Blumen für Julia

Breimann

Mitglied
„Ahh!“ Der Versuch, sich aufrecht zu setzen, lässt ihn kräftig aufstöhnen. Der Rücken ist steif und zwingt ihn zu einer ausgedehnten Streckbewegung. Es bringt ihm kaum Erleichterung; er hat zu lange in verkrampfter Haltung auf den Bildschirm gestarrt.
Die Uhr auf dem Schreibtisch mahnt ihn; sein schlechtes Gewissen pocht schon seit einer Stunde, macht sich bei jedem Blick auf die pulsierende Digitalanzeige stärker bemerkbar. Es ist Sonntag – gerade noch. Es wird Zeit, dass er ins Bett kommt! Er ist müde von der Arbeit und das anstrengende Wochenende steckt ihm auch noch in den Knochen.
„Die letzte Seite noch“, denkt er, - und seufzt in Gedanken tief und erleichtert.
Sie ist fast fertig, die Präsentation, bestehend aus zwölf fachmännisch gestalteten Seiten. Die Überschrift des letzten Blattes - „Zusammenfassung und Beschlussempfehlung“ - lässt keine weiteren Ausarbeitungen mehr erwarten. Das ist auch gut so, denn bis zum Vortrag bleiben ihm gerade noch – er schaut erneut auf die Uhr – knappe acht Stunden.
Er schreibt schnell weiter: „Es empfiehlt sich also, wie die vorhergehenden Ausführungen gezeigt haben, folgender Beschluss: Das Servicekonzept wird zum 1. Januar des kommenden Jahres eingeführt. Es wird als Projekt definiert, um eine genaue Erfolgskontrolle zu ermöglichen. Als Projektleiter benennen wir...“
Er zögert einen winzigen Augenblick, aber nur, weil er nicht sicher ist, ob er dem Vorstand vorgreifen soll. Dass er der Projektleiter sein wird, daran hat er keinen Zweifel, – und dann schüttelt er den Kopf.
„Was soll´s“, denkt er. „Mut wird belohnt! Warum soll ich mein Licht unter den Scheffel stellen?“
Er schreibt seinen Namen in einer etwas größeren Schrift: „Frank Berger“.
Er ist fertig – oder? Noch ein letztes Mal überfliegt er diese Abschlussseite. Nein - alles ist in Ordnung.
Dieses Präsentationsprogramm ist sein Lieblingswerkzeug. Er kann stundenlang feilen, die Möglichkeiten sind schier unerschöpflich. Animationen, Übergänge von einem Bild zum anderen, Businessgrafiken und eine kluge Raumaufteilung machen jeden seiner Vorträge zu einem Erlebnis – findet er.
„Vortrags-Freak“, „Süchtig ist der“, sagen seine innerbetrieblichen Gegner abfällig. Es stört ihn nicht; er weiß, wie Vorträge optimal vorbereitet und angeboten werden müssen.
Er reckt sich noch einmal, dann schaltet er die Funktion „Bildschirmpräsentation vorführen“ ein und lehnt sich zurück. In Abständen von einer Minute blättert der Computer die Seiten um.
Für den Vortrag wird er den Wechsel auf zwei Minuten einstellen; einschließlich der Seitenwechsel dauert das Ganze dann dreißig Minuten, – und das ist die Zeit, die ihm der Vorstand einräumt.
Die Seiten flammen auf, schieben sich weg, machen Platz für die Nächsten. Logisch aufgebaute Titelfolgen zeigen das durchdachte Vortragskonzept:
„Entwicklung des Computereinsatzes in unserem Unternehmen“, „Stand heute“, „Kosten“, „Mängel“, Probleme beim Outsourcing“, „Unser Servicekonzept“ (mehrere Seiten), „Einsparungen“ und dann „Zusammenfassung und Beschlussempfehlung“.
Er ist beeindruckt, muss lächeln, sein Stolz auf die gelungene Arbeit lässt ihn die Rückenschmerzen vergessen. Da ist nichts mehr zu verbessern, nichts ist zuviel, nichts muss hinzu gefügt werden.
„Und das, nach diesem Wochenende“, denkt er in unbändigem Stolz. „Das soll mir erst mal einer nachmachen!“
„Schuld daran sind diese Weiber!“, denkt er ohne Groll, meint damit seine Frau Julia und ihre Freundin Conny, die sein Wochenende verplant hatten.

Es hatte noch ganz normal angefangen, dieses Wochenende. Am Freitagmorgen, beim gemeinsamen Frühstück, hatte Julia ihn beschwörend angesehen..
„Denk bloß an unsere Verabredung! Komm nicht so spät! Du hast sie doch nicht vergessen?“
„Natürlich nicht Julia, mein Schatz!“
Dabei hatte er ein bisschen ein schlechtes Gewissen; er hatte nicht mehr dran gedacht! Am Abend wollten sie in die Eifel fahren, sich dort mit Klaus und Conny treffen. Die wollten schon am Nachmittag los; Klaus hat Freitags schon gegen Mittag Feierabend.
Solche Sachen planten und verabredeten Julia und Conny selbständig; die Männer hätten dazu sowieso keine Zeit, hatten sie festgestellt. Sie wollten in der Eifel wandern, unterwegs einkehren, und erst am Sonntag zurück fahren.
„Heute Abend essen wir erst gemütlich im „Burghof“ und trinken was; am Samstag starten wir dann früh. Conny hat eine herrliche, abwechslungsreiche Tour ausgearbeitet!“, hatte Julia begeistert aufgezählt.
„Aber wir fahren erst am Sonntagabend zurück! - Ja?“, hatte sie gefordert. „Wann haben wir schon mal das Vergnügen, gemeinsam ein ganzes Wochenende zu verbringen?“
Der Tag in der Firma war eigentlich auch normal verlaufen; alle freuten sich aufs Wochenende – und alle hatten einen Stein im Magen wegen der Gerüchte, dass die Abteilung aufgelöst würde.
Kurz bevor er seinen Schreibtisch abschließen wollte, hatte sein Chef, Armin Lücke, ihm eine „kleine Wochenendarbeit“ aufgegeben.
„Wir müssen ihr Servicekonzept vorstellen! Tut mir leid Berger! Hab auch gerade erst davon erfahren. Am Montag um acht - im Sitzungszimmer des Vorstands sollen wir vortragen. Wie lange haben wir schon auf diese Gelegenheit gewartet, was Berger? Es ist unsere letzte Chance!“
„Ist doch wunderbar! Dann will ich mal alles mitnehmen, was ich dafür brauche.“
„Sie kennen unseren Vorstand! Er verlangt Präzision! Er erwartet nachvollziehbare Aussagen, klare Beschlussempfehlungen! Geben sie ihr Bestes! Alles, das Schicksal unserer Abteilung, hängt von der Entscheidung des Vorstandes ab. Ich verlasse mich voll und ganz auf sie – zu recht, oder? Fühlen sie sich dazu in der Lage? Oder soll ich ihren Part übernehmen?“
Natürlich hatte er zugesagt. Das hätte dem Lücke so gepasst! Monatelange Vorbereitung, und dann wollte sein Chef das Projekt dem Vorstand vorstellen! Nein, so nicht. An wie vielen Wochenenden hatte er schon an seinem PC zu Hause gearbeitet? Ach Gott! Und Julia hatte selten gemeutert. Würde sie an diesem Wochenende auch nicht; da war er sich sicher. Sie würde einsehen, dass es diesmal um mehr ging.
Er würde sie einweihen; er wollte ihr sagen, wenn sie wirklich, wie die Gerüchte sagten, alle Beschaffungen und den gesamten Service nach draußen vergeben würden, dann würde ihre Abteilung aufgelöst – da führte kein Weg dran vorbei. Und er müsste die Alternative ausarbeiten; sie wäre ihre letzte Chance, und nur sie sicherte ihre Arbeitsplätze.
Er hatte alle nötigen Unterlagen eingepackt, sich vergewissert, dass im Sitzungszimmer eine Computerprojektion vorgesehen war; dann war er losgefahren, hatte sich in den Feierabendverkehr eingefädelt.
Im ersten kleinen Stau, während er das blonde Mädchen im roten Auto nebenan angestarrt hatte, da war´s vorbei gewesen mit der Ruhe.
„Mist! Das Eifelwochenende!“, hatte er gedacht; - aber das musste jetzt dran glauben.
Als er dann nach Haus gekommen war, hatte Julia bereits gepackt. Er hatte sie bedrückt angesehen; sein unglückliches Gesicht war Julia gleich aufgefallen.
„Ist was?“, hatte sie ahnungsvoll gefragt und schon die eiserne Rüstung angelegt. Er kannte ihre Miene aus einigen ähnlichen Fällen, in denen sie „Ist was?“ gefragt hatte.
Und er hatte erzählt, hatte die Wochenendarbeit zur Überlebensfrage erklärt, sich lang und breit über das Projekt ausgelassen. Na ja, und dann hatte sie ihn nur vor die Alternative gestellt: „Die Firma oder ich!“
„Oh, verdammt!“, hatte er gedacht. Das war wirklich unfair und keine echte Alternative gewesen, denn er konnte und wollte nicht auf Julia verzichten – eher schon auf die Firma. – Obwohl...
Sie hatten ein herrliches Wochenende in der Eifel verbracht, waren bis zur Ahr und zurück gewandert. Gut, in den ersten Stunden war er noch motzig, etwas angespannt gewesen, aber dann hatte er sich anstecken lassen von der allgemeinen guten Laune.
Gegen sechs waren sie heute zurück gekommen. – und er hatte nicht mehr an den Vortrag gedacht! Erst als er in seinem Arbeitszimmer den Kalender gesucht hatte, - Julia wollte einen neuen Termin mit Klaus und Conny ausmachen – da hatte es ihn eiskalt erwischt.
Er hatte sofort begonnen, sich in die Unterlagen gestürzt, gerechnet, formuliert, den Vortrag konstruiert.
„Was ist? Bist du fertig?“, hatte Julia um zehn gähnend gefragt. „Ich geh schon mal ins Bett; ich bin todmüde! Frohes Schaffen - und mach nicht mehr so lange!“

Jetzt steht der Vortrag endlich! Und das, obwohl er am ganzen Wochenende gefaulenzt hat! Er spürt plötzlich ein Kitzeln im Nacken und riecht gleichzeitig Julias Parfüm. Ihre Haare legen sich auf sein Gesicht und er fühlt ihre Bettwärme.
„Komm, Schatz! Hör endlich auf! Es ist schon Montag! Du musst doch noch etwas schlafen!“
„Ich bin gleich fertig. Nur noch einmal lesen, abspeichern und ein Duplikat auf die Diskette spielen. Und außerdem, mein Schatz! – Wem verdanke ich denn die Nachtarbeit? He? Wer hat mich in die wilde Eifel entführt?“
„Conny und Klaus! Komm schon! Diese blöde Speicherei kannst du auch machen, wenn du dich rasiert hast, - vor dem Frühstück.“
„Quatsch! Das geht schnell, Schatz.“
Julia interessiert sich für Computer ungefähr so viel, wie die Kuh für den Sonntag. Sie weiß lediglich, dass Frank seine Brötchen damit verdient, dass man ihn ein- und ausschalten kann und dass er manchmal mehr Ärger macht als ihr Videorekorder; mehr will sie auch nicht wissen.
Frank kramt in der Schublade, sucht eine formatierte, aber leere Diskette.
„Ich bin wach geworden, weil es hier so laut ist.“
„Hm? Wieso laut? Der PC ist nicht laut!“
„Ist er doch! Bin davon sogar wach geworden!“
„Quatsch! Hat dich doch noch nie gestört!“
„War auch noch nie so laut! Der hört sich einfach komisch an; er brummt!“
„Schatz, die Einzige, die brummt, bist du! Geh ins Bett, ich komm gleich!“
Frank hängt über der Schublade, wühlt und sucht noch immer nach einer leeren Diskette; stirnrunzelnd betrachtet er die beschrifteten Etiketten. Julia hat den beleuchteten Knopf am brummenden PC entdeckt. Sie fixiert ihn, noch etwas unschlüssig.
„Du sagst, du bist fertig?“
„Ja, - verdammt!“
„Na, na! Was soll das?“
„Ich meine nicht dich – ich hab mir die Hand an der Schublade geklemmt.“
Er richtet sich auf, schlackert mit der linken Hand und sieht seine Frau stirnrunzelnd an.
„Was hast du gerade gefragt?“
„Ob du fertig bist?“
„Ja, Schatz – sozusagen. Nur noch speichern und sichern. Aber das hab ich dir bereits gesagt!“
„Und ich hab dir gesagt: Er brummt!“
„Er brummt nicht!“
„Na gut! Dann beweise ich es dir; du bist nämlich inzwischen taub! Du sitzt seit Stunden vor dem Kasten und kannst ihn nicht mehr hören.“
Blitzschnell bückt sie sich, stößt den langen Zeigefinger auf den beleuchteten Knopf - und Frank schreit laut auf.
„Neiiiiiin!“
„Doch! Jetzt wirst du den Unterschied hören. Der brummt nämlich nicht nur, der kreischt schon!“
Der Bildschirm ist sofort dunkel; der Rechner fährt mit einem pfeifenden Geräusch herunter; einen Moment lang hört man den Ventilator noch singen – dann ist Ruhe. Draußen hupt ein Auto, ganz kurz, dann noch einmal etwas länger.
„Das ist der Freund der Tochter von Börgers nebenan; von der Britta, - du weißt schon - der hupt immer, wenn er sie nach Hause bringt.“
„Bist du wahnsinnig? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was interessiert mich diese blöde Britta?“
Er kann es nicht fassen, macht ganz kurz die Augen zu. Dann kneift er sich in den Oberschenkel.
„Scheiße! Verdammte Scheiße! Sag, dass das nicht wahr ist!“
„Hör mal, wie still es ist! Jetzt müsstest du es aber selber merken; dein PC war irre laut.“
„Du bist irre! Die letzte Seite war nicht gespeichert! Ich brauche eine Stunde, um das alles wieder neu zu machen! Weißt du überhaupt, was du gemacht hast?“
„Reg dich nicht auf, Schatz! Mach ihn wieder an und dann kannst du das Dings da wieder auf den Bildschirm holen – und meinetwegen speichern. Fertig!“
„Ich fass es nicht! Das Ding – quatsch – die Seite, die ist weg! Verstehst du?“
„Nein, versteh ich nicht! Wieso ist die weg? Vergisst dein PC etwas, wenn man ihn ausschaltet? - Auch wenn es nur ganz kurz ist?“
„Oh Mann! Ich hab dir gesagt: Ich muss es noch abspeichern! Dann vergisst er es auch nicht mehr! Aber du, du musstest ihn einfach ausschalten – einfach pitsch machen, ohne mich zu fragen. So etwas Saublödes hab ich noch nie erlebt! Warum hast du das gemacht?“
„Weil du nicht geglaubt hast, dass er lauter ist als sonst, - darum!“
Jetzt wird sie allmählich ärgerlich, er sieht es an ihren Augen, die schon nicht mehr die Mischung aus Müdigkeit und Ironie zeigen; sie wirken hellwach und signalisieren Kampfbereitschaft.
„Wenn das Ding da blöder ist als mein Videogerät, – das kann ich nämlich beliebig aus- und wieder einschalten, ohne dass es was vergisst – dann kauf dir einen besseren PC!“
„Komm, komm! Wird schon nicht so schlimm sein! Das Ding sichert im Zwei-Minutenabstand automatisch. Können nur Kleinigkeiten sein, die ich nachholen muss.“
Er drückt mit einer Hand den Einschaltknopf und mit der anderen fasst er sie, die immer noch dicht neben ihm steht, um die Hüfte. Er spürt ihre warme Haut durch das dünne Nachthemd und will sie spontan zu sich auf den Schoß ziehen.
„Lass das! Ich bin sauer! Mach deinen Mist fertig; ich geh schon mal ins Bett! – Kannst ja gleich aufbleiben.“
So ist sie immer! Wenn man nachgibt, dann legt sie noch einen drauf und spielt ihn an die Wand.
„So sind alle Frauen!“, pflegt Klaus zu sagen, wenn sie ihre Erfahrungen mit Frauen austauschen.
Er sieht ihr nach, schaut nachdenklich auf ihre nackten Beine, als sie raus läuft und nimmt sich allerhand vor.
Dann hört er das Geräusch und dreht sich zum Bildschirm. „Blue Screen!“
„Nein! Bitte nicht!“, flüstert er entsetzt; aber das hilft nicht.
Dieses Blau mit den weißen Buchstaben und Ziffern ist ihm ein Graus. Er hasst es wie sonst kaum etwas.
Und dann der furchtbare Text: „Windows 98 Ein schwerer Ausnahmefehler ist bei 0028: C001539A aufgetreten. Die aktive Anwendung reagiert nicht mehr“.
Ihm wird schwindelig; fast eine Minute lang starrt er den Bildschirm an; dann kommt langsam wieder Leben in ihn. Das Geräusch! Da ist wirklich ein Geräusch, dass so nicht normal ist.
Er lauscht, hält die Hand ans Gehäuse. Es ist die Platte – nichts anderes! Also, schnell ausschalten! Das Geräusch erstirbt, der Bildschirm ist wieder dunkel. Er wartet etwa eine Minute, starrt seine unordentlich herum liegenden Unterlagen an. Er wagt nicht weiter zu denken, als bis zum nächsten Systemstart. Manchmal erledigt sich so ein Problem von ganz alleine – warum auch immer.
„Er muss hochfahren! Er muss!“
Zunächst sieht alles normal aus, dann – er hält den Atem an – kommt der erste Plattenzugriff. Nicht einmal mehr bis zum Blue Screen kommt er; der Bildschirm bleibt schwarz.
Das Geräusch ist viel alarmierender als vorher; es hört sich an, als ob auf der Platte gehobelt würde. Frank wartet noch ein paar Sekunden, dann schaltet er ab. Der Rechner ist hin! Es ist aus! Seine ganze Arbeit, das Ergebnis vieler Stunden, ist weg!
„Juliaaa!“
Er schreit so laut, dass sie wohl vor Schreck aus dem Bett gesprungen sein muss. Sie steht schon in der Tür, hat die Augen weit aufgerissen.
„Frank! Was ist?“
„Was ist? Was ist?“, äfft er sie nach und guckt sie wütend an.
„Erst hast du mich dazu gebracht, das Wochenende zu verplempern; dann nervst du mich mit dem "Mach endlich Schluss!"; und der Gipfel kommt, als du den Rechner ausgeschaltet hast. Es ist alles weg – alles, was ich bis eben gemacht habe!“
„Oh mein Gott! Aber das kommt doch nicht vom Ausschalten? Oder? Kann der das auch nicht verkraften?“
„Hör auf! Wenn du nicht hier rein gekommen wärst, hätte ich längst alles auf Diskette gehabt! Aber nein! Du musstest ja die besorgte Ehefrau spielen – wegen fünf Minuten, die ich noch gebraucht hätte. Es ist deine Schuld – und du weißt, was auf dem Spiel steht!“
„Weißt du was? Ihr seid beide blöde – du und dein beschissener Computer!“
Er sieht ihr diesmal nicht nach und nimmt sich nichts mehr vor. Er ist ratlos und seit langer Zeit erstmals wieder so richtig verzweifelt. Er hat keinen Ersatz; es gibt keine Hoffnung auf eine Lösung. Er wird um acht Uhr in der Vorstandssitzung erscheinen – und sich bis auf die Knochen blamieren.
„Mistkiste, - saublöde! Hättest wohl noch ein paar Minuten warten können!“ Er schlägt mit der geballten Faust wütend auf das hohl klingende Gehäuse.
Gedankenlos blättert er durch den Wust von Handzetteln, fegt die gelben Merkerblättchen auf einen Haufen, starrt die drei Aktenordner mit den gesammelten Belegen und notierten Gedanken an. Er sitzt ganz versunken und bemerkt erstmals die Stille dieser Sommernacht. Dann hört er sie! Sie schluchzt und weint.
„Was soll das denn?“, denkt er wütend; erst vor ihrem Bett befällt ihn das Mitleid.
„Schatz! Komm, war nicht so gemeint. Ich liebe dich! Ich krieg das schon wieder hin; kennst doch deinen Schatz. - Der findet immer eine Lösung.“
Sie lässt sich streicheln – ein gutes Zeichen – und auf die Stirn küssen.
„Ich fang jetzt was anderes an. Bring mir, wenn’s hell wird, einen Kaffee. Ich muss mich ranhalten!“
Und dann legt er los. In der untersten Schublade findet er einen Stapel Overheadfolien und knallt sie auf den Schreibtisch. Folienstifte sucht er länger; er hat sie ewig nicht mehr benutzt.
Dann lehnt er sich zurück und denkt nach. Wie soll er anfangen? Wie viel kann er noch aufbereiten? Er muss sich beschränken, stark beschränken.
Dann beginnt er vorsichtig, noch ohne Konzept. Es geht erst ein wenig mühsam und die erste Folie ist nach einer Minute Schrott. Der zweiten ergeht es nicht besser; aber dann läuft´s.
Er lässt die ganze Historie weg, fasst die heutige Situation, die Mängel und die immensen Kosten auf der ersten Folie zusammen. Die zweite enthält die Lösung – knapp formuliert – und die zu erwartenden Einsparungen. Zum Abschluss formuliert er den alten Beschlussvorschlag – ohne seinen Namen als Projektleiter einzusetzen.
Dann sieht er auf die Uhr. Nicht mal zwei Stunden Arbeit! Er legt alle Unterlagen zusammen und packt ein. Es ist drei Uhr, als er die Bettdecke über den Kopf zieht. Julia tut so, als ob sie schläft – er kennt ihre Schlafgeräusche genau.
„Aas! Liebes Aas!“, denkt er müde und ist schon eingeschlafen.

„Na? Bist du fertig geworden?“, fragt sie mit unschuldiger Stimme, schüttet ihm einen Kaffee ein und guckt so, wie sie immer guckt, wenn alles wieder gut sein soll nach einem üblen Abend.
„Hm! Ist nicht besonders geworden, aber es muss reichen. Was soll ich machen?“, sagt er undeutlich mit vollem Mund.
Er fährt mit einem fürchterlichen Gefühl in die Firma. So hat er sich noch nie gefühlt und er ist schon zehn Jahre lang dabei. Er weiß, was auf ihn wartet – und wer auf ihn wartet.
Im Vorzimmer gibt er der Vorstandssekretärin seine dicke Mappe mit allen Unterlagen; er behält nur die zwei Overheadfolien. Gerade als er an der Tür des Sitzungszimmers klopfen will, geht die Tür auf. Sein Mitarbeiter, Gruber, zuständig für die Hardware und alle Sonderaufgaben, kommt ihm entgegen. Er zwinkert mit den Augen und flüstert ihm mit wichtiger Miene zu: „Alles klar, Chef! Die Kiste läuft; sie müssen nur noch die Diskette rein legen!“
„Danke!“, murmelt Frank und geht rein.
Da sitzen sie! Zwölf Vorstandsmitglieder und dazu sein Chef, Armin Lücke. Der Vorsitzende, Dr. Oskar Ludwig, hat den Platz am Kopf des Tisches. Dreizehn Gesichter sind auf Frank ausgerichtet.
Auf dem Tisch liegt vor jedem Platz ein weißer Block und darauf, diagonal ausgerichtet, ein Kugelschreiber mit dem Firmenlogo; und ebenfalls ordentlich im Lot, direkt vor den Notizblöcken, stehen je ein Glas und eine Wasserflasche.
„Guten Morgen!“ Seine Stimme ist rau und er spürt den Eisenreifen um die Stirn, den er immer hat, wenn er nicht ausgeschlafen ist.
„Morgen, Berger. Sie können direkt anfangen. Wir haben nicht viel Zeit. Lücke, ihr Chef, meint, sie brauchten dreißig Minuten? Überziehen sie nicht!“
Er geht mit einem schnellen Schritt zum PC, der leise vor sich hin brummt. Der Beamer bläst ihm warme Luft ins Gesicht. Mit blindem Griff findet er den Ausschalter und drückt ihn rein.
„Soll der doch zum Teufel gehen!“, denkt er und legt seine beiden Folien auf den Tisch, neben den Overheadprojektor. Die Glasplatte ist staubig und fleckig; blitzschnell wischt er mit dem Ärmel drüber.
„Mit dem hat wohl schon ewig keiner mehr gearbeitet“, denkt Frank und dann blickt er in die Augen von Armin Lücke. Eiskalt ist noch warm gegen diesen Blick aus dem blassen Gesicht. Dann senken sich die Augen von Lücke und bleiben an den gut sichtbaren zwei Folien hängen.
„Herr Dr. Ludwig, meine Herren! Sie wissen, was das Thema meines Vortrages ist – und was für uns alle auf dem Spiel steht. Ich habe deshalb nur die wesentlichen Punkte für sie zusammengefasst und auf alle Schnörkel, Rückblicke und sonst was verzichtet; ich will sie nicht mit Kleinkram und Details langweilen. Sie sollen auch nicht durch eine blendende Computerpräsentation abgelenkt werden; es geht um zuviel. Sie brauchen Entscheidungskriterien – und die bekommen sie von mir. Wenn sie Fragen haben, - ich kann ihnen jederzeit weitere Auskünfte geben.“
Nur der Vorsitzende, Oskar Ludwig, nickt ernst. Frank schaltet den Projektor an, legt die erste Folie auf; dann sieht er die Vorstandsmitglieder an, einen nach dem anderen, während er präzise - jeweils in fünf Minuten pro Folie – die Hauptpunkte des Vorhabens darlegt. Keiner fragt, und keiner sieht gelangweilt weg.
Da ist zwar gespannte Aufmerksamkeit spürbar; aber aus den Gesichtern kann Frank keine Zustimmung ablesen; die Männer sehen ihn ruhig, kalt und berechnend an. Er spürt plötzlich die Müdigkeit in den Beinen und im Rücken; er kann in den unbeweglichen Gesichtern keine Akzeptanz, kein Verständnis, kein Wohlwollen ablesen.
„Es geht den Bach runter!“, denkt er und ist froh, als er endlich fertig ist.
„Das war´s, meine Herren. Ich hoffe, ich habe ihre Geduld nicht über Gebühr in Anspruch genommen.“
Eine entsetzlich lange Minute ist es totenstill im Raum; Lücke sieht ihn immer noch mit diesem kalten Blick an, der ihm schon andeuten soll, was ihn erwartet.
Die Vorständler haben keinen Schluck Wasser getrunken; sie haben ihre Notizblöcke nicht bekritzelt. Sie sehen ihn an, als erwarteten sie den letzten, den erlösenden Satz. Dann erhebt sich endlich der Vorsitzende Dr. Oskar Ludwig, sieht erst seine Vorstandskollegen an, dann blickt er Frank in die Augen.
„Berger! Das war fabelhaft!“, sagt er und lächelt erstmals.
„Meine Herren! Wir haben fast zwanzig Minuten eingespart! Und wir haben einen sehr, sehr guten Vorschlag gehört. Und - seit langer Zeit den besten, den kürzesten, den effektivsten Vortrag. Ich habe mich an meine eigenen Vorträge erinnert – ist schon lange her.“
Elf Köpfe nicken heftig zustimmend, - nur Lücke nicht - und zwölf Gesichter lächeln Frank jetzt an. Der Lücke ist noch immer blass und schaut aus, als hätte man ihm das Konto abgeräumt.
„Also, Berger! Wir haben keine Fragen – oder, meine Herren?“, fragt der Vorsitzende, wartet aber nicht auf die Reaktion der Vorständler.
„Ich schlage vor, dass wir am 1. Januar mit dem Projekt beginnen, so, wie sie es vorgeschlagen haben, Berger. Sie übernehmen die Gesamtleitung und sie persönlich berichten alle – sagen wir mal – also, alle sechs Monate hier im Vorstand über den Fortschritt. Alles klar, Berger?“
Frank nickt, ist wie betäubt, greift seine zwei Folien und verbeugt sich.
„War mir ein Vergnügen!“, murmelt er tonlos und geht rückwärts raus. Er wartet nicht mehr auf seinen Chef Lücke, nimmt die Unterlagen entgegen, die ihm die Vorstandssekretärin hinhält – und dann flitzt er raus. Er will nach Hause - sofort; sie können ihm jetzt alle den Buckel runter rutschen.
Im ersten Blumengeschäft am Weg kauft er einen herrlichen Strauß – einen bunten, mit drei Blumensorten, wie sie es liebt. Als er die Haustür aufschließt, kommt Julia entsetzt aus der Küche gerannt; die langen Haarfransen hängen ihr im Gesicht, sie hat Geschirr abgewaschen, und sieht verschwitzt aus.
„Frank! Was – was ist? Haben sie dich gefeuert? Warum bist du schon hier? Sag schon!“
Und dann küsst er sie, wuschelt ihre Haare und legt den Blumenstrauß auf den Garderobenschrank.
„Ich liebe dich! - Und der PC ist saublöd – und ich auch - manchmal! Alles ist gut gegangen, Julia! Ich freue mich auf unser nächstes Wochenende!“

Eduard Breimann
 

urte

Mitglied
köstlich

Hallo, Eduard,
Diese herrliche Geschichte muß doch mal eben wieder in die Diskussion geholt werden. Die "Argumente" der ein' oder anderen solchen "naiven" Julia und ihr unkompliziertes Verhältnis zum Computer kennt hier doch wohl jeder. Glücklicherweise sind die dann angerichteten Katastrophen ja meist nicht ganz so verheerend, - wie Du es aber geschafft hast, die schrecklichen Folgen für den so sympathischen Protagonisten satirisch-augenzwinkernd durch eine wunderbar "altmodische" Alternative wieder abzuwenden, das fand ich köstlich. Das ist souverän gemacht!
Ich möchte anderen Lesern auch die "ernsten" Geschichten von E.B. dringend ans Herz legen.
Freundliche Grüße, Urte
 

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Naive Julia, naive Story

Vielleicht habe ich schon zu vieler solcher Storys bei der Leselupe gelesen, aber schon nach wenigen Sätzen war mir, insbesondere unter Berücksichtigung des Titels, der Verlauf und der Ausgang der Geschichte klar.
Außerdem scheint mir die maßlose Naivität - nein, das ist zu wenig, die Frau ist richtig doof - Julias einziger Träger der Geschichtskonstruktion zu sein. Wäre sie nicht so blöd und kindsköpfig gewesen, hätte der ganze Rest auch nicht funktioniert. Ich finde da hätte der Autor sich schon ein bißchen mehr bemühen können, einen raffinierteren Plot zu stricken. Alles in allem fand ich die Geschichte eher enttäuschend.
 

urte

Mitglied
Moment mal!

Was ist denn los? Sind nicht fast alle Geschichten schon erzählt? Frank, findest Du nicht, man sollte eine Geschichte für sich selbst betrachten? Auch ich habe so meine Hypothesen entwickelt, wie es wohl weitergehen könnte oder sollte, aber das hat es spannend gemacht. (Und: Ich kenne - absolut nicht dumme - eigensinnige Leute, die ebenso allergisch, abweisend, "blöd" auf Computer reagieren, - gerade in einer Konfliktsituation, als Weibchenmasche usw.). Warum machst Du hier jemand fertig, obwohl Aufbau, Gestaltung, Sprachniveau soviel besser sind als bei so vielem, das hier in den Himmel gehoben wird?
Zornig, Urte
 

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Fertig machen???

Hallo Urte,

ich habe die Geschichte gelesen und meine Meinung dazu geschrieben und diese auch noch begründet. Ich weiß also wirklich nicht, an welcher Stelle ich den Autor "fertig mache"!? Er hat doch alle Möglichkeiten mit meiner Meinungsäußerung umzugehen: er kann sagen "der Zimmermann ist doof und die Geschichte ist doch klasse", er kann auch zu dem Schluß kommen, daß eine Überarbeitung vielleicht doch nicht das Schlechteste wäre; es liegt bei ihm. Und angegriffen - weder ihn noch seinen Text - habe ich auch nicht. Ich weiß also wirklich nicht, womit Du Deinen Zorn nährst...
 
E

ElsaLaska

Gast
reg dich doch nicht so auf, urte,

in franks augen ist die story naiv, das wäre sozusagen der vorwurf, den man machen könnte, wenn man keine lust auf sie hat.
in meinen augen bzw. in deinen und vielleicht auch anderen, ist dies ein charmant erzählte story über ein alltägliches missgeschick.
was ich der geschichte zu gute halte, ist, dass sie einen äusserst liebenswürdigen plauderton anschlägt, der mir schlicht gefällt und der nebenher auch noch ausserordentlich gelungen ist.

köstlich diese vorstandsbesprechung, ich kann das wirklich tief nachempfinden.
nicht jeder muss verwickelte und intensiv auslotende texte schreiben (wobei ich das talent hierfür eduard gar nicht absprechen will). und nicht jeder mag sie lesen.
beste grüsse
elsa
 

Breimann

Mitglied
nun,
zuerst war ich ein wenig verblüfft über den Ton, den Frank Zimmermann bei dieser "Glosse" anschlägt; da könnte ich inzwischen andere "erregende" Erzählungen anführen. Dann habe ich mir gesagt, dass es eine Frage der Einstellung, des Könnens des Kritikers - und der Erfahrung ist.
Ich kann, glaube ich, und das ist eigentlich der Schwerpunkt meiner Arbeiten, auch andere Geschichten erzählen (zu finden bei LL durch suchen!).
Ich kenne viele Frauen (bin Informatiker), die besser mit dem Gerät umgehen als ich. Und ich kenne beruflich und privat Frauen mit einer sehr guten Ausbildung, großer Intelligenz, die bei Computern an "Teufelszeug" glauben und nichts davon wissen wollen. Ich habe so eine liebe "Julia"! Für diese herrlich netten und sympatischen Frauen steht Julia! Und ich hab was dagegen, solche Frauen (und Männer!)einfach "doof" zu finden. Das ist unnötig und platt!
Und zur Glossenhaftigkeit: Der so tolle Computermann, Julias Ehemann, hat viel Ähnlichkeit mit mir. Ich glaube auch manchmal, vor allen Dingen bei "so wichtigen Vorträgen in der Firma", dass ich es nur mit Excel etc. kann. Ich hab diesen Typ und mich selber, dmit ein wenig karrikiert.
Zu den vielen von dir hier gelesenen Geschichten: Warum ist das schlecht? Ich glaube nicht, dass meine Erzählung abgekupfert ist!! Sie ist anders in allen Beziehungen. Warum soll ich aufgrund deiner "doof-Kritik" die Geschichte umschreiben, die zum Beispiel bei literature.de den ersten Preis im Wettbewerb "Computerabsturz" erhalten hat?
Nicht nur Frank Zimmermann kann schreiben.
Und die vielen "Fickgeschichten? Hast du die auch schon alle gelesen und entsprechend kommentiert?
Danke für die Verteidigung an urte und ElsaLaska! Kritik ist wunderbar, wenn sie konstruktiv ist!
 

urte

Mitglied
Richtig!

Hallo, guten Morgen, Eduard,
Ja, Du hast vieles gesagt, das gesagt werden mußte, und mir Arbeit abgenommen. Immer wieder bewirkt hier m.E. das nur flüchtige Lesen ("ach so ja, wieder ein Fall von ...") ein schnelles Abqualifizieren, so daß das wirklich Gute oft nicht erkannt wird. Aber ich brauche ja gar nichts mehr zu sagen. Zu dem Preis bei literature.de herzlichen Glückwunsch! Der war verdient.
Viele Grüße, auch an Deine "Julia" :), Urte
 

slyfly

Mitglied
Ende gut...

und die Vollendung dieser Phrase ist durchaus positiv gemeint. Danke, für eine unterhaltsame Geschichte, die Spaß gemacht hat zu lesen. Manchmal ist es einfach schön, die kleinen Dinge des Alltags nett verpackt durch andere beschrieben zu sehen. Vereinzelt ist mir die Geschichte zu ausführlich (nein, nicht langatmig ;-)), was mich aber nicht gehindert hat, bis zum Ende durchzuhalten.

Liebe Grüße

slyfly
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
auch

für mich ist diese geschichte eine treffende alltagsbeschreibung von der positiven sorte. gut geschrieben, flüssig erzählt und liebenswert. der frank hatte wahrscheinlich nur n schlechten tag. ganz lieb grüßt
 



 
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