Blitz
Sie kamen in der Berghütte an, endlich. Gabi war erledigt von der rüttelnden Zugfahrt, vom Schleppen der Taschen zur Seilbahn – in diesem dämlichen Kaff kannten die so etwas wie Taxis nur vom Hörensagen – dieses ganze Gezeter um das Asthma der Kleinen, das zu dieser tollen Reise geführt hatte, all das wuchs sich aus zu einer unerträglichen Last, die ihr ihrerseits den Atem abschnürte. Aber wen interessierte das schon? Mama hatte seit der Geburt der Kleinen nur noch Augen, Ohren und Gefühle für dieses Balg, was für einen ihrer Sinne ließ sie noch für Gabi übrig? Keinen. Erwachsen sollte sie sein mit ihren neunzehn Jahren, erwachsen und nicht so egoistisch, wo die Kleine sich doch nicht wehren könne gegen so eine Große wie sie. Nicht so egoistisch, pah! Das hatte sie sich schon anhören müssen, als sie Mama beichtete, dass ihre Regel bereits zum zweiten Mal ausgeblieben war, danach von ihr zum Frauenarzt geschleift und im Anschluss daran von allen aus der Familie nieder gemacht worden war, als sie es wegmachen lassen wollte. Sie wollte dieses Ding in ihrem Bauch nicht, das sie kotzen und ihr Leben nur noch komplizierter machte. In der Schule hatte sie ohnehin Schwierigkeiten genug, keinen Plan, was sie später im Leben machen wollte, schlechte Noten und jeder Erwachsene hackte auf ihr herum, sie müsse doch endlich mal Verantwortung für ihre Zukunft übernehmen – wie sie das ankotzte, wenn sie doch endlich einfach mal ihre Ruhe hätte! Und dann das. Der Kerl, der sie wahrscheinlich geschwängert hatte, war ein Player, wie sie hinterher mitbekam, der wollte sie nur ficken und war dann schon wieder verschwunden, keinen Nachnamen wusste sie von dem, nicht einmal seinen richtigen Vornamen, nur seinen Nick. Weder ihre allwissende Mutter noch ihr dämlicher Frauenarzt hatten ihr gesagt, dass die Pille nicht wirkt, wenn man Dünnschiss hatte und wer verdammt noch mal liest wirklich diese verdammten Waschzettel? Klar, zum Ausbaden der Scheiße, da konnten die sie verdonnern, sie war ja jung und doof und hatte kein Recht auf eine eigene Meinung. Drei Jahre war die Kleine jetzt alt und Gabi war immer noch ohne Schulabschluss und Ausbildung, hatte nach der Geburt (so eine schmerzhafte Scheiß-Aktion!) den Anschluss endgültig nicht mehr geschafft, hing immer nur zu Hause rum und zog sich sämtliche Talkshows in der Glotze rein, während ihre Mutter ständig um das Balg herumgluckte. Dann das Asthma der Kleinen, der Kinderarzt sagte, die Umweltverschmutzung in der Stadt sei schuld und das Kind müsse unbedingt eine Zeit lang an einen Luftkurort, weg von den Abgasen, am Besten in die Berge. Ja verdammt, aber doch nicht ausgerechnet im Winter! Aber Mama wusste ja wie immer alles besser, Gabi wehrte sich nicht mehr dagegen – hatte sowieso keinen Sinn – man durfte da auf keinen Fall warten, bis etwa die Krankenkasse so was bezahlt, nein, es musste sofort gehandelt werden. Da die Kohle nicht so dicke gesät war, wie immer, nie hatte sie anderes erlebt, suchte man natürlich etwas Günstiges, ein Sonderangebot, so kam die Idee mit diesem Bergbauernhof, der Zimmer an Feriengäste vermietete. Bauernhof! Eine elende Hütte war das, was sich nach der Schlepperei von der Seilbahnstation zu der elenden Ansammlung verrotteter alter Häuser als ihr Reiseziel entpuppte.
Sie kamen also an. Mama klopft und eine alte verschrumpelte Frau öffnet die Tür. Was für eine Tür – zusammengenagelte alte verrottete Bretter mit dicken rostigen Eisenbeschlägen, die schief aufschwangen. Genauso schief wie der Blick der Alten, die sie musterte und nach Mamas Erklärung, sie seien die angemeldeten Feriengäste, mit einem Nicken endete, in dessen Anschluss der dürre alte Leib die Türöffnung freigab und somit den Blick in einen dunklen Flur, an dessen Ende eine weitere offen stehende Tür Einsicht in eine Stube mit Kachelofen gewährte. Gegen das Wesen, das auf der Bank vor dem Kachelofen sass, war die Alte an der Tür noch als ausgesprochen jugendfrisch zu bezeichnen. Ein Wust aus über einander getragenen Strickjacken und Röcken, fast leer wirkend, hängte nicht darüber ein seltsam bräunlich gegerbter Lederapfel von Kopf, dessen zugehörigen Körper man vergeblich unter den Stoff- und Wollschichten zu erahnen suchte. Das einzig lebendige waren zwei eifrig sich bewegende Augen inmitten dieser unergründlichen Fläche aus Runzeln. Und der Gestank in der Hütte! Es stank nach aufgewärmtem Sauerkraut und ungewaschenen Haaren, dem Geruch alter Frauen eben. Gabi unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte zwar nicht so recht gewusst, was sie wollte, aber was sie nicht wollte, das wusste sie immer. Auf jeden Fall nicht mitten im Schnee auf einem beschissen Berg in der Kälte mit zwei vermuffelten Greisinnen, ihrer Mutter und der ewig greinenden Kleinen eingesperrt sein! Mama verzog das Kind, das arme kranke Kind, den ungewollten Spross einer gar nicht mal so tollen Liebesnacht, hektisch und voller männlicher Gier. Gabi hatte seine Küsse und seine zu hart zupackenden Hände über sich ergehen lassen, weil sie es nicht anders kannte und weil sie auch mit niemandem wirklich darüber reden konnte, wie es denn sein könnte, wenn es wirklich schön wäre. Sie tat nur, was alle taten, denn Jungfrauen waren ebenso Mega-out wie Schlampen, die es mit jedem trieben. War sie eine Schlampe? Nein, sie konnte ja nicht wissen, dass der Kerl bloß zwei Wochen lang nett zu ihr war und aufmerksam, weil er sie ins Bett kriegen wollte und deshalb in Sicherheit wiegen. Er erzählte ihr sogar, sie sei das erste Mädchen, das er wirklich liebe und sie dämliche naive Kuh hatte es natürlich geglaubt, einfach nur weil es so gut tat, dieses Gefühl, jemand Besonderes zu sein. Heute war sie nichts mehr, nicht mehr als ein Brutkasten für dieses Balg, das ihre Mutter mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit überschüttete, mehr Aufmerksamkeit, als Gabi erinnerte, je erhalten zu haben. Da waren sie nun also, sie, der Packesel, ihre Mutter und die Kleine und Mama fragte die Alte an der Tür, wo denn ihre Zimmer seien. Die Greisin deutete mit ihrem Kopf eine steile Stiege hinauf, während das Dörrobst auf der Ofenbank den Hals lang machte, um nichts zu verpassen. Die alten Weiber sagten die ganze Zeit kein Wort, Gabi dachte sich, vielleicht schämen die sich wegen ihres Dialekts oder die denken, die Preußen verstehen ja sowieso nicht, was wir sagen. Oder die Eingeborenen hier sparten einfach Wörter, um bei der Kälte nicht zu viel warme Luft zu verlieren. Egal. Sie wollte nur noch in ein Bett fallen und tot sein, vielleicht sich später einen runterholen zum Abschalten, andere Freuden erwartete sie sich nicht von diesem grauenhaften Ort. Also schleppte sie die Taschen in die Kammer im ersten Stock, die für die nächsten vier Wochen ihr Zuhause sein sollte.
Anderntags mochte die Kleine Schlitten fahren und Mama überließ Gabi die ruhmvolle Aufgabe, mit ihr zu gehen. War schon komisch, immer wenn es körperlich anstrengend zu werden drohte, dann kam Mama mit den doofen Sprüchen über Mutterpflicht und dass sie sich die Kleine nicht entfremden dürfe und es sei doch ihr eigen Fleisch und Blut und all solcher gequirlter Kacke. Damit es nicht wieder Ärger gäbe, zog sie der Kleinen den Schneeoverall an und die neuen Winterstiefel, den Schal, die Mütze, Handschuhe nicht vergessen und auf keinen Fall das Gesichtchen einzucremen, sonst zetert Mama wieder tagelang über ihre Verantwortungslosigkeit. Der Rodelhang war ziemlich hoch und steil und das arme asthmatische Kind durfte natürlich nicht da rauf laufen, sondern musste unbedingt auf dem Schlitten sitzend gezogen werden. Gabi keuchte diesen verdammten Berg hinauf, der Wind blies von vorn und trug Schnee in ihr Gesicht. Die Kleine plapperte die ganze Zeit irgendwelchen Kleinkindersabbel und Gabi wünschte sich weit weg an einen warmen Ort; Florida müsste jetzt Klasse sein, da ist es warm im Winter hatte sie in der Glotze gesehen in irgend so einem Reisemagazin. Aber das konnte sie sich abschminken, jede übrige Mark wurde in das Kind gesteckt. Der Wind wurde stärker und brachte nun kleine Eisnadeln mit sich, die in die Haut stachen wie glühende Nadeln, komisch, sind doch eigentlich kalt aber fühlen sich heiß an, die Dinger. Noch beschissener kann es nicht mehr werden, dachte Gabi, da fing die Kleine an zu heulen, aua, aua, die Eisdinger pieksten die zarte babycreme-gecremte Haut, Gabi, mach das weg, mach was, sonst plärrte das Balg noch, wenn wir zurück kämen und Mama hielte wieder einen Vortrag darüber, dass man sie nicht alleine lassen könne mit dem Kind, weil sie die kleinsten Kleinigkeiten nicht geregelt bekäme. Also ließ sie sich auf alle Viere nieder und krabbelte, den Schlitten hinter sich her zerrend, nun als lebender Windbrecher den Berg hinauf, ihren Rücken vor dem Gesicht der Kleinen, bloß Ruhe. Bitte.
Es knallt. Ein Schlag reißt sie zu Boden, ein brennend heißer Schmerz fährt in ihren Nacken, in die Mulde rechts neben der Halswirbelsäule, bohrt sich von dort lähmend in all ihre Knochen. Sie hat das Zugseil losgelassen, die Kleine ist vom Schlitten gefallen und wühlt sich kreischend aus dem Schnee. Der Schlitten liegt neben Gabis linker Hand und von dieser springen blaue Funken und kleine Blitze auf die eisernen Kufen über, geheimnisvoll knisternd wie Seidenpapier an Heilig Abend, und hüllen das Gefährt und sie in einen Schimmer aus morbidem Licht. Die Kleine schreit, sie klingt so weit entfernt. Gabi liegt flach auf dem Bauch und die Erkenntnis trifft sie wie ein zweiter Schlag: Ein Blitz hat sie getroffen! Sie spürt den Strom in ihrem Körper kreisen und weiß nur noch eines, sie will nicht sterben, warum hat es nicht das Balg erwischt, die Wurzel all ihres Unglücks, nein, sie will nicht sterben. Halb gelähmt, schafft sie es irgendwie und erinnert sich an den Physikunterricht, sie muss sich erden, Millimeter für Millimeter trotzt sie dem rasenden Schmerz in ihren Muskelfasern die Bewegung ab und steckt ihre nackte rechte Hand in den Schnee. Die Ladung strömt aus ihr wie Wasser aus einer geborstenen Steigleitung und gleichzeitig ihr Schrei, der wilde Schrei eines verwundeten Tiers.
Todesangst. Zugeschnürte Kehle, ihre Brust in einen immer enger werdenden Panzer gepresst, sie bekommt keine Luft, sie erstickt...
Gabi schüttelt sich und tapst im dunklen Bett nach dem vertrauten Körper neben ihr. So heftig hat sie schon lange nicht mehr geträumt. Im Halbschlaf nimmt er sie in seine Arme. Kein Trost. Zuviel Adrenalin. Die Stelle, an der im Traum der Blitz sie traf, schmerzt höllisch. Sie befreit sich aus der schlaftrunkenen Umarmung, schlüpft aus dem Schlafzimmer und geht hinaus auf den Balkon. Es ist fünf Uhr morgens. Ein wundervoller Sommermorgen. Es hat nachts wieder geregnet, die Luft ist klar und frisch. Aus einer Wohnung des Nachbarhauses dringt laute Radiomusik. Sie saugt heftig die Morgenluft in ihre Lungen wie eine vom Ertrinken Gerettete, dehnt und streckt sich und der verrutschte Halswirbel springt mit lautem Krachen wieder an seinen Platz.
Nein, sie bereut es nicht, damals abgetrieben zu haben.
CMvM 2001
Sie kamen in der Berghütte an, endlich. Gabi war erledigt von der rüttelnden Zugfahrt, vom Schleppen der Taschen zur Seilbahn – in diesem dämlichen Kaff kannten die so etwas wie Taxis nur vom Hörensagen – dieses ganze Gezeter um das Asthma der Kleinen, das zu dieser tollen Reise geführt hatte, all das wuchs sich aus zu einer unerträglichen Last, die ihr ihrerseits den Atem abschnürte. Aber wen interessierte das schon? Mama hatte seit der Geburt der Kleinen nur noch Augen, Ohren und Gefühle für dieses Balg, was für einen ihrer Sinne ließ sie noch für Gabi übrig? Keinen. Erwachsen sollte sie sein mit ihren neunzehn Jahren, erwachsen und nicht so egoistisch, wo die Kleine sich doch nicht wehren könne gegen so eine Große wie sie. Nicht so egoistisch, pah! Das hatte sie sich schon anhören müssen, als sie Mama beichtete, dass ihre Regel bereits zum zweiten Mal ausgeblieben war, danach von ihr zum Frauenarzt geschleift und im Anschluss daran von allen aus der Familie nieder gemacht worden war, als sie es wegmachen lassen wollte. Sie wollte dieses Ding in ihrem Bauch nicht, das sie kotzen und ihr Leben nur noch komplizierter machte. In der Schule hatte sie ohnehin Schwierigkeiten genug, keinen Plan, was sie später im Leben machen wollte, schlechte Noten und jeder Erwachsene hackte auf ihr herum, sie müsse doch endlich mal Verantwortung für ihre Zukunft übernehmen – wie sie das ankotzte, wenn sie doch endlich einfach mal ihre Ruhe hätte! Und dann das. Der Kerl, der sie wahrscheinlich geschwängert hatte, war ein Player, wie sie hinterher mitbekam, der wollte sie nur ficken und war dann schon wieder verschwunden, keinen Nachnamen wusste sie von dem, nicht einmal seinen richtigen Vornamen, nur seinen Nick. Weder ihre allwissende Mutter noch ihr dämlicher Frauenarzt hatten ihr gesagt, dass die Pille nicht wirkt, wenn man Dünnschiss hatte und wer verdammt noch mal liest wirklich diese verdammten Waschzettel? Klar, zum Ausbaden der Scheiße, da konnten die sie verdonnern, sie war ja jung und doof und hatte kein Recht auf eine eigene Meinung. Drei Jahre war die Kleine jetzt alt und Gabi war immer noch ohne Schulabschluss und Ausbildung, hatte nach der Geburt (so eine schmerzhafte Scheiß-Aktion!) den Anschluss endgültig nicht mehr geschafft, hing immer nur zu Hause rum und zog sich sämtliche Talkshows in der Glotze rein, während ihre Mutter ständig um das Balg herumgluckte. Dann das Asthma der Kleinen, der Kinderarzt sagte, die Umweltverschmutzung in der Stadt sei schuld und das Kind müsse unbedingt eine Zeit lang an einen Luftkurort, weg von den Abgasen, am Besten in die Berge. Ja verdammt, aber doch nicht ausgerechnet im Winter! Aber Mama wusste ja wie immer alles besser, Gabi wehrte sich nicht mehr dagegen – hatte sowieso keinen Sinn – man durfte da auf keinen Fall warten, bis etwa die Krankenkasse so was bezahlt, nein, es musste sofort gehandelt werden. Da die Kohle nicht so dicke gesät war, wie immer, nie hatte sie anderes erlebt, suchte man natürlich etwas Günstiges, ein Sonderangebot, so kam die Idee mit diesem Bergbauernhof, der Zimmer an Feriengäste vermietete. Bauernhof! Eine elende Hütte war das, was sich nach der Schlepperei von der Seilbahnstation zu der elenden Ansammlung verrotteter alter Häuser als ihr Reiseziel entpuppte.
Sie kamen also an. Mama klopft und eine alte verschrumpelte Frau öffnet die Tür. Was für eine Tür – zusammengenagelte alte verrottete Bretter mit dicken rostigen Eisenbeschlägen, die schief aufschwangen. Genauso schief wie der Blick der Alten, die sie musterte und nach Mamas Erklärung, sie seien die angemeldeten Feriengäste, mit einem Nicken endete, in dessen Anschluss der dürre alte Leib die Türöffnung freigab und somit den Blick in einen dunklen Flur, an dessen Ende eine weitere offen stehende Tür Einsicht in eine Stube mit Kachelofen gewährte. Gegen das Wesen, das auf der Bank vor dem Kachelofen sass, war die Alte an der Tür noch als ausgesprochen jugendfrisch zu bezeichnen. Ein Wust aus über einander getragenen Strickjacken und Röcken, fast leer wirkend, hängte nicht darüber ein seltsam bräunlich gegerbter Lederapfel von Kopf, dessen zugehörigen Körper man vergeblich unter den Stoff- und Wollschichten zu erahnen suchte. Das einzig lebendige waren zwei eifrig sich bewegende Augen inmitten dieser unergründlichen Fläche aus Runzeln. Und der Gestank in der Hütte! Es stank nach aufgewärmtem Sauerkraut und ungewaschenen Haaren, dem Geruch alter Frauen eben. Gabi unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte zwar nicht so recht gewusst, was sie wollte, aber was sie nicht wollte, das wusste sie immer. Auf jeden Fall nicht mitten im Schnee auf einem beschissen Berg in der Kälte mit zwei vermuffelten Greisinnen, ihrer Mutter und der ewig greinenden Kleinen eingesperrt sein! Mama verzog das Kind, das arme kranke Kind, den ungewollten Spross einer gar nicht mal so tollen Liebesnacht, hektisch und voller männlicher Gier. Gabi hatte seine Küsse und seine zu hart zupackenden Hände über sich ergehen lassen, weil sie es nicht anders kannte und weil sie auch mit niemandem wirklich darüber reden konnte, wie es denn sein könnte, wenn es wirklich schön wäre. Sie tat nur, was alle taten, denn Jungfrauen waren ebenso Mega-out wie Schlampen, die es mit jedem trieben. War sie eine Schlampe? Nein, sie konnte ja nicht wissen, dass der Kerl bloß zwei Wochen lang nett zu ihr war und aufmerksam, weil er sie ins Bett kriegen wollte und deshalb in Sicherheit wiegen. Er erzählte ihr sogar, sie sei das erste Mädchen, das er wirklich liebe und sie dämliche naive Kuh hatte es natürlich geglaubt, einfach nur weil es so gut tat, dieses Gefühl, jemand Besonderes zu sein. Heute war sie nichts mehr, nicht mehr als ein Brutkasten für dieses Balg, das ihre Mutter mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit überschüttete, mehr Aufmerksamkeit, als Gabi erinnerte, je erhalten zu haben. Da waren sie nun also, sie, der Packesel, ihre Mutter und die Kleine und Mama fragte die Alte an der Tür, wo denn ihre Zimmer seien. Die Greisin deutete mit ihrem Kopf eine steile Stiege hinauf, während das Dörrobst auf der Ofenbank den Hals lang machte, um nichts zu verpassen. Die alten Weiber sagten die ganze Zeit kein Wort, Gabi dachte sich, vielleicht schämen die sich wegen ihres Dialekts oder die denken, die Preußen verstehen ja sowieso nicht, was wir sagen. Oder die Eingeborenen hier sparten einfach Wörter, um bei der Kälte nicht zu viel warme Luft zu verlieren. Egal. Sie wollte nur noch in ein Bett fallen und tot sein, vielleicht sich später einen runterholen zum Abschalten, andere Freuden erwartete sie sich nicht von diesem grauenhaften Ort. Also schleppte sie die Taschen in die Kammer im ersten Stock, die für die nächsten vier Wochen ihr Zuhause sein sollte.
Anderntags mochte die Kleine Schlitten fahren und Mama überließ Gabi die ruhmvolle Aufgabe, mit ihr zu gehen. War schon komisch, immer wenn es körperlich anstrengend zu werden drohte, dann kam Mama mit den doofen Sprüchen über Mutterpflicht und dass sie sich die Kleine nicht entfremden dürfe und es sei doch ihr eigen Fleisch und Blut und all solcher gequirlter Kacke. Damit es nicht wieder Ärger gäbe, zog sie der Kleinen den Schneeoverall an und die neuen Winterstiefel, den Schal, die Mütze, Handschuhe nicht vergessen und auf keinen Fall das Gesichtchen einzucremen, sonst zetert Mama wieder tagelang über ihre Verantwortungslosigkeit. Der Rodelhang war ziemlich hoch und steil und das arme asthmatische Kind durfte natürlich nicht da rauf laufen, sondern musste unbedingt auf dem Schlitten sitzend gezogen werden. Gabi keuchte diesen verdammten Berg hinauf, der Wind blies von vorn und trug Schnee in ihr Gesicht. Die Kleine plapperte die ganze Zeit irgendwelchen Kleinkindersabbel und Gabi wünschte sich weit weg an einen warmen Ort; Florida müsste jetzt Klasse sein, da ist es warm im Winter hatte sie in der Glotze gesehen in irgend so einem Reisemagazin. Aber das konnte sie sich abschminken, jede übrige Mark wurde in das Kind gesteckt. Der Wind wurde stärker und brachte nun kleine Eisnadeln mit sich, die in die Haut stachen wie glühende Nadeln, komisch, sind doch eigentlich kalt aber fühlen sich heiß an, die Dinger. Noch beschissener kann es nicht mehr werden, dachte Gabi, da fing die Kleine an zu heulen, aua, aua, die Eisdinger pieksten die zarte babycreme-gecremte Haut, Gabi, mach das weg, mach was, sonst plärrte das Balg noch, wenn wir zurück kämen und Mama hielte wieder einen Vortrag darüber, dass man sie nicht alleine lassen könne mit dem Kind, weil sie die kleinsten Kleinigkeiten nicht geregelt bekäme. Also ließ sie sich auf alle Viere nieder und krabbelte, den Schlitten hinter sich her zerrend, nun als lebender Windbrecher den Berg hinauf, ihren Rücken vor dem Gesicht der Kleinen, bloß Ruhe. Bitte.
Es knallt. Ein Schlag reißt sie zu Boden, ein brennend heißer Schmerz fährt in ihren Nacken, in die Mulde rechts neben der Halswirbelsäule, bohrt sich von dort lähmend in all ihre Knochen. Sie hat das Zugseil losgelassen, die Kleine ist vom Schlitten gefallen und wühlt sich kreischend aus dem Schnee. Der Schlitten liegt neben Gabis linker Hand und von dieser springen blaue Funken und kleine Blitze auf die eisernen Kufen über, geheimnisvoll knisternd wie Seidenpapier an Heilig Abend, und hüllen das Gefährt und sie in einen Schimmer aus morbidem Licht. Die Kleine schreit, sie klingt so weit entfernt. Gabi liegt flach auf dem Bauch und die Erkenntnis trifft sie wie ein zweiter Schlag: Ein Blitz hat sie getroffen! Sie spürt den Strom in ihrem Körper kreisen und weiß nur noch eines, sie will nicht sterben, warum hat es nicht das Balg erwischt, die Wurzel all ihres Unglücks, nein, sie will nicht sterben. Halb gelähmt, schafft sie es irgendwie und erinnert sich an den Physikunterricht, sie muss sich erden, Millimeter für Millimeter trotzt sie dem rasenden Schmerz in ihren Muskelfasern die Bewegung ab und steckt ihre nackte rechte Hand in den Schnee. Die Ladung strömt aus ihr wie Wasser aus einer geborstenen Steigleitung und gleichzeitig ihr Schrei, der wilde Schrei eines verwundeten Tiers.
Todesangst. Zugeschnürte Kehle, ihre Brust in einen immer enger werdenden Panzer gepresst, sie bekommt keine Luft, sie erstickt...
Gabi schüttelt sich und tapst im dunklen Bett nach dem vertrauten Körper neben ihr. So heftig hat sie schon lange nicht mehr geträumt. Im Halbschlaf nimmt er sie in seine Arme. Kein Trost. Zuviel Adrenalin. Die Stelle, an der im Traum der Blitz sie traf, schmerzt höllisch. Sie befreit sich aus der schlaftrunkenen Umarmung, schlüpft aus dem Schlafzimmer und geht hinaus auf den Balkon. Es ist fünf Uhr morgens. Ein wundervoller Sommermorgen. Es hat nachts wieder geregnet, die Luft ist klar und frisch. Aus einer Wohnung des Nachbarhauses dringt laute Radiomusik. Sie saugt heftig die Morgenluft in ihre Lungen wie eine vom Ertrinken Gerettete, dehnt und streckt sich und der verrutschte Halswirbel springt mit lautem Krachen wieder an seinen Platz.
Nein, sie bereut es nicht, damals abgetrieben zu haben.
CMvM 2001