brachland

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Perry

Mitglied
brachland

das ist mein weg den ich fast täglich gehe zuschaue
wie jahreszeiten aufblühen und verwelken manchmal
stehen bleibe um mit rehen übers wetter zu reden

dann wandere ich an der bahn entlang zurück zum haus
hinter mir klopfen spechte an morschen bäumen und
irgendwann höre ich nur noch meine zunge schnalzen

in letzter zeit verlaufe ich mich des öfteren biege falsch
ab oder kehre gedankenlos einfach um es gibt kaum
noch wegweiser dafür immer mehr unerforschtes gebiet
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Hallo Perry,

ich habe dies erst jetzt gelesen. Dein (Prosa-)Gedicht wirkt auf mich schon recht traurig und desillusioniert. Doch will ich dennoch wenigstens ein bißchen Hoffnung (?) erkennen. Vielleicht, weil "unerforschtes Gebiet" zum Entdecken auffordert? Eine Entdecker-/Abenteuer-Lust zumindest vermuten lässt? Ich denke dabei an eine jüngst gesehene Diskussion, bei der auch ein an Demenz Erkrankter beteiligt war. Und was mir dabei klar wurde, jenseits der Grausamkeit einer solchen Erkrankung, vor allem auch für die direkt Betroffenen, ist, dass soziale Ausgrenzung, Wegschauen, Wegweiser ettfernen oder überhaupt erst keine aufstellen niemals eine Option sein sollte (und zugleich viel zu häufig passiert). Und dass dies uns alle angeht, gleich ob (direkt, mittelbar) betroffen oder nicht. Insofern wäre zu hoffen, dass das Durchwandern des Unerforschten zukünftig nicht nur von Rehen und Spechten begleitet würde. Wie auch immer, diesen Gedanken triggerte Dein Gedicht.

LG Dimpfelmoser
 

Perry

Mitglied
Hallo Dimpfelmoser,

traurig ist es allemal, wenn ein Mensch immer mehr den Bezug zu seiner Umgebung verliert. Im Text habe Ich versucht, die Gedanken eines Demenzkranken darzustellen, für den die reale Umwelt immer mehr zum "Brachland" wird, das einst sein "Paradies" war.
Danke fürs zutreffende Feedback!

PS: Was das "Prosa Gedicht" anbelangt, dient der Terzettrahmen dazu, die Eindrücke des LI verdichtet in Form lyrischer Wortbbilder (Auftakt, Beschreibung und Ausblick) einzufangen.
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Perry,

dein Gedicht ist aber nicht nur traurig - es trägt auch die Schönheit der Würde in sich. Meiner Meinung nach ist dies eines deiner besten Gedichte. Es hat zudem, trotz des Themas, sehr poetische Stellen, so z.B.

manchmal
stehen bleibe um mit rehen übers wetter zu reden
Besonders beeindruckend ist dir überdies gelungen, durch die Setzung der Verben - also der Wortart, die über den Sinn und das Handeln des Subjekts Auskunft gibt - die zunehmende Verwirrung im Kopf des Lyrisches Ichs auszudrücken:

brachland

das ist mein weg den ich fast täglich gehe zuschaue
wie jahreszeiten aufblühen und verwelken manchmal
stehen bleibe um mit rehen übers wetter zu reden

dann wandere ich an der bahn entlang zurück zum haus
hinter mir klopfen spechte an morschen bäumen und
irgendwann höre ich nur noch meine zunge schnalzen

in letzter zeit verlaufe ich mich des öfteren biege falsch
ab oder kehre gedankenlos einfach um es gibt kaum
noch wegweiser dafür immer mehr unerforschtes gebiet


Die Verben kommen, wie man an den Markierungen sehen kann, ad hoc, überraschend, die Unstrukturiertheit des Lyrischen Ichs und der Verlust dessen geistiger Kohärenz werden somit verdeutlicht.

Ich finde, du hast hier ein sehr starkes Gedicht geschrieben!

Viele Grüße
Frodomir
 

sufnus

Mitglied
Hey Perry!
Dein Gedicht spricht mich ganz unmittelbar an, denn ich finde den Ton Deiner Zeilen sehr anrührend, den Du, lieber Frodomir, so treffend mit "Schönheit der Würde" bezeichnet hat.
Was die Verben angeht, hatte ich tatsächlich nur in der ersten Strophe eine Lese-Stolperstelle bei "stehen bleibe", weil ich da erst nochmal kurz auf Subjektsuche gehen musste (die Suche gestaltete sich kurz und erfolgreich ;) ). Die anderen Verben hatten für mich jetzt gar nicht so sehr den Eindruck eines Überraschungsmomentums vermittelt, wie das offenbar bei Dir, Frodomir, ankam. Die Probleme des lyr. Ichs, sich zurecht zu finden, kamen insofern für mich erst in der letzten Strophe so richtig rüber (was aber - Spannunungsbogen - gar kein Nachteil sein muss). In den ersten beiden Strophenhabe ich es zunächst als den Bericht eines kindlich-weisen "Narren" im archetypischen Sinn der Altvorderen gelesen.
LG!
S.
 

Frodomir

Mitglied
Es ging mir zunächst genauso wie dir, lieber sufnus, dass ich an der Stelle stehen bleibe hängen blieb. Da gedachte ich kurz, mich über diese zu mokieren, bis ich bemerkte, dass das eigentlich genial ist und ich daraufhin das Gedicht nochmal im Hinblick auf weitere den Inhalt unterstützende Verbformen las. So entstand dann meine Einschätzung des Ganzen.
 

Frodomir

Mitglied
Nochmal ein Hallo an Perry,

jetzt, wo ich das Gedicht nochmal lese, fällt mir übrigens noch etwas auf: Neben den Verbkonstruktionen, welche wie bereits erklärt immer einen gewissen Bruch des zusammenhängenden Denkens des Lyrischen Ichs darstellen, versucht die Sprache des Textes dennoch weiter nach vorn zu streben und im Lebensprozess progressiv zu bleiben. Umgesetzt ist das durch die Endungen bzw. weiblichen Kadenzen -e und -en:

das ist mein weg den ich fast täglich gehe zuschaue
wie jahreszeiten aufblühen und verwelken manchmal
stehen bleibe um mit rehen übers wetter zu reden

dann wandere ich an der bahn entlang zurück zum haus
hinter mir klopfen spechte an morschen bäumen und
irgendwann höre ich nur noch meine zunge schnalzen

in letzter zeit verlaufe ich mich des öfteren biege falsch
ab oder kehre gedankenlos einfach um es gibt kaum
noch wegweiser dafür immer mehr unerforschtes gebiet


Ich finde, dass diese Diskrepanz zwischen Fortlaufendem, ausgedrückt durch die Kadenzen (welche so übrigens im letzten Vers nicht mehr stattfinden, weil hier vielleicht durch das Fortschreiten der Demenz das Lyrische Ich selbst nicht mehr wirklich fortschreiten kann), und Unterbrochenem, sichtbar gemacht durch die Verbanordnungen, sehr gut und passend zum inneren Erleben des Lyrischen Ichs umgesetzt worden sind. Das hast du stark gemacht, Perry.

Viele Grüße
Frodomir
 



 
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