Liebe, alle Leidenschaft, finden Sie nicht?
Was? Ach so, Sie verstehen kein Französisch. Kein einziges Wort? Aber die Musik …
Nein, das finde ich gar nicht. Chansons sind doch nicht langweilig oder schwermütig. Ernst sind sie, das ja, ernst. Aber traurig? Um Himmels Willen, nein! Hören Sie sich doch nur mal die Piaf an! Das ist doch Leben pur, das ist doch Freude und Leichtigkeit ist das!
Aber das macht doch nichts, ich habe ja auch noch andere Musik. Eigentlich sollte man sich Chansons auch in aller Ruhe anhören, wenn man alleine ist oder so, nicht wahr?
Wissen Sie, ich bin da in dieser Beziehung sehr vielfältig.
Es gibt eigentlich gar keine Musik, die ich nicht mag.
Ja, aber heute nicht mehr.
Warum? Na ja, tanzen sollte man schon zu zweit, finden Sie nicht?
Das weiß ich nicht. Aber früher war ich schon ein guter Tänzer, glauben Sie mir.
Tango, Foxtrott, Walzer – hab ich alles gekonnt, alles. Tanzen Sie auch gerne?
Oh, das ist schade. Aber dann könnten wir ja auch einfach nur so dasitzen und reden. Na, was halten Sie davon?
Ach, das ist ja schade. Aber gegen Kopfschmerzen kann man ja nichts machen.
Das ist wahr. Dumm, ich habe keine Tablette hier. Aber ich kann ja mal den Ober …
Nein, wenn Sie Magenschmerzen davon bekommen, natürlich nicht.
Ach! Jetzt hätte ich aber eine wirklich ganz fantastische Idee!
Ich könnte Ihnen den Nacken massieren. Und Ihre Schultern. Sie sind vielleicht nur völlig verspannt.
Wirklich, ich bin gut darin zu massieren. Edith hat sich immer gern von mir massieren lassen. Das hat sie genossen. Und geschnurrt dabei, also geschnurrt wie ein Kätzchen, wenn Sie wissen, was ich meine. Wenn sie Kopfschmerzen hatte, dann durfte ich sie immer …
Sie werden sehen, nach ein oder zwei Minuten sind Ihre Kopfschmerzen wie weggeblasen. Ich bin wirklich gut darin.
Sie müssen schon gehen?
Aber – ach so, Sie werden abgeholt.
Der da?
Ach ja, jetzt sehe ich ihn. Der, der Ihnen zuwinkt, nicht wahr?
Ja, ein interessanter Mann, wirklich.
Ach so, nur ein guter Freund.
Aber bitte, gern geschehen.
Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen noch.
Ja, auf Wiedersehen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.
Herr Ober! Herr Ober, kann ich bitte noch ein Bier haben ...?