„Ach was. Krank bist du. Magersüchtig bist du. Noch mal tot hungern wirst du dich. Schau dich an. Man sieht schon deine Knochen.“ Oma sah verächtlich auf das, was sie von Lolas Figur sehen konnte.
„Ich habe einfach im Moment keinen Appetit auf ein zweites Stück Kuchen, weil ich vor einer Stunde Mittag gegessen habe. Das ist alles. Warum soll ich mich denn zum Essen zwingen?“
„Weil du krank bist. Kranke müssen sich zum Essen zwingen.“
Oma wandte sich an Lolas Freund, der neben ihr saß und seit einer Stunde nicht recht wusste, ob er ärgerlich werden oder sich amüsieren sollte.
„Wissen Sie, Lola hat schon immer eine gute Figur gehabt. Aber vor zwei Jahren hat sie sich plötzlich eingebildet, sie ist zu dick. Und dann hat sie keine Süßigkeiten mehr gegessen, ganz wenig zu Mittag und abends nur noch Obst. Und da hat sie furcht-bar! abgenommen. Seither wiegt sie vielleicht fünfzig Kilo.“ Oma sieht die Enkelin an, als hätte man Lola gerade mehrere Morde nachgewiesen.
„Schau`n sie doch mal, wie blass sie ist. Tot hungern wird sie sich.“
Neben Oma, die jetzt in einem Zeitschriftenstapel herumkramt, sitzt still Lolas Mutter. Bei „keine Süßigkeiten“ hat sie zu nicken angefangen und nickt noch fort.
Unter zwei Exemplaren der „Neuen Post“ und einem Fürstenroman bringt Oma jetzt eine Bildzeitung zum Vorschein.
„Da. Da hab ich auch so was gelesen. Moment - hier stehts: ´Ich war ein Magersucht-Mädchen´. Bei der hat`s auch mit einer ganz normalen Diät angefangen. Und dann war sie auf einmal ein Skelett und man hat sie zwangsernähren müssen.“
„Oma“ wirft Lola ein, „hör damit endlich auf. Ich hab`s dir schon mal erklärt, ich wollte schlank werden, das hab ich geschafft und jetzt halte ich mein Gewicht, das für meine Größe nicht zu niedrig ist. Ich bin gesund, fühl mich wohler und bin leistungsfähiger als früher.“
Oma kneift den Mund zusammen und packt besorgten Blickes die BILD wieder weg. Lola sieht zu Jonas und verdreht die Augen. Schon plappert Oma weiter.
„Du bist krank. Du kannst es nur nicht einsehen. Das steht da drin auch. Die hat auch nicht zugeben wollen, dass sie krank ist. Dann ist ihre Oma aufmerksam geworden und hat sie ins Krankenhaus gefahren. Die Ärzte haben sie dann gleich zwangs-ernährt und als sie wieder gesund war, hat sie ihrer Oma auf Knien gedankt. Wenn dich ein Arzt sehen könnte, dich würde man auch ins Krankenhaus tun. Und früher hast du so gut ausgesehen. Wie wir alle. Schau doch da.“
Sie weist auf eine Reihe Fotos, die sie selbst, ihre drei Töchter, die in ihrer Fülle an steinzeitliche Muttergottheiten erinnern, sowie deren Kinder zeigen. Die Töchter und die Enkeltöchter zieren übergroße Miniröcke, die in aller Enge ein gutes Stück über dem straußeneigroßen Knie enden. Einige tragen bauchfreie Oberteile. Zwischen Top und Rockbund quellen Wülste, dick wie ausgewachsene Pythons.
Opa nickt zu Omas Aussage. Er hat Tränen in den Augen vor Stolz. Es sind alles schöne Mädchen. Und so begabt auch noch. Sie haben alle einen Führerschein, ihren Schulabschluss ohne sitzenzubleiben! in neun Jahren gemacht, und eine Lehre abgeschlossen.
Oma weist auf Lolas Bild und macht dabei eine Handbewegung wie ein Bediensteter, der auf den Eingang weisend hohen Besuch hereinbittet.
„Dieser Diätwähn heute. Und du hast doch früher so schöne volle Backen gehabt. So gesund hast du ausgeseh`n.“
Jonas lächelt. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin doch Assistenzarzt und kann Ihnen versichern, dass mit ihrer Enkelin alles in bester Ordnung ist. Und nehmen Sie nicht ernst, was Sie in schlechten Zeitungen lesen. Die werden vielem nicht gerecht, weil sie nur auf Schlagzeilen aus sind und deshalb die Dinge sehr vereinfacht darstellen.“
Oma kneift die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen.
„Aber da schreiben sie doch, dass es immer mit einer normalen Diät anfängt. Und dann hungern sie, bis sie tot sind. Ich hab`s doch gelesen.“ Sie lächelt raffiniert. „Halten sie mich nicht für dumm, ich bin nicht dumm. Ich hab` zwar nicht studiert, aber ich kann lesen. Wenn Sie mir nicht glauben, lesen Sie`s doch selber.“
Omas Schafslöckchen beben vor Aufregung. Erneut fuhrwerkt sie auf der Suche nach der BILD in den Zeitungen herum.
Lola will zum Reden ansetzen. Jonas berührt unter dem Tisch ihren Arm und schüttelt den Kopf. Er sieht sie an. Lola und Jonas stehen gleichzeitig auf.
Wie erschlagene Fliegen auf Fensterglas haften sechs Augen an ihnen.
Er lächelt strahlend: „Freut mich sehr, Lolas Familie kennengelernt zu haben. Langsam wird es aber leider Zeit für uns.“
Der anwesende Teil der Familie trabt brav hinter Lola und Jonas her zur Tür. Lolas Gesicht sieht schon viel entspannter aus. Na also, denkt Jonas. Hinter ihnen hat das Verabschiedungskomitee die Tür erreicht und stoppt, als hätte man an seinen Zügeln gezogen.
Oma sieht streng aus. Das undankbare Kind. Alles hat es bekommen und jetzt macht es immer nur so kurze Besuche.
Opa lächelt in sich hinein. Wie dumm die jungen Leute sind. Nie nehmen sie einen Rat von den Alten an, die es naturgemäß besser wissen müssen. Nicht mehr lächelnd und sich mit den Tatsachen abfindend sinnt er darüber nach, ob ihm sein Hochzeitsanzug wohl noch passt. Den kann er dann zur Beerdigung der Enkelin anziehen.
Lolas Mutter schaut gemein drein. Böse Blicke hat sie auf den Apfelhintern in der schmalen Hose abgeschossen, der dicht vor ihr gegangen ist. Und sie hat Lola, ihr die Faust ins Steissbein rammend, „Dürre Geiß, blöde“ ins Ohr geflüstert.
Jetzt sagt Oma - Jonas hat schon die Tür geöffnet - „aber diesmal wartest du kein Dreivierteljahr, bis du dich wieder blicken lässt, Kind. Wir sind schließlich eine Familie, gell? Und Blut ist immer noch dicker als Wasser!“
„Ich habe einfach im Moment keinen Appetit auf ein zweites Stück Kuchen, weil ich vor einer Stunde Mittag gegessen habe. Das ist alles. Warum soll ich mich denn zum Essen zwingen?“
„Weil du krank bist. Kranke müssen sich zum Essen zwingen.“
Oma wandte sich an Lolas Freund, der neben ihr saß und seit einer Stunde nicht recht wusste, ob er ärgerlich werden oder sich amüsieren sollte.
„Wissen Sie, Lola hat schon immer eine gute Figur gehabt. Aber vor zwei Jahren hat sie sich plötzlich eingebildet, sie ist zu dick. Und dann hat sie keine Süßigkeiten mehr gegessen, ganz wenig zu Mittag und abends nur noch Obst. Und da hat sie furcht-bar! abgenommen. Seither wiegt sie vielleicht fünfzig Kilo.“ Oma sieht die Enkelin an, als hätte man Lola gerade mehrere Morde nachgewiesen.
„Schau`n sie doch mal, wie blass sie ist. Tot hungern wird sie sich.“
Neben Oma, die jetzt in einem Zeitschriftenstapel herumkramt, sitzt still Lolas Mutter. Bei „keine Süßigkeiten“ hat sie zu nicken angefangen und nickt noch fort.
Unter zwei Exemplaren der „Neuen Post“ und einem Fürstenroman bringt Oma jetzt eine Bildzeitung zum Vorschein.
„Da. Da hab ich auch so was gelesen. Moment - hier stehts: ´Ich war ein Magersucht-Mädchen´. Bei der hat`s auch mit einer ganz normalen Diät angefangen. Und dann war sie auf einmal ein Skelett und man hat sie zwangsernähren müssen.“
„Oma“ wirft Lola ein, „hör damit endlich auf. Ich hab`s dir schon mal erklärt, ich wollte schlank werden, das hab ich geschafft und jetzt halte ich mein Gewicht, das für meine Größe nicht zu niedrig ist. Ich bin gesund, fühl mich wohler und bin leistungsfähiger als früher.“
Oma kneift den Mund zusammen und packt besorgten Blickes die BILD wieder weg. Lola sieht zu Jonas und verdreht die Augen. Schon plappert Oma weiter.
„Du bist krank. Du kannst es nur nicht einsehen. Das steht da drin auch. Die hat auch nicht zugeben wollen, dass sie krank ist. Dann ist ihre Oma aufmerksam geworden und hat sie ins Krankenhaus gefahren. Die Ärzte haben sie dann gleich zwangs-ernährt und als sie wieder gesund war, hat sie ihrer Oma auf Knien gedankt. Wenn dich ein Arzt sehen könnte, dich würde man auch ins Krankenhaus tun. Und früher hast du so gut ausgesehen. Wie wir alle. Schau doch da.“
Sie weist auf eine Reihe Fotos, die sie selbst, ihre drei Töchter, die in ihrer Fülle an steinzeitliche Muttergottheiten erinnern, sowie deren Kinder zeigen. Die Töchter und die Enkeltöchter zieren übergroße Miniröcke, die in aller Enge ein gutes Stück über dem straußeneigroßen Knie enden. Einige tragen bauchfreie Oberteile. Zwischen Top und Rockbund quellen Wülste, dick wie ausgewachsene Pythons.
Opa nickt zu Omas Aussage. Er hat Tränen in den Augen vor Stolz. Es sind alles schöne Mädchen. Und so begabt auch noch. Sie haben alle einen Führerschein, ihren Schulabschluss ohne sitzenzubleiben! in neun Jahren gemacht, und eine Lehre abgeschlossen.
Oma weist auf Lolas Bild und macht dabei eine Handbewegung wie ein Bediensteter, der auf den Eingang weisend hohen Besuch hereinbittet.
„Dieser Diätwähn heute. Und du hast doch früher so schöne volle Backen gehabt. So gesund hast du ausgeseh`n.“
Jonas lächelt. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin doch Assistenzarzt und kann Ihnen versichern, dass mit ihrer Enkelin alles in bester Ordnung ist. Und nehmen Sie nicht ernst, was Sie in schlechten Zeitungen lesen. Die werden vielem nicht gerecht, weil sie nur auf Schlagzeilen aus sind und deshalb die Dinge sehr vereinfacht darstellen.“
Oma kneift die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen.
„Aber da schreiben sie doch, dass es immer mit einer normalen Diät anfängt. Und dann hungern sie, bis sie tot sind. Ich hab`s doch gelesen.“ Sie lächelt raffiniert. „Halten sie mich nicht für dumm, ich bin nicht dumm. Ich hab` zwar nicht studiert, aber ich kann lesen. Wenn Sie mir nicht glauben, lesen Sie`s doch selber.“
Omas Schafslöckchen beben vor Aufregung. Erneut fuhrwerkt sie auf der Suche nach der BILD in den Zeitungen herum.
Lola will zum Reden ansetzen. Jonas berührt unter dem Tisch ihren Arm und schüttelt den Kopf. Er sieht sie an. Lola und Jonas stehen gleichzeitig auf.
Wie erschlagene Fliegen auf Fensterglas haften sechs Augen an ihnen.
Er lächelt strahlend: „Freut mich sehr, Lolas Familie kennengelernt zu haben. Langsam wird es aber leider Zeit für uns.“
Der anwesende Teil der Familie trabt brav hinter Lola und Jonas her zur Tür. Lolas Gesicht sieht schon viel entspannter aus. Na also, denkt Jonas. Hinter ihnen hat das Verabschiedungskomitee die Tür erreicht und stoppt, als hätte man an seinen Zügeln gezogen.
Oma sieht streng aus. Das undankbare Kind. Alles hat es bekommen und jetzt macht es immer nur so kurze Besuche.
Opa lächelt in sich hinein. Wie dumm die jungen Leute sind. Nie nehmen sie einen Rat von den Alten an, die es naturgemäß besser wissen müssen. Nicht mehr lächelnd und sich mit den Tatsachen abfindend sinnt er darüber nach, ob ihm sein Hochzeitsanzug wohl noch passt. Den kann er dann zur Beerdigung der Enkelin anziehen.
Lolas Mutter schaut gemein drein. Böse Blicke hat sie auf den Apfelhintern in der schmalen Hose abgeschossen, der dicht vor ihr gegangen ist. Und sie hat Lola, ihr die Faust ins Steissbein rammend, „Dürre Geiß, blöde“ ins Ohr geflüstert.
Jetzt sagt Oma - Jonas hat schon die Tür geöffnet - „aber diesmal wartest du kein Dreivierteljahr, bis du dich wieder blicken lässt, Kind. Wir sind schließlich eine Familie, gell? Und Blut ist immer noch dicker als Wasser!“