Brennende Sichel

masterplan

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Mit einer Splittergranate in der Hand, trat ein junger Mann auf die Straße, schrie „haut ab, ich sprenge mich jetzt weg“ und wartete, ehe alle Menschen aus seiner Reichweite geflohen waren.
Dann zog er den Stift der Waffe heraus, hielt letztere in die Luft und wartete auf seinen Abschied.
Boom!
Außer dem jungen Mann war keiner zu Schaden gekommen. Er war allerdings ziemlich hinüber, was der erste Arzt vor Ort bestätigte.
Ein anderer Mann in der Nähe hatte diese Akt des Selbstmordes, ebenso wie viele sonstige Fußgänger, beobachtet. Er, nennen wir ihn Erwin, fragte sich danach, aus welchem Grund ein Mensch solch eine Tat begehen kann.
Also ging Erwin nach seiner Mittagspause pünktlich zurück an seinen Arbeitsplatz. Dort wartete sein Vorgesetzter mit einer dicken Ladung zu erledigender Papiere und drohte bei einer möglichen Nichterledigung vorher schon einmal mit einer Abmahnung. So setzte sich Erwin also an seinen kleinen, miefigen Arbeitsplatz und sah seufzend aus dem Fenster. Dort sah er nur eine dreckige Straße, mit einem noch dreckigeren Gebäude gegenüber. Seine Mitarbeiterin, am Tisch daneben, machte wie jeden Tag Anstalten, er solle gefälligst mit seiner Arbeit beginnen, schließlich arbeite sie ja schließlich auch so hart, um den Umsatz der Abteilung hochzuhalten. Nach dieser spitzzüngigen Bemerkung stand sie auf und ging mit gezückter Zigarettenschachtel in die Kantine und kam eine halbe Stunde später mit einer Tasse Kaffee zurück.
Als Erwin gerade so richtig in seine banale Arbeit vertieft war, wurde er von seinem Kollegen Joseph mal wieder von der Seite angestoßen. Die folgende, beleidigende Bemerkung bezog sich zu diesem Zeitpunkt auf Erwins „bescheuerte“ Brillenfassung und den Streit mit seiner Vermieterin, die ihm drohte den Mietvertrag zu kündigen. Woher Joseph diese Information hatte, wußte er selbst nicht genau. Jedenfalls lachten alle Kolleginnen und Kollegen spöttisch, als sie diesen hämischen Angriff auf ihn hörten und machten sich noch vereinzelt über seine Unfähigkeit lustig.
Als die elfte Arbeitsstunde anbrach, war Erwin mit seinem Papierkram erledigt und konnte nun endlich, nach allen anderen, nach Hause gehen.
Nach etlicher Warterei, in dem von Autostaus überfüllten Großstadtdschungel, kam er nach einer Stunde endlich Zuhause, in seiner kleinen aber teuren Mietwohnung an, wurde aber noch vor deren Betreten von der Hausvermieterin aufgehalten und musste sich einen langen, zermürbenden Vortrag über Mietrecht und Anstand von ihr anhören. Als er das hinter sich hatte, spielte er, bevor er sich die neun Uhr Nachrichten ansehen würde, den einen eingegangenen Anruf auf seinem Anrufbeantworter ab. Es war die nette, weibliche Bekanntschaft, die er gestern getroffen hatte. Nach ihrer Nachricht zufolge, hatte sie aber kein weiteres Interesse an Erwin, sondern hielt als Ausrede, ihre Rückkehr zu ihrem ehemaligen Freund für sinnvoller.
Die Nachrichten hatten wieder einmal wenig neue Informationen zu bieten, Erwin sah sie sich aber dennoch überzeugt an. Schließlich waren sie das Einzige, was ihn von seinem Leben ablenkte. Diesmal war ein kurzer Bericht über die gewaltigen Völkermorde in Afrika im Programm, dann kam eine große und lange Reportage über die USA und ihren Rachefeldzug gegen die Terroristen, nach dem Motto: „Welche Waffe tötet einen Araber am brutalsten?“ Danach folgte ein kleiner, unbedeutender Bericht über die Entführung, den Mißbrauch und die Mißhandlung eines Kindes und anschließend ein knapper Kommentar zu dem Mord zweier Eltern an ihrem Zögling.
Nach den Nachrichten stand Erwin auf und holte sich eine kalte Cola aus dem Kühlschrank in seiner Küche. Als er wieder vor dem Fernseher Platz nahm, lief gerade eine Talkshow. Das Thema lautete: „Mein Auto is viel besser getuned, darum krieg ich alle Weiber ab!“ Vielmehr ging es aber darum, seinem Diskussionspartner klarzumachen wie „doof“ und „blöde“ der ist und um gleichzeitig lässig zu wirken, seine „Alte“ mit Worten wie „Fotze“ und „Schlampe“ abzuspeisen. Um dem noch einen draufzusetzen rief der - alles andere als neutrale (was er eigentlich als Diskussionsführer sein sollte) - Moderator eine Dame herein, die sich als „heiße Rockerbraut“ verstand und ihrer Aussage nach am liebsten mit allen Tuning- Freaks in die Kiste hüpfen würde. Und zwar gleichzeitig.
Danach folgte eine Late-Night- Verkaufssendung, die Erwin mit einem Staubsauger, „der in alle Ecken kommt“ beinahe den Hirntot beschert hätte. Zu seinem Glück ist er rechtzeitig vor dem Fernseher eingeschlafen.
Als er am nächsten Morgen wieder die Augen öffnete, bemerkte er an Zeitanzeige auf dem Teletext, der sich über Nacht offensichtlich verselbstständigt hatte, dass er um ganze fünfzig Minuten zu spät wach geworden war.
Auf dem Weg zur Arbeit machte sich Erwin schwerlich Gedanken darüber, was er seinem Arbeitgeber zu diesem Vorfall an Verspätung sagen sollte. Schließlich waren auch noch alle Straßen bis obenhin mit Autos gefüllt, was das Vorankommen nicht gerade förderte. Die anderen Fahrer hupten und riefen oft nach ihm. Das alles früh am Morgen.
Angekommen in der Firma, stiefelte natürlich zuerst sein Chef mit ernstem Gesicht auf ihn zu und stauchte ihn erst mal als Begrüßung, vor allen anderen Mitarbeitern zusammen. Der Rest des Vormittags lief wie immer. An seinem Platz lag schon ein riesiger Stapel mit undurchsichtigen Akten und sonstigem endlosen Papierkram, das sonst keiner erledigen wollte. Seine Kollegen nervten und erniedrigten ihn, nahmen ihn hoch, zum Teil auch wegen des zu späten, morgendlichen Auftretens und der Kündigungsdrohung des Arbeitgebers.
Kurz vor der Mittagspause hatte Erwin dann doch noch einmal Hoffnung auf Besserung seines Lebens. Eine seiner Arbeitskolleginnen brachte ihm einen Kaffee aus der Kantine mit. Aber als er aus dem Plastikbecher trinken wollte, sah er ein totes Insekt in der dampfenden, braunen Flüssigkeit treiben. Eine zermatschte Fliege. Und alle lachten freudig.
Diese Mittagspause lief anders als sonst. Normalerweise zog sich Erwin in das Cafe von nebenan oder in seinen Wagen zurück, doch dieses mal war das nicht so.
Er ging in einen ominösen Laden, in dem er zuvor nie gewesen war. Und als er nach ein paar Minuten wieder hinaus trat, hatte er einen schwarzen Revolver in der Hand und hielt ihn sich auf offener Straße an die Stirn.
„Achtung, bitte in Deckung gehen. Ich schieße mir jetzt in den Kopf.“
Die Passanten waren bereits aus seiner Nähe geflohen, da ertönte der Schuß.
Bang!
Außer Erwin hatte zum Glück niemand Schaden genommen. Er war allerdings ziemlich tot, was der erste Arzt, der ihn begutachtete, schnell bestätigte.
Ein anderer junger Mann in der Nähe, hatte den Selbstmord auch beobachtet. Er, nennen wir ihn Youare Thenext, fragte sich danach, aus welchem Grund ein Mensch sich so etwas antun könnte und zuckte mit den Schultern.
Also ging Youare Thenext zurück an seinen schlecht klimatisierten Arbeitsplatz...
 



 
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