Blutrote Tropfen am Horizont

In dem Augenblick, in dem er die in der Hitze des frühen Nachmittags flirrende, sich in verwegenen Spitzkehren beängstigend dicht am Steilufer der Bucht entlang windende Straße verließ und auf den unebenen, steinigen Pfad einbog, der zu ihrem ein wenig unterhalb des Bergrückens liegenden Anwesen führte, überfiel ihn ein merkwürdig unbestimmtes Unbehagen. Irgendetwas war offenbar nicht so, wie es sein sollte. Irritiert hielt er inne und spähte, des grellen Lichtes wegen aus schmalen Augenschlitzen blinzelnd, zu den größtenteils hinter einer Gruppe hochgewachsener Zypressen verborgenen Gebäuden hinauf, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken; alles schien noch genau so zu sein, wie es in all den Tagen zuvor gewesen war. Doch das Gefühl der Erleichterung, das sich nun eigentlich hätte einstellen müssen, blieb aus; im Gegenteil, der Argwohn, es habe sich etwas Unerfreuliches ereignet, nahm wider alle Vernunft noch zu. Lächerlich, entschied er und schalt sich einen überängstlichen, kindischen Narren, der es wohl niemals fertig brächte, sich eines unerwartet leichten Gelingens zu erfreuen, ohne sogleich eine böswillige Finte des Schicksals zu wittern. Anscheinend hatte sie wirklich recht mit ihrem ihm gegenüber erhobenen Vorwurf, das Maß seines Misstrauens ginge weit über das hinaus, was gemeinhin als eben noch gesund angesehen werde.
Um der Gefahr vorzubeugen, sich einmal mehr in fruchtlosen Grübeleien zu verlieren, setzte er seinen Aufstieg fort, bestrebt, ab sofort etwas zügiger voranzukommen als zuvor, und gedanklich damit beschäftigt sich auszumalen, wie sie die erfreuliche Nachricht aufnehmen würde, dass die Aufgaben, mit denen sie ihn am gestrigen Nachmittag betraut hatte, bereits bewältigt waren, und daher ihrer Reise in das Land, in dem sie einen gemeinsamen Neuanfang wagen wollten, kein Hindernis mehr im Wege stand.
Nachdem er jedoch den Hang weit genug hinaufgestiegen war, dass der zunehmend lichter werdende Baumbewuchs die Sicht auf das Wohngebäude freigab, konnte er erkennen, dass sämtliche Fensterläden, auch die der üblicherweise von ihr benutzten Räume, trotz der selbst für ihre Verhältnisse recht fortgeschrittenen Stunde noch geschlossen waren. Erneut geriet sein Schritt ins Stocken und ein gallebitterer Geschmack stieg ihm die Kehle hinauf. Und schon kündigten sich auch die seit geraumer Zeit überwunden geglaubten Magenkrämpfe durch die bekannte schmerzhafte Verspannung im Oberbauch wieder an. Er blieb stehen und krümmte sich unwillkürlich vornüber, die ineinander verschränkten Hände fest auf den Leib gepresst. Als der Krampf nach einigen Minuten nachließ, ging er in die Hocke nieder. Er musste nachdenken. Doch so sehr er sich auch anstrengte, nicht ein einziger klarer Gedanke wollte Gestalt annehmen. Die Ratlosigkeit schien ihm unüberwindbar. Ohne darauf zu achten, ob er womöglich auf dort herumliegende Steine schlüge, ließ er sich auf den Rücken fallen und starrte, ohne wirklich etwas zu erkennen, in den blassblauen Himmel hinauf.
Zielgerichteten Denkens zwar unfähig, begann sich aus dem unüberschaubaren Gebrodel seiner Gefühle allmählich das alle anderen Bedenken überwältigende Bedürfnis herauszuschälen, sich so schnell und unauffällig als irgend möglich aus dem Staub zu machen. Was sprach dagegen, einfach umzukehren, in den Ort hinunter zu laufen, die Rechnung für das Zimmer zu bezahlen und die Koffer zu packen und den nächstbesten in den Norden fahrenden Zug zu besteigen? Was sollte ihm daran gelegen sein, sich dem auszusetzen, was ihn dort oben voraussichtlich erwartete? Gab es irgendeinen vernünftigen Grund dafür, sich etwas, das ihn schon einmal fast umgebracht hatte, ein weiteres Mal anzutun? Die Antwort konnte nicht anders als nein heißen!
Kaum aber war der Entschluss zur Umkehr gefasst, besann er sich auch schon eines anderen. Auch damals hatte er aus keinem anderen Grund, als aus der Furcht vor der eigenen Hilflosigkeit versagt. Mit grässlichen Folgen. Und jetzt noch einmal weglaufen? Den selben Fehler ein zweites Mal begehen? Und wieder sah er seine Tochter vor sich liegen, mit gelblich verfärbter Haut und bis auf die Knochen abgemagert, zusammengekrümmt auf einem von Unrat starrenden Bettgestell in der verkommenen Absteige, in der sie ihre letzten Wochen zugebracht hatte, womöglich in steter Hoffnung, ihr Vater würde sie schon noch rechtzeitig dort herausholen? Nein, heute durfte er nicht schon wieder versagen, heute hatte er zu handeln, vielleicht ließe sich dieses Mal ja doch noch etwas ausrichten. Nach einem letzten kurzen Zögern bezwang er seinen Widerwillen, stemmte sich steifbeinig in den Stand hoch, zog das Sakko aus, warf es sich über die Schulter und lockerte den Krawattenknoten, ehe er sich abermals in Bewegung setzte; doch der Aufstieg kam ihm auf einmal weit beschwerlicher als sonst vor, und sein Gang war zaghaft und unsicher. Mehrfach geriet er ins Straucheln, bisweilen entging er nur knapp einem Sturz.
Auf dem teils von hüfthohem Unkraut überwachsenen Vorhof des vom Verfall gezeichneten Gehöfts angekommen, gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause, währenddessen die hoch vor ihm aufragende Wand des mächtigen Wohnhauses hinauf spähend. Obwohl er außer den verschlossenen Fensterläden keinerlei Hinweise auf Ungewöhnliches erblickte, war er dessen bereits gewiss, dass er, klopfte er an, dies vergeblich tun würde. Trotzdem schlug er mehrmals in dem zwischen ihnen vereinbarten Rhythmus gegen das wie immer mehrfach verriegelte zweiflügelige Tor, erfüllt von der brüchigen Hoffnung, sich einmal mehr geirrt zu haben, und jeden Augenblick ihre Schritte auf dem steinernen Boden der Eingangshalle herannahen zu hören. Als sich aber nach zwei oder drei Minuten noch immer nichts geregt hatte, schlug seine Angst um in hilflose Empörung. Die Arme hoch über den Kopf geworfen, begann er wie von Sinnen mit beiden Fäusten gegen das schrundige, massive Holz zu hämmern; währenddessen mit zuerst sehr lauter, doch schon bald immer leiser werdender Stimme ihren Namen rufend. Seine Kraft war jedoch schnell verausgabt; schwer atmend hielt er ein, drehte sich herum, ließ sich mit den Schultern gegen die unnachgiebige Tür fallen und starrte mit angestrengten, müden Augen auf die sich in weiter Ferne abzeichnenden schneebedeckten Gipfel der Alpen.
Einige Zeit blieb er so stehen, bewegungslos bis auf ein kaum spürbares, von den Knien her aufsteigendes Beben, viel zu benommen, um seiner dumpf durcheinander wirbelnden Gedanken und Empfindungen Herr zu werden.
Wenngleich er sich auch dagegen sperrte, einen Sinn in dem zu sehen, was ihm soeben widerfuhr, war er fest entschlossen, zu tun, was zu tun ihm auferlegt war. Er richtete sich auf, nahm die Brille herunter, wischte mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht und machte sich mit taumelnden, kraftlosen Schritten auf den Weg zu dem von verwilderten Küchenkräutern und allerhand stacheligem Gesträuch zugewachsenen hinteren Kellereingang, dessen Schlüssel, das hatte sie ihm vor längerer Zeit einmal gezeigt, unter einer der lockeren Gehwegplatten verborgen war. Nach nur kurzer Suche fand er ihn auch, allerdings war er derartig verrostet, dass es eine Weile dauerte, bis er das Schloss auf bekam. Während er sich, infolge des unebenen Steinbodens mehrmals kurz davor hinzuschlagen, langsam durch das stille Dunkel des verwinkelten Gewölbes bis dort hin vortastete, wo er die Treppe, die in die oberen Etagen führte, vermutete, glaubte er einige male Schritte über sich zu hören. Doch sobald er anhielt, um zu lauschen, konnte er kein anderes Geräusch vernehmen, als das seines eigenen Atems und seines aufgeregt pulsierenden Blutes. Endlich oben angekommen, fiel es ihm aufgrund seiner häufigen Besuche nicht schwer, sich zurechtzufinden. Bevor er sich traute, die Tür des Zimmers zu öffnen, in dem sie sich um diese Tageszeit zumeist aufzuhalten pflegte, hielt er noch einmal kurz inne, um sich auf das vorzubereiten, das anzutreffen er befürchtete.
Es war ziemlich genau so, wie er es in den Stunden, in denen es ihm weniger gut als sonst gelungen war, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, vorausgesehen und trotzdem niemals für möglich gehalten hatte. Sie lag nach hinten weggesackt auf der ausladenden Matratze, die neben der mit glänzendem Messing verzierten alten Musiktruhe, die er ihr unlängst vom weit außerhalb des Ortes gelegenen Bahnhof hatte heraufschleppen helfen, das einzige Einrichtungsstück in dem riesigen, außerordentlich hohen und vollkommen weiß gestrichenen Raum war. Ihr Körper wirkte sonderbar in sich verdreht, ihre Gesichtszüge waren schmerzverzerrt und die Haut von fleckiger, blassgrüner Farbe. Ihre tief in ihre Höhlen gesunkenen Augen standen weit offen. Die blutleeren Hände waren zu kleinen, hilflos anmutenden Fäusten geballt.

Die in unzähligen durchwachten Nächten entwickelten Pläne, die nun endlich zu verwirklichen sie in den letzten Tagen mit beinahe schon kindlichem Eifer beschlossen hatten, waren also hinfällig. Er war wieder allein. Einmal mehr. Er erschauderte, denn ihm wurde klar, dass er auf sich allein gestellt niemals die Kraft aufbrächte, derer es bedurfte, an der verworrenen Lage, in der er sich befand, ernsthaft etwas zu ändern. Ohne sie, ohne ihre Phantasie und Begeisterung spann er den Gedanken dann weiter, gäbe es allerdings auch keinerlei Veranlassung, es zu versuchen.
Während er vor ihr kniete und ihr mit zitternder, mehrmals vor der Berührung ihres Gesichts zurückschreckender Hand die Augenlider schloss, stellte er fest, dass sie bereits erkaltet war. Obwohl es ihn grauste, sie zu berühren, ließ er sich dicht neben ihr nieder, zog sie in seine Arme herüber und küsste sie auf die leblose, fahle Stirn. Die Spritze stak noch in ihrer Armbeuge, er zog sie behutsam heraus und legte sie beiseite. Anschließend mühte er sich eine geraume Zeit lang damit ab, ihr die verrutschte Kleidung zu ordnen, und bettete sie mit großer Sorgfalt so hin, dass es den Anschein erweckte, sie schliefe bloß.
Als er gewahr wurde, dass der dicht neben der Matratze auf dem Boden stehende zierliche Glasbehälter, der ihr dazu gedient hatte, das in Zitronensäure gelöste Pulver aufzukochen, noch zu mehr als der Hälfte gefüllt war, wusste er mit einem Mal, was er zu tun hatte. Die in einem kurzen Anflug von Sarkasmus angestellte Überlegung, dass er für eine solche Art zu Tode zu kommen, eigentlich viel zu alt und auch viel zu bürgerlich wäre, beiseite schiebend, zog er mit einem Geschick, als hätte er dies schon oft getan, die Lösung in die Spritze hinein, band sich, wie er es gelegentlich bei ihr hatte beobachten müssen, mit dem neben ihr vorgefundenen Schal den Arm ab, stach die Nadel in die angeschwollene Vene, drückte vorsichtig den Kolben herunter und nahm ganz deutlich wahr, wie das Gift in seinen Körper strömte. Als der Kolben den Boden der Spritze berührte, zog er die Nadel heraus, lehnte sich in die Kissen zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und heftete den Blick auf den Punkt, an dem die gegenüberliegende Ecke des Zimmers und die beiden Kanten der Decke aufeinander trafen. Er konzentrierte sich darauf, die Atmung zu verlangsamen, befahl sich, alles Denken zu unterlassen, und verbot sich, irgendetwas zu fühlen. Er wollte frei sein, frei sein durch vollkommene Leere, und er freute sich darauf, dass sein Leben sehr bald nicht mehr länger daraus bestünde, darauf zu warten, dass das Warten ein Ende hätte.
Er konnte nicht einschätzen, wie lange er schon so dagelegen hatte, als sich mit einem Mal langsam, aber stetig und dabei vollkommen geräuschlos die Zimmerdecke über die Oberkante der Wände zu heben begann. Ein schmaler Spalt entstand, durch den er ein Stück des nächtlichen Himmels sehen konnte. Nun geschah geraume Zeit nichts anderes, als dass die Decke sich immer weiter anhob, der Spalt immer größer wurde und schließlich einen völlig ungehinderten Blick in das tiefdunkle Blau des Weltalls zuließ, in dem sich zu seinem Erstaunen weder die Sichel des Mondes, die, wie er sich erinnerte, an den Abenden zuvor beinahe überdeutlich zu sehen gewesen war, noch ein einziger Stern zeigte.

Ohne dass er begriff, von woher sie kamen, begannen plötzlich hier und dort große, blutrote Tropfen von oben herab zu schweben; erst vereinzelt nur, dann aber wurden sie rasend schnell immer mehr. Bald waren es Millionen und Abermillionen, die wie schwerelos herabglitten, sich in Gruppen zusammenfanden, Reihen bildeten, sich zu einem endlos scheinendem Zug ordneten und in Bewegung setzten.
In weiter Ferne zogen sie einem unbekannten Ziel entgegen, waren jedoch zugleich so nah, dass er jeden Einzelnen dicht an sich vorbei schreiten spürte. Sie hatten, das sah er nun ganz genau, Gesichter. Alte, verwitterte, bösartige Gesichter. Und sie sangen. Er wusste, dass sie sangen, sogar sehr laut sangen, obwohl weiterhin vollkommene Stille herrschte. Ihre schorfigen, schwarzen Zungen bewegten sich lautlos und doch im Gleichklang in den weit aufgerissenen, leuchtend roten Mündern. Diejenigen, die ihm jeweils am nächsten waren, verzogen ihre furchteinflößenden Fratzen zu einem missbilligenden Grinsen. Viele Millionen zogen so ganz dicht an ihm vorüber. Doch keiner berührte ihn; denn sie waren ja in unendlicher Ferne.
Sie marschierten und sangen. Er wunderte sich, wie selbstverständlich ihm das erschien und mutmaßte, dass es doch ganz natürlich sei, dass sie sangen und marschierten. Denn was sollten sie schließlich auch sonst tun?
Sie sangen und marschierten, und hielten sich nicht an die Gesetzmäßigkeiten des Raumes, in dem sie sich befanden. Sie sangen und marschierten, und vergaßen dabei, der Wölbung des Alls zu folgen. Sie verschwanden in einer geraden, sich in der Unendlichkeit verlierenden roten Linie aus seinem Blickfeld. Einige Nachzügler begannen ihre Umrisse bereits zu verlieren, noch bevor sie in der Ferne verschwanden. Sie lösten sich auf und färbten den Himmel blutrot; und je roter der Himmel sich färbte, desto leiser wurde der lautlose Gesang.
Als die Welt nur noch aus sattem, waberndem Rot zu bestehen schien, wurde alles ruhiger, durchsichtiger, gelassener. Alles wurde zu nichts, und es fiel ihm erstaunlich leicht, die beschwerliche, ohne erkennbaren Nutzen an seinen dahinschwindenden Kräften zehrende Atmung einzustellen.
 



 
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