Bluterbe

Harle Kin

Mitglied
Bluterbe


Er saß vor der Küchenuhr.
Die Zeiger krochen. Jede Sekunde ein Nadelstich.
Sein rechtes Auge zuckte. Immer wieder.
Die Lampe über dem Tisch warf ein fahles Licht auf die zerknitterte Tischdecke.
Der Kaffee in seiner Tasse war längst kalt, hatte sich am Rand dunkelbraun abgesetzt, wie die zähe Masse eines Albtraums.

Er starrte auf die Uhr.
Das unaufhörliche Ticken des Sekundenzeigers.

Etwas war unterwegs.

Früher war dieses Haus warm gewesen.
Ein Ort voller Lachen, Kinderstimmen, Geborgenheit.
Aber das war vorbei.
Jetzt kroch etwas durch die Wände.
Etwas Dunkles. Etwas Kaltes.
Ein Unsagbarer Schrecken.

Ein Abschied – nicht von Menschen, sondern von Würde.

Sie waren unterwegs.
Unaufhaltsam.
Mit blutleeren Gesichtern, geifernden Worten, und diesem formlosen Hunger nach Kontrolle.

Sie würden ihn nicht fragen. Sie würden ihn durchleuchten.
Entkleiden. Zerlegen.
Mit Lächeln. Und Fragen. Und Blicken, die nach Verwesung rochen.

Er wusste, dieser Tag würde kommen.
Er hatte es immer gewusst.
Man kann die Dunkelheit nur so lange aus dem Kalender streichen, bis sie selbst vor der Tür steht.

Er versuchte, ruhig zu bleiben.
Zwang sich, die Hände flach auf den Tisch zu legen.
Aber die Gedanken liefen weiter.
Und die Gedanken waren keine Gedanken mehr, sondern Bilder.
Zähne.
Fratzen.
Fragen.
Urteile.
Lautlos gestellt – und doch nicht zu überhören.

Sie kannten keine Gnade.
Und kein Interesse an Wahrheit.
Es ging nicht um Vergebung. Nicht um Recht.
Nur um das, was sie in ihm sehen wollten.

Und sie würden alles sehen.
Auch das, was nicht da war.

Gerade das.

Er dachte an seine Frau. An die Kinder.
An diesen Moment, kurz vor dem Einschlafen, wenn alles ruhig war und nichts zählte außer dem Atem derer, die man liebt.

Aber das bedeutete jetzt nichts mehr.
Diese Dinge waren schön – aber sie waren nicht relevant.
Nicht mehr. Sie waren verloren, ohne eine Chance auf Wiederkehr.

Jetzt war nur noch dies hier.
Dieser Moment.
Die Leere.

Er hörte, wie sie sich näherte.
Leise Schritte auf den Fliesen. Kein Zögern. Kein Geräusch, das ihn beruhigt hätte.
Sie blieb neben ihm stehen.
Er spürte ihre Wärme. Aber sie tröstete ihn nicht.
Langsam drehte er den Kopf, sah sie an.
Ihre Augen waren gerötet.
Keine Träne lief – aber ihre Augen waren voll, schwer und bewegungslos.
Als hätten sie beschlossen, still zu warten, bis alles vorbei war.
In ihrem Blick lag etwas, das er sofort verstand:
eine lautlose Entschuldigung.
Kein Schuldbekenntnis. Kein Flehen. Nur das Wissen:
Ja. Ich habe es zugelassen.

Nicht aus Bosheit.

Sondern aus Schwäche.
Und vielleicht auch aus dem Glauben, es wäre richtig.

Aber das war es nicht, wie konnte es richtig sein?

Er war ihr nicht böse.
Wie sollte er auch?
Es gab nichts zu vergeben, weil es nichts mehr zu retten gab.
Es war einfach… das, was passieren musste.

Er blickte ihr in die Augen. Lange.
Sagte nichts.
Aber sein Blick war deutlich:
Ich vergebe dir.

Und sie verstand.

Er sah es an dem kaum merklichen Zittern ihrer Lippe.
An der Art, wie sie leicht nickte – nicht nach außen, in ihrem Inneren.
Eine Träne rann langsam ihre Wange hinab.
Und auch sie wusste:

Das hier war der Abschied.
Von allem.
Von dem Leben davor.
Von Lachen, Alltag, Unschuld.
Die Normalität war gestorben, lange bevor jemand es aussprach. Dies hier war nur noch das langsame Verblassen des Lichts.

Der Himmel war eine einzige graue Fläche, ohne Tiefe, ohne Versprechen. Nichts bewegte sich da draußen vor dem Fenster.
Kein Vogel. Kein Wind. Nur das tropfende, schleppende Verlöschen von allem.
Die Bäume standen still, schwarz, leblos.
Selbst die Farben im Garten – einst lebendig, grün, rot, gold – wirkten, als hätte jemand den Kontrast herunter gedreht.

Die Welt war noch da.
Aber sie hatte aufgehört, sich für ihn zu drehen.

Dann war es so weit.

Das Klingeln.

Ein einfacher Ton.
Aber er traf ihn wie ein Nadelstich in ein überdehntes Herz.
Ein Geräusch, so belanglos wie ein Einkaufszettel –
und doch der Trigger, der den Rest seiner Lebensfreude aus ihm heraus sog,
wie Luft aus einer kollabierenden Lunge.

Er stand nicht auf.
Er musste nicht.

Die Tür wurde längst geöffnet.

Sie waren viele.

„Ahhh, da seid ihr ja , endlich!“
„Es ist so wunderbar, euch wiederzusehen – wirklich!“
„Ich hab mich so auf das Familienessen gefreut, das glaubst du gar nicht!“
„Oh mein Gott, guck dich an – ganz zerzaust! Hast du überhaupt geschlafen?“
„Sag mal, habt ihr eigentlich neue Vorhänge? Die sehen ja fast aus wie die von meiner Cousine – kennst du noch die mit dem Chihuahua?“
„Und wie geht's euch? Also wirklich, erzähl mal ALLES!“
„Lass dich mal von deiner Mutter in den Arm nehmen!“
„Ich hab übrigens dieses Jahr beschlossen, weniger Fleisch zu essen – na gut, außer heute, haha!“
„Mensch, ist das gemütlich hier…!“

Die Worte prasselten auf ihn ein wie Hagel auf altes Glas.
Einer nach dem anderen, alle durcheinander.
Sie kamen näher, schoben sich aneinander vorbei, Hände auf seiner Schulter, an seinem Rücken, irgendwo ein Kuss auf die Stirn, irgendwo ein Lachen, das nicht aufhören wollte.

Er stand da.
Sein Blick leer.
Die Stimme in seinem Kopf war still geworden.
Nur der Körper funktionierte noch, reflexartig, trainiert durch Jahrzehnte höflicher Gefälligkeit.

Er lächelte.
Nickte.
Sein Auge zuckte jetzt stärker.
Vielleicht sagte er sogar etwas.
Er wusste es nicht.

Irgendwo in ihm ging eine Tür zu.

Langsam.


Und ohne Geräusch.


P.S. Alle Texte von mir sind mit einem Augenzwinkern zu betrachten und keine Todernste Sache, so jedenfalls mein Versuch.
 



 
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