Blutzucker 498

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Hagen

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Blutzucker 498

Eine warme Nacht im Hochsommer, ich wusste noch nicht, dass ich Diabetiker bin. Klar, es war Sommer und die große Colaflasche klemmte immer zwischen Sitz und Mittelkonsole meines Taxis. Zwei bis Drei davon brauchte ich pro Schicht. Zwischendurch auch mal ein Eis und den einen oder anderen Schokoriegel, reine Nervennahrung, ab und zu gibt es auch anstrengende Fahrgäste.

Nicht so die beiden Paare, die in jener Nacht bei mir an Bord gingen. Sie hatten ein Rockkonzert besucht und sie erzählten davon. Aber sie hatten doch noch nicht genug Musik gehabt, und sie wollten die 80 km, die vor uns lagen, genießen. Kann ich verstehen, ich mag es auch gerne, eine laue Sommernacht, würzige Luft, guten alten Rock ‘n Roll.

Jaaa!

Die Scheiben runter und Arm raus.

Cruisen!

Landstraße, Alleen, Mondlicht.

Schön, aber ich konnte die Ortsschilder nicht mehr lesen, war alles unscharf wie ein ‘Künstlerfilm’ der sechziger Jahre. Ein leicht dösiges Gefühl im Kopf stellte sich ein.

Na gut, ich kannte die Strecke und war irgendwie froh, als meine Fahrgäste wohlbehalten und zufrieden mit der schönen Fahrt von Bord gingen.

Zurück nahm ich die Autobahn, raus am nächsten Parkplatz und erstmal in die Büsche. Das viele Trinken gab den Nieren gut zu tun. War zu der Zeit ein Problem für mich, jede Stunde ein einsames, dunkles Plätzchen zu finden.

Und dann kramte ich meine Reservebrille hervor, vor knapp einem Jahr hatte ich mir eine neue Brille geleistet und führte die alte seit dem für den Notfall mit mir.

Keine Änderung.

Die Instrumente vor mir waren etwas verschwommen, der Stern auf der Kühlerhaube war scharf und alles weitere vor mir wieder undeutlich. Half alles nichts, bei der nächsten, sich bietenden Gelegenheit wollte ich mir einen Termin beim Augenarzt holen. Konnte doch nicht sein, dass meine Augen so schnell die Fähigkeit zu akkumulieren verloren hatten.

Noch einen Schluck Cola und wieder auf die Autobahn.

Ich passierte die Stelle zwischen Hämelerwald und Lehrte, an der es am Anfang meiner Taxifahrerkarriere zu einer immensen Massenkarambolage gekommen war.

Lag einige Jahre zurück, dass eine sanfte, junge Frau zu mir ins Taxi gestiegen war; - eigentlich zu sanft für diese Welt. Ich hatte am Taxenstand weiter hinten gestanden, mir die Rücklehne des Sitzes etwas zurück gestellt und eine CD eingelegt. ‘Himmlische Harfe’, Wagenseil, Buxtehude, einfach während des Wartens ein wenig entspannen und genießen.

Sie war wegen der schönen Musik zu mir gekommen, obwohl ich noch nicht dran war, und nannte mir eine Adresse in Hämelerwald. Im Gegensatz zur Mehrheit der Taxifahrgäste genoss sie die Musik und bat mich, als wir angekommen waren, noch ein Stück in Ruhe anhören zu dürfen. Na gut, ich hatte keinen Folgeauftrag. Während sie intensiv zuhörte, schrieb ich ihr den Titel der CD auf. Dauerte wenige Minuten bis das Stück endete.

Sie stieg aus, winkte noch, und ich fuhr zurück. Kaum auf der Autobahn, kam mir einer mit einem Warndreieck in der Hand entgegen gelaufen ...

Hätte die sanfte Frau nicht das eine Musikstück zuende hören wollen, wäre ich möglicherweise mitten drin gewesen, in der Massenkarambolage, mit etlichen Toten ...

Es fiel mir wieder ein, als ich die Stelle passierte, und es störte mich nicht, dass mich sogar die Lastwagen überholten. Die heimatlichen Gefilde wirkten irgendwie fremd, als ich mich dem Taxenstand näherte. Irgendwann nahm ich intuitiv den Fuß vom Gas und legte ihn aufs Bremspedal. Einen Atemzug später lief mir eine Frau vor den Kühler. Ich bremste, die Frau lief weg, ich fuhr weiter. Ohne zu gucken war die Frau zwischen zwei Autos hervorgekommen, jeder Richter hätte mich frei gesprochen; - aber trotzdem ...

Ich fuhr die Schicht noch zuende, ein bisschen langsamer als üblich, und holte meine damalige Lebensgefährtin ab. Pasta, Rotwein, Kerzen. War schön, aber als wir uns anschließend liebten, tat es mir weh. Meine Vorhaut war dermaßen verengt, dass sie sich nicht mehr über die Eichel ziehen ließ, zudem brachte ich keine richtige Erektion mehr zustande. Ich versprach, am nächsten Tag zum Arzt zu gehen.

Das tat ich auch. Der Arzt vermutete erhöhten Blutzucker und legte mir dringend nahe, am nächsten Tag vor dem Frühstück wieder zu kommen, zum Test. Nach einer Nachtschicht früh aufzustehen war schwer, schwerer als üblich, aber ich schaffte es, und auch zum Arzt. Dort trank ich mächtig viel süßes Zeugs, frühstückte, ging wieder hin, wartete, kümmerte mich nicht um meine verminderte Denkfähigkeit und absolvierte den sogenannten Langzeittest.

Das Ergebnis war niederschmetternd; - 498 mg Blutzucker pro Deziliter; - dabei fühlte ich mich besser als in der Nacht zuvor!

Normal sind zwischen 100 und 160, ideal 120 mg/dl.

Der Arzt wunderte sich, dass ich noch lebte und überwies mich zum Diabetologen. Der zeigte sich auch erstaunt, setzte mir einige Einheiten Insulin und schrieb mich erstmal für einen Monat krank. – Mich schrieb er krank!

War mir noch nie passiert, so lange ‘krank’.

Ich begriff nur langsam, ebenso wie den Umgang mit der Insulinspritze und dem Messgerät für den Blutzucker. Früher war ich mit wesentlich komplizierteren Messgeräten klar gekommen, es hatte mir sogar Spaß gemacht.

Meine Lebensgefährtin hielt zu mir. Sie kochte und überwachte meine Insulindröhnungen; - und davon brauchte ich vier am Tag. Nach gut zwei Wochen hatten wir den Blutzuckerspiegel auf ‘normal’. Aber sehen und denken konnte ich nicht wieder wie zu früheren Zeiten. Ich konnte stundenlang vor dem Computer sitzen um an einem Roman weiter zu arbeiten. Es kam nichts mehr.

Ich lebte zwar noch, aber ich war wie tot, fünfundvierzig Insulineinheiten am Tag ließen mich weiter machen, Tag für Tag für Tag, aber das war auch alles. Die Werte waren in Ordnung und der Diabetologe zufrieden.

Und dann rief jemand des Nachts nach mir, mit einem Namen, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, aber ich wusste, dass ich gemeint war. Ich brauchte einige Nächte, bis ich mich drauf einließ, und dann erschien mir ein Engel!

Ich bin gelernter Techniker und Fertigungsplaner, und ich vertraue eher einer Messreihe als einer Erscheinung. Aber der Engel erschien mir und ich glaubte ihm. In klassischer Weise erschien er mir, umgeben von hellem Licht, er selber im Dunkeln. Ich konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen, aber ich wusste, dass er war!

Der Engel sagte mir, dass ich damit aufhören sollte.

Ich wusste, dass er die Insulinspritzerei meinte und erzählte es am nächsten Morgen meiner Lebensgefährtin, als sie mir nach dem Messen die Spritze reichte. Ich spritzte nicht, mittags auch nicht, abends nicht und wir riskierten auch, die Spritze zur Nacht auszusetzen.

Ich träumte von einem lächelnden Engel und erwachte am nächsten Morgen; - die Wochen zuvor war ich morgens irgendwie in Gang gekommen.

Messen, frühstücken, messen; - alles war ‘im grünen Bereich’, Denkvermögen und Libido kehrten zurück, meinen Roman habe ich auch beendet und den nächsten begonnen.

Meine Lebensgefährtin meint, dass sich meine Schreibe gewandelt hat. Das stimmt, und wenn ich in der Nacht in meinem Taxi saß und auf Fahrgäste wartete, fragte ich mich, ob ich irgendwann mal irgend jemanden irgendwohin fahren werde, wo er einen Krieg verhindert, oder ein Leben rettet.

Niemand weiß es; - aber das vorher kann nicht umsonst gewesen sein!

Mittlerweile bin ich im ‘Ruhestand‘ und habe den Blutzuckerspiegel im Griff - ohne Insulin.

Aber was ist Ruhe?

Ich möchte endlich wissen, was es alles soll …
 

Hagen

Mitglied
Hallo Silberne Delfine,
Danke für den Sternenregen.
Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter!
Herzlichst
Yours Hagen
 

onivido

Mitglied
Hallo Hagen,dass du Coca Cola trinkst haette ich nie von dir erwartet. Das ist Perversion.
Trotzdem beste Gruesse///Onivido
 

Hagen

Mitglied
Hallo Onivio,
von Coca Cola war nie die Rede!
Wenn ich mich recht erinnere habe ich River Cola zu mir genommen, den der örtliche Getränkemarkt deutlich preiswerter als Coco Cola anbot.

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter!
Herzlichst
Yours Hagen
 



 
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