Bodo, Ritter mit den langen Haaren

Bodo Grund, pensionierter Studienrat für Deutsch und Geschichte, erfährt nur noch selten etwas aus dem Leben früherer Schüler. Heute ist so ein Tag. Ein ehemaliger Kollege hat ihm aus Montpellier einen Artikel über einen französischen Historiker, Prof. Nian Phok, zugeschickt. „Den musst Du kennen, der war doch in deiner Theater AG.“ Der frühere Lehrer erinnert sich gut an diesen. Bei dieser Erinnerung schwingt heute noch ein Unbehagen mit. Nian ist Kind kambodschanischer Flüchtlinge und war für einige Zeit Mitglied der Theater AG. Der zurückhaltende, wissbegierige Schüler ist ihm vor allem in Erinnerung geblieben, weil dieser ein denkwürdiges Theaterstück für die Abschlussfeier entwickelt hatte.

Die Absicht des Deutschlehrers war seinerzeit, dass seine Schüler Schauspiel nicht nur als mehr oder weniger anspruchsvolle Unterhaltung ansehen sollten, sondern sie sollten verstehen, dass die Schaffung eines Theaterstücks, gleich welches Genres, aus richtiger Arbeit besteht. Daher die Vorgabe, ein Stück in einer möglichst aufführungsreifen Form zu entwerfen, Thema frei, Plagiate nicht erwünscht. Die Schüler folgen der Aufforderung ihres Lehrers mit Begeisterung. Sie schätzen seine engagierte Art sehr. Seine gesellschaftlichen Ansprüche ans Leben kommen ihnen schon mal wie aus der Zeit gefallen vor, 'Old School' eben. Bodo Grund hat nie ein Hehl aus seinen früheren politischen Überzeugungen gemacht. Allein schon äußerlich umgibt ihn immer noch die Attitüde eines Alt-68ers. Wegen seines Haarschnitts wird er von seinen Schülern gerne, etwas despektierlich, 'Der aus den Siebzigern' genannt. Bodo hatte zwar im Laufe seiner Dienstzeit beim Marsch durch die Institutionen keine Mauern eingerissen, blieb seiner kritischen politischen Linie jedoch immer treu. Er ist beliebt. Schüler, Eltern und Kollegen mögen seine offene, tolerante Art: kompromissbereit und jederzeit mit Verständnis für Andersdenkende. Aus diesem Grunde wird er auch schon mal 'Der Gutmensch' genannt.

Die eingereichten Entwürfe für das geplante Schauspiel werden zur Bewertung vorgelegt. Vier dieser Exposés kommen in die engere Wahl. Sollte man sich auf keines davon einigen können, würde John Osborne's “Blick zurück im Zorn” einstudiert werden; wahrlich keine leichte Kost. Der Entwurf des bislang wenig auffälligen Schülers Nian Phok überzeugt, es ist ein gut ausgearbeiteter Entwurf: “GRAF BODO, DER RITTER MIT DEN LANGEN HAAREN.” Ein Drama mit erstaunlich pointierten Dialogen; beeindruckend auch das Bühnenbild. Die Hauptfigur weist unverkennbar Merkmale des Deutschlehrers Bodo Grund auf. Die Schüler kennen natürlich grobe Züge seiner Biografie, aber dieser hätte niemals vermutet, für die Adaption der Kunstfigur “Don Quijote, Ritter von der traurigen Gestalt,” herhalten zu müssen. Er nimmt es mit Humor.

Das Stück spielt in einer Kneipe, deren Ausrichtung durch entsprechende Bilder und Symbole eindeutig ist, es ist ein Lokal der linken Szene in den frühen Achtzigerjahren. Der Hauptakteur, ein abgebrochener Student aus adligem Hause, Graf Bodo, tingelt durch die Lande und verbreitet bizarre idiologische Theorien. Mit deren Verbreitung erntet er stets nur Hohn und Spott, mitunter auch Schläge. Er gibt aber nicht auf. An seiner Seite Begleiterin Suse, eine junge Frau, etwas schlichter im Gemüt und aus weniger privilegierten Kreisen. Die holt ihn immer wieder in die Normalität zurück. Die beiden ziehen dann in ihrem knallgrün lackierten Citroen 2CV, mit einem großen gelb-roten Symbol der Atomkraftgegner auf der Tür weiter. So gelangen sie an ihre letzte Station, in die Region um das AKW Brokdorf in der Elbmarsch, einem Hot Spot der Kernkraftgegner. Hier spielt die finale Szene des Stücks. Die passende Kulisse ist mit Unterstützung durch die Bühnenbildner des Stadttheaters hervorragend gestaltet: Bauernland, von vier eingeknickten Atomreaktoren eingesäumt. Dazwischen sieht man ein froschgrünes Vehikel, das auf eine rot glühende Sonne zufährt. Untergangsstimmung. Dann folgen die Reden des langhaarigen Überzeugungstäters, die in jedes linke Klischee jener Zeit passen. Der Hauptdarsteller befindet sich bedrohlich gestikulierend im Streit mit Politikern, Bankern und anderen Vertretern des ihm verhassten Establishments. Diese verhöhnen und verlachen ihn.

Durch großformatige Bilder von Che Guevara, Ho Chi Minh und Pol Pot an der Wand sowie durch eine geschickt installierte Beleuchtung, wirkt der Auftritt des Kämpfers gegen die Mühlen der Atomwirtschaft fast surreal. Der langhaarige Ritter kann sich mit seinen Argumenten wieder einmal nicht durchsetzen. Seine Gefährtin Suse hält ihn davon ab, seinen Kontrahenten Gewalt anzutun. Für den Schlussmonolog befindet sich der Titelheld während seiner Tiraden gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch den verhassten Kapitalismus und Imperialismus direkt neben der Abbildung des Pol Pot. Er hält dabei einen Totenschädel in der Hand. Ein wenig Shakespeare darf sein. Die Aufführung ist ein großer Erfolg. Allein schon der Eindruck des Szenenbilds wirkt stark nach. Ein Detail aus der Kneipenszene hatte der junge Autor geschickt in Szene gesetzt: der Auftritt des linken Agitators genau unter dem Bild des Führers der Roten Khmer, Pol Pot. Dieser verblendete Despot hatte seinerzeit zirka zwei Millionen seiner Landsleute ermorden lassen, ein ungeheuerlicher Genozid am eigenen Volk. Diesen Kontext konnte man, wenn man nur der reinen Handlung des Dramas folgt, nicht erkennen.

Als Bodo Grund sich nach der Vorstellung von Nian Phok verabschieden will, überreicht der Schüler ihm einen unverschlossenen Umschlag. “Das ist vom Fotografen Reichmann, vom Tagesanzeiger. Soll ich Ihnen geben.” Bodo nimmt das Kuvert entgegen und wirft einen Blick auf den Inhalt: ein Foto des jungen Studenten Bodo Grund bei der Übergabe einer symbolischen Spende an eine Delegation des revolutionären Komitees der Roten Khmer. Aufgenommen in einer verräucherten Kneipe. Bodo kennt dieses Bild, er kennt auch die Absicht des Skandalfotografen Reichmann, zögert kurz, und steckt es zurück in die Hülle. Zum Schüler gewandt: “Hast Du es dir angesehen?” Nian Phok zuckt mit den Schultern und geht in Richtung Parkplatz, wo seine Eltern auf ihn warten. “Der Gutmensch hat nichts verstanden,” murmelt er auf dem Weg dorthin. Er wischt sich dabei Tränen von den Wangen.
 



 
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