Blumen für Isabell

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anbas

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Blumen für Isabell

Ein böiger Wind fegte kalten Nieselregen über den Bahnsteig. Unbarmherzig kündigte sich der Herbst an. Es war bereits Abend, die Laternen des kleinen Dorfbahnhofs beleuchteten den Bahnsteig und die Gleise nur sehr notdürftig. Die alte Schalterhalle war schon seit Jahren geschlossen. Auch das gesamte Gebäude, in dem sie sich befand, wurde längst nicht mehr genutzt. Selbst die Toiletten waren außer Betrieb. Das Haus verfiel zunehmend, ohne dass es irgendjemanden zu kümmern schien.
An der linken Seite des Gebäudes befand sich der einzige Zugang zum Bahnsteig. Dort gab es auch einen kleinen Unterstand mit ein paar Sitzplätzen. Nur alle zwei Stunden hielt hier eine Regionalbahn. Die erste kam morgens um 5:23 Uhr an, die letzte verließ ihn um 23:24 Uhr. Zwischendurch rasten immer mal wieder Güterzüge oder ein ICE vorbei.

Isabell! Isabell würde, so wie es jetzt aussah, mit dem letzten Zug kommen. Nervös wippten die Füße des älteren Herren, der in dem Unterstand saß, auf dem Boden. In seinen Händen hielt er einen in Folie verpackten Blumenstrauß. Es waren bunte Blumen, vor allem rote und gelbe – Isabells Lieblingsfarben. Sie mochte alles, was bunt war, je knalliger, umso besser.

"Ich bin bald wieder da", hatte sie zu ihm gesagt, als sie damals in den Zug gestiegen war. Dann hatte sie über seine Wange gestreichelt und ihm einen liebevollen Kuss gegeben.
Heute war es endlich so weit. Wie so oft, wenn sie unterwegs war, hatte Isabell ihm nicht gesagt, wann sie genau zurückkommen würde. Sie mochte es nicht, sich verbindlich festzulegen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie ein paar Freunde auf einen Kaffee traf, zum Einkauf in die Stadt fuhr oder für ein paar Tage ihre Schwester besuchte, die an der Nordsee lebte. Irgendwann war sie einfach wieder da. Manchmal machte sie sich den Spaß, dass sie ins Haus schlich, sich in die Küche setzte und etwas zu lesen begann. Wie eine Schneekönigin freute sie sich dann, wenn er einige Zeit später in die Küche kam und sie dort unverhofft antraf. Doch diesmal wollte er sie überraschen.

Der Alte war sich ziemlich sicher, dass sie gegen Mittag eintreffen würde. Schließlich hatte Isabell eine längere Fahrt vor sich. Sicherheitshalber wollte er aber schon einen Zug früher am Bahnhof sein. Dieser sollte um 09:23 Uhr ankommen. Daher machte er sich gegen viertel vor neun auf den Weg. Er wohnte am Rand des Dorfes und musste einmal quer durch den Ort gehen. Unterwegs kaufte er noch einen Strauß Blumen.
Am Bahnhof angekommen ging er nervös den Bahnsteig auf und ab. Doch als dann endlich der Zug kam, stieg Isabell nicht aus – weder um 09:23 Uhr noch um 11:23 Uhr oder 13:23 Uhr. Ihr war sicherlich wieder mal irgendetwas in den Sinn gekommen, was sie vor ihrer Rückfahrt noch erledigen oder unternehmen wollte.

Der Mann wartete weiter und verbrachte Stunde um Stunde in dem Unterstand. Auf keinen Fall wollte er ihre Ankunft verpassen. Außerdem war es ihm zu mühsam, immer wieder den Weg von seiner Wohnung zum Bahnhof und zurück zu gehen. Nur zweimal war er zwischendurch kurz nach Hause gegangen, um sich ein wenig aufzuwärmen. Bei der Gelegenheit hatte er sich dann auch etwas zum Essen und Trinken eingepackt, sowie ein Buch, um die Wartezeit besser überbrücken zu können.

Isabell... Er hatte sie sehr vermisst. Wie lange waren sie schon zusammen? Der Alte konnte es nicht genau sagen, sein Gedächtnis ließ ihn inzwischen das eine oder andere Mal im Stich. Aber die goldene Hochzeit war erst ein paar Jahre her. An die Feier erinnerte er sich noch sehr genau.

Der Regen wurde stärker und prasselte lautstark auf das Dach des Unterstandes. Mit leicht zitternden Händen klappte der Mann den Kragen seiner Jacke hoch. Es wurde wirklich Zeit, dass er seinen Schal und den warmen Mantel aus dem Schrank holte. Die Tage wurden immer kälter.

Isabell liebte jedes Wetter. Diese unerschütterliche gute Laune faszinierte ihn immer wieder seit er sie kennengelernt hatte. Selbst nach der schlimmen Diagnose blieb sie optimistisch und ließ sich ihre Unbeschwertheit nicht nehmen. Beim Packen für den Klinikaufenthalt scherzte sie, fragte, ob sie auch Sonnenmilch einpacken solle. Sie würde ja nur in den Urlaub fahren – ein Urlaub mit Spezialbehandlung, wie sie sagte. Doch dann gab es Komplikationen, und es dauerte viel länger, als alle gedacht hatten.

Nun fuhr der letzte Zug des Tages ein. Nur wenige Leute stiegen aus. Alle mussten an dem Unterstand vorbeigehen. Isabell war nicht unter ihnen. Aber ganz am anderen Ende des Bahnsteigs konnte er noch eine Person erkennen, die sich langsam näherte und einen Rollkoffer hinter sich herzog.
Isabell! Der alte Mann stand auf und ging ihr entgegen. Der Regen lief ihm durch die Haare und das Gesicht. Die Frau kam immer näher und der Alte spürte seinen Herzschlag, so wie damals, als er zum ersten Rendezvous mit Isabell gegangen war.
Isabell? Nein, sie war es nicht. Die unbekannte Frau eilte an ihm vorbei. Regungslos blieb der Alte stehen, während das Knirschen des Koffers in der Ferne verschwand.

Es dauerte eine Weile, bis er sich umdrehte und langsam zum Ausgang ging. An der Bushaltestelle vor dem Bahnhof erblickte er die Frau mit dem Rollkoffer. Der letzte Bus des Tages, der die umliegenden Dörfer anfuhr, müsste jeden Moment kommen. Langsam ging er zu ihr hinüber. Der schmale überdachte Windschutz war wesentlich ungemütlicher als der Unterstand, in dem er gewartet hatte. Es gab noch nicht einmal Sitzmöglichkeiten.
"Darf ich ihnen die schenken?" fragte er die Frau, nachdem er sie erreicht hatte, und hielt ihr den Blumenstrauß entgegen.
"Das ist sehr nett von ihnen", sagte diese lächelnd, "aber ich bin gegen die meisten Blumen allergisch."

Der Alte nickte kurz und machte sich dann ohne ein weiteres Wort auf den Heimweg. Nach ein paar Minuten erreichte er einen gut beleuchteten Weg, der durch eine kleine Grünanlage führte. Er bog in ihn ein und erreichte nach wenigen Schritten eine Bank. Ihre Bank. Dort hatten Isabell und er gerne gesessen. Zunächst abends, wenn sie beide von der Arbeit nach Hause gekommen waren, später als Rentner auch mal am Nachmittag.
Der Alte hätte sich gerne für einen Moment hingesetzt, doch die Bank war zu nass und ihm wurde auch immer kälter. Behutsam legte er den Blumenstrauß neben die Bank, um dann langsam weiter nach Hause zu gehen. Die anderen Sträuße, die dort bereits lagen und zum Teil schon verwelkt waren, beachtete er nicht.
 

anbas

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Hallo SilberneDelfine,

vielen Dank für Deine Rückmeldung. Ja, vielleicht kann man das Ende erahnen - ich konnte es nicht, als ich die Geschichte schrieb ;) (wie so oft habe ich mich zu dem Ende beim Schreiben hintreiben lassen).


Außerdem bedanke ich mich für die eingegangen Sternchen!


Liebe Grüße

Andreas
 



 
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