Botschaft eines Namenlosen

Juli 1976. Tagelang war die Luft erfüllt gewesen vom Hall der durch die Hauptstadt peitschenden Schüsse, den Schmerzens- und Wutschreien der Getroffenen und dem Siegesgeheul der unaufhaltsam vorrückenden Soldaten.
Mittlerweile hörte man es nur noch vereinzelt knallen; denn die zusätzlich aus dem benachbarten Ausland herbeigerufenen Söldnertruppen hatten ganze Arbeit geleistet. Ein Großteil der Jugendlichen, die sich zu Tausenden in den Straßen der Altstadt versammelt und nach den ersten Angriffen verschanzt hatten, war bereits niedergemäht worden. Dabei hatten sie, von den neuesten Verordnungen der Obristen, die sich einige Wochen zuvor an die Macht geputscht hatten, in Bestürzung und Wut versetzt, nichts anderes vorgehabt, als laut und unmissverständlich kund zu tun, dass sie nicht bereit waren, die ihnen zugedachten entwürdigenden Lebensumstände unwidersprochen hinzunehmen. Der klägliche Rest derer, die das Massaker überlebt hatten, war in die umliegenden Wälder geflohen oder versuchte, sich in den ausufernden, an die Altstadt angrenzenden Armenvierteln vor der Armee, die begonnen hatte, dort Straße um Straße zu durchkämmen, im Verborgenen zu halten.
Der im Schein matt flackernden Neonlichts unbeweglich in seinem Krankenhausbett liegende Junge konnte von dem von unten aus der Stadt herauf dringenden Lärm und der Angst und Aufregung, von denen die Menschen erfasst worden waren, eigentlich nichts mitbekommen haben; denn er lag in tiefer Bewusstlosigkeit, seit Tagen mit hohem medizinischen Aufwand am Sterben gehindert. Und doch hatte es hin und wieder so ausgesehen, als zögen eisige Schauern durch den ausgemergelten und für das Alter von vierzehn Jahren viel zu schmächtigen Körper.
Es war Nacht. Das Krankenhaus war bis auf ihn und ein paar andere nicht transportfähige Kranke menschenleer, denn das Personal zog es vor, nach Hause zu eilen, bevor sich die Dunkelheit über die Stadt nieder senkte und die sich untereinander die Herrschaft über die Straßen streitig machenden räuberischen Banden aus ihren Verstecken hervorkamen. Auch wenn es nun tagsüber wieder etwas ruhiger war; die Nächte waren noch immer voll gärender Unruhe und Gefahr, sodass keiner das Wagnis eingehen wollte, den Schutz der eigenen Familie zugunsten einer Handvoll Patienten, die ohnehin dem Tode näher standen als dem Leben, zu vernachlässigen.
Die Lider des Jungen fingen auf einmal zu vibrieren an, und die bis dahin leblosen Züge seines Gesichtes verzerrten sich, als ginge eine große Anspannung in ihm vor. Dann entrang sich seiner Kehle ein heiseres Röcheln; er schlug die Augen auf und sah blicklos zur Zimmerdecke empor; Tränen rannen ihm über das Gesicht.
Nachdem er eine Weile lang so dagelegen hatte, zog er ganz langsam zuerst die eine, dann die andere Hand unter der Zudecke hervor, hob sie bis in Augenhöhe an, beobachtete, wie sie sich zu winzigen, kraftlosen Fäusten zusammenballten, und ließ sie erschöpft zurück auf die Decke sinken.
Plötzlich schien irgendetwas seine Aufmerksamkeit zu erregen, er drehte den Kopf zur Seite, sah zur Türöffnung hin, hob den rechten Arm ein wenig an und wies mit dem Zeigefinger in die selbe Richtung, während ein scheues Lächeln über sein Gesicht zog als begrüße er jemanden, der sich von dort her näherte. Doch da war niemand. Als er gewahr wurde, dass er einer Täuschung aufgesessen war, setzte er sich auf, wischte sich die Augen trocken und begann, sich mit unbeholfenen Fingern der Schläuche und Kabel, an die er angeschlossen war, zu entledigen.

Kaum, dass er es aus dem Bett heraus geschafft hatte und auf eigenen Füssen stand, ließ er seinen Blick mit großer Aufmerksamkeit durch den Raum schweifen; er schien etwas zu suchen, und auch ganz genau zu wissen, was. Da er von dort aus, wo er stand, nicht sah, wonach er Ausschau hielt, setzte er sich ungelenk in Bewegung und arbeitete sich mit unsicheren, zögernden Schritten einmal rund durch den Raum, immer wieder an dem entlang der Wände stehenden Mobiliar Halt suchend. Unter dem Fuß eines unförmigen elektronischen Geräts entdeckte er schließlich, was er gesucht hatte: einen Bleistift. Es war nur ein schäbiger, kurzer Stummel, der aus irgendeinem Grunde dort unten eingeklemmt war. Seiner habhaft zu werden, kostete ihn nicht wenig Anstrengung, aber er lächelte beglückt, als es ihm gelungen war.
Die Hand, die den Stift mit aller Kraft umschlossen hielt, gegen die Brust gedrückt, ging er erneut auf die Suche. Doch so sorgfältig er auch nachsah, er fand nicht einen einzigen Fetzen Papier. Enttäuschung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab; er musste es doch niederschreiben – jetzt, denn viel Zeit blieb ihm nicht mehr.
Noch einmal sah er sich suchend um, und als sein Blick auf die weiß gekalkte Wand fiel, erfasste er, welcher Ausweg sich ihm bot. Ohne sich noch eine Sekunde Verzögerung zu gönnen, suchte er eine Stelle heraus, an der sein Werk nicht jedem gleich ins Auge fiele, und begann Wort um Wort, Zeile um Zeile in winzigen, fein geschwungenen Buchstaben auf die Wand zu schreiben. Er schrieb wie in Trance, und obwohl er nicht einmal inne hielt, brauchte er fast eine ganze Stunde, bis er mit dem, was er zur Sprache hatte bringen wollen, zu Ende gekommen war. Der Text umfasste viele Zeilen und sein Handgelenk schmerzte ihn, doch er war von freudiger Erregung erfüllt. Er hatte es tatsächlich geschafft. Vorsichtig, als handele es sich um einen wertvollen Gegenstand, legte er den verbliebenen Rest des Bleistifts auf einen der Tische nieder, wandte sich zum Ausgang hin und verließ den Raum.
Der Pfleger, der am nächsten Morgen das Zimmer des Jungen betrat, um dort die notwendigen Verrichtungen zu erledigen, fand das Bett leer. Er war sehr verwundert und rief einige Kollegen herbei, die sich jedoch genauso wenig wie er erklären konnten, was geschehen sein mochte. Zwar schickte man einen der Hilfspfleger durch das Haus, um nach ihm zu suchen, doch kurz darauf war man gezwungen ihn anzuweisen, sich dringlicheren Aufgaben zuwenden. Es wäre ungerecht, unterstellte man, dass das unerklärliche Verschwinden des Jungen sorglos hingenommen worden wäre, aber die Verhältnisse waren einfach nicht danach, dass man eines einzelnen Menschen wegen allzu viel Kraft verausgaben durfte, und eines abhanden gekommenen schon gar nicht. Man hatte mehr als genug damit zu tun, den sich tagsüber in den Fluren drängelnden Kranken und den blutverschmierten Verwundeten der in der Nacht ausgefochtenen Scharmützel die dringendste Versorgung zukommen zu lassen.
Am Nachmittag des darauf folgendes Tages wurde der Junge schließlich doch noch gefunden. Zu einem winzigen Bündel zusammengekauert lag er in einer Ecke des mit Toten überfüllten Leichenkellers, dessen Tür merkwürdigerweise vorschriftsmäßig verschlossen vorgefunden worden war. Da keinerlei Spuren darauf hinwiesen, dass ihm jemand Gewalt angetan hatte, zuckte man bedauernd mit den Schultern und legte ihn behutsam zu den anderen auf ihren Abtransport wartenden Toten.

Der Patient, den man wenige Stunden, nachdem das Verschwinden des Jungen entdeckt worden war, in das frei gewordene Zimmer verlegt und zum Teil an die selben Maschinen angeschlossen hatte, genas innerhalb weniger Tage von der an ihm durchgeführten Operation. Als seine Sinne wieder zu funktionieren begannen, vertrieb er sich die Zeit damit, von seinem Bett aus die Umgebung zu erforschen und zu versuchen, die jeweilige Bestimmung der vielen ihm unbekannten Apparate herauszufinden. Es dauerte nicht allzu lange, bis sein Blick auf einen Teil des auf die Wand geschriebenen Textes fiel. Er konnte deutlich erkennen, dass dort etwas in Versform an die Wand geschrieben war, lag aber zu weit entfernt, um einzelne Buchstaben entziffern zu können. Mangels anderer Möglichkeiten, seine Gedanken zu beschäftigen, wurde er von Tag zu Tag neugieriger darauf, um was es sich dabei handeln könnte.
Als er spürte, dass seine Muskulatur ihm zunehmend besser zu gehorchen begann, konnte er dem Reiz, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, einfach nicht mehr widerstehen. Er wartete einen günstigen Moment ab, entkoppelte die Kabel- und Schlauchverbindungen, die ihn mit den Maschinen verbanden, und humpelte anschließend, zur Vorsicht einen der Stühle vor sich herschiebend, bis zu der Wand hin.
Nachdem er das Gedicht gelesen hatte, musste er sich wieder hinlegen, so elend fühlte er sich. Am nächsten Tag ließ er sich Schreibutensilien bringen, und an dem darauf, machte er sich noch einmal auf den Weg; irgendetwas zwang ihn, die Worte des ihm unbekannten Jungen von der Wand abzuschreiben.

Endlich ist es soweit.
Die Waffen werden herausgeholt,
und auch der Kaugummi
zum Zähne drauf beißen.

Noch schnell den Blick zurück,
voll Ekel und Angst
zur Schule,
deren lähmender Atem
uns noch umweht.

Das Maschinengewehr
müssen wir abwechselnd tragen,
denn es mangelt uns an Ausdauer und Kraft,
wegen all der Drogen,
die sie im Auftrag des Regimes
in unser Essen tun.

Nur weil es verboten ist,
laufen wir barfuß;
laut echot das Klatschen der nackten Füße
von den hohen Wänden zurück.

Weg,
nur weg von hier,
wo man kein anderes Bestreben kennt
als uns Tag für Tag
noch ein wenig mehr Angst
in die jungen Köpfe zu hämmern.

Wir rennen
so schnell wie noch nie,
und lachen und weinen zugleich;
und schreien eine Wut
und eine Hoffnung hinaus,
die wir eben erst zu ahnen beginnen.

Von überall her
finden wir zusammen
und verschrecken mit
mit unserem grellen Lachen
die hohläugigen Gesichter derer,
die aussehen,
als habe man sie hinter den Fensterkreuzen angenagelt.

Inmitten des großen Platzes,
den sie vor kurzem erst
mit feixenden Fratzen
in den der Republik umbenannt haben,
steht nun unser Maschinengewehr;
es rattert mit höllischem Klang.

Die Gesichter der beiden Jungen dahinter,
sind voller Schweiß
und spiegeln Furcht, Hoffnung und Zorn.
Aus tiefer Überzeugung
schießen sie nur
über die Köpfe der Gegner hinweg.

Hinter den Barrikaden,
errichtet aus Cafehausstühlen, Müllcontainern und Mopeds
greifen die Hinzukommenden
sich in die Arme und tanzen;
zu einer Musik,
die nur hören kann,
wer auf unserer Seite ist.

Als wir uns umschauen
sind wir sehr überrascht,
dass so viele von uns,
die doch sonst immer nur Angst hatten,
sie könnten womöglich das Richtige tun,
mit einem Mal unter uns weilen.

Kaum zu uns herüber geklettert,
beginnen auch sie zu tanzen
und zu lachen,
und sie und wir wissen,
dass ihre bis eben noch fahlgelben Gesichter
bald in hellem Rot aufleuchten werden.

Manche Paare lieben sich auch,
ganz frei,
ohne Ekel und Scham;
und wir alle bestaunen ein Ich,
das nach all den Jahren
überraschend kraftvoll
hervorbricht im Kampf.

Plötzlich fauchen großvolumige Motoren
durch die Straßenfluchten heran.
Auf Panzern und Lastwagen
naht die Streitmacht der Mächtigen:
starrgesichtige Männer und Frauen,
die gegen lächerlich geringen Lohn bereit sind,
dafür sorgen,
dass alles so bleibt
wie es ist.

Die Ersten von uns brechen zusammen
im umgehend eröffneten Feuer
der wie von Sinnen schießenden Söldner,
die, so scheint es,
zum Anpfiff des im Fernsehen übertragenen Fußballspiels
wieder zu Hause sein wollen.

Unsere Reihen lichten sich zusehends,
doch keiner läuft mehr davon,
weil keiner mehr leben will,
ohne Würde.

Rasch rücken ihre Panzer vor,
die Barrikade bricht.
Mit ausdrucksleeren Gesichtern wogen sie
über uns hinweg.

Nein, Mitgefühl ist ihre Sache nicht;
denn dafür,
Gnade walten zu lassen,
werden sie nicht bezahlt.

Und haben wir diesmal auch verloren,
so verhöhnen wir mit unserem letzten Seufzer
die Armseligkeit
der ehrlosen Schlächter,
die nie wissen werden,
wie das ist:
auch nur einen Moment lang frei zu sein



September 2007. Den Enkeln eines soeben verstorbenen Greises fiel die Abschrift des Gedichts in die Hände, als sie, angetrieben von jugendlicher Neugier, dessen karge Hinterlassenschaft durchstöberten. Es handelte sich um aufgeweckte und an dem, was um sie herum vorging, über das gewöhnliche Maß hinaus interessierte Jugendliche, die den aus ihrer Sicht sehr eigenartigen Text in die Schule mitnahmen. Sie wollten nicht nur herausfinden, auf welche ihnen unbekannte Begebenheit er verwies, sondern auch, wer ihn verfasst haben mochte.
Keiner der von ihnen angesprochenen Lehrer kannte das Gedicht, doch alle wussten nur zu gut, welche Ereignisse darin beschrieben wurde. Die meisten reagierten unwirsch oder verlegen; nur ganz wenige überwanden ihre Furcht und nahmen das Auffinden des Textes zum Anlass, im Rahmen des Unterrichts Diskussionen über die beinahe schon in Vergessenheit geratenen Verbrechen des bereits vor zwei Jahrzehnten abgetretenen alten Regimes zuzulassen.
Die anfangs ängstlich und nur hinter vorgehaltener Hand, alsbald aber ziemlich eifrig geführte Debatte über die Vergangenheit des Landes zog langsam Kreise. Nachdem sie erst auf benachbarte, dann auf alle anderen Schulen der Hauptstadt übergesprungen war, begann sie einige Wochen später aus den Bildungsanstalten heraus zu schwappen. Allmählich getrauten sich auch die Redaktionen einiger kleinerer Zeitschriften, sich des bis dahin totgeschwiegenen Themas anzunehmen. Sofort aber ging ein Aufschrei der Empörung durch das Land; vorerst allerdings nicht der wieder in das öffentliche Gedächtnis gerückten Verbrechen wegen, sondern weil das Thema ein unerfreuliches sei, das die Gesellschaft spalte. Lasst die Toten ruhen, wurde den Wissbegierigen entgegengehalten, schließlich sei man ein prosperierendes Land, dessen Entwicklung nicht durch lang zurückliegende Ereignisse gefährdet werden dürfe. Die, die das sagten, gehörten allerdings nicht selten zu denjenigen, deren immense Vermögen in den dunklen Jahren der Herrschaft der Obristen zustande gekommen waren. Mit allen Mitteln wurde versucht, sich gegen das in der Öffentlichkeit auf einmal aufkeimende Bedürfnis nach Aufklärung zur Wehr setzten; doch die Entwicklung war nicht mehr aufzuhalten.

Es verging nicht einmal ein Jahr, bis die Regierung, die unter anderem auch für das seinerzeit klammheimlich erlassene Gesetz zur Generalamnestie verantwortlich war, auf Drängen des nach einem Neuanfang dürstenden Volkes ihres Amtes enthoben wurde.


Eine neue Zeit brach an.
 



 
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