Brief aus Überlingen

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sufnus

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Brief aus Überlingen

Ein Querkämmer in Halbschuhen
unterm Cashmerepullover neolithisch markiert
zwischen Freundlichtun und Nahrungserwerb
kurzsichtig spähend ziemlich zerstreut
ganz schön zurückgeblieben um
etliche Updates und bei der Abreise
den Hausschlüssel im Hotelzimmer
liegen gelassen was sich erst später
rächen wird dabei aktuell den Missmut
mehr dem Wetter als der
Nachrichtenlage geschuldet

Am Ufer sitzen lauschen lauschen schauen
für diese Jahreszeit zu warm (wie immer)
hab meinen Reisepass vergessen bei
meiner Seel da drüben ist die Schweiz

Das ist der Brief
ich hätt ihn dir
recht gern geschickt
doch fehlte mir die Zeit

Da drüben ist die Schweiz






----- alte Version (vgl. auch die Kritikpunkte von fee ------

Brief aus Überlingen

Ein Querkämmer in Halbschuhen
unterm Cashmerepullover neolithisch markiert
zwischen Freundlichtun und Nahrungserwerb
kurzsichtig spähend ziemlich zerstreut
ganz schön zurückgeblieben das Iphone
(fehlendes Update) und bei der Abreise
den Hausschlüssel im Hotelzimmer
liegen gelassen was sich erst später
rächen wird dabei aktuell den Missmut
mehr dem Wetter als der
Nachrichtenlage geschuldet

Am Ufer sitzen lauschen lauschen schauen
ich bin für diese Jahreszeit zu warm
hab meinen Reisepass vergessen bei
meiner Seel da drüben ist die Schweiz

Das ist der Brief
ich hätt ihn dir
recht gern geschickt
doch fehlte mir die Zeit

Da drüben ist die Schweiz
 
Zuletzt bearbeitet:

fee_reloaded

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Am Ufer sitzen lauschen lauschen schauen
ich bin für diese Jahreszeit zu warm
hab meinen Reisepass vergessen bei
meiner Seel da drüben ist die Schweiz

Das ist der Brief
ich hätt ihn dir
recht gern geschickt
doch fehlte mir die Zeit

Da drüben ist die Schweiz

Immer wieder schön und spannend, zu sehen, wie sich ein Vorhang einen Spalt breit öffnet und auf wenig Raum ein Blick auf ein Individuum erhascht wird, der in eine erstaunliche Tiefe führt. Ein Effekt wie bei einer Lochkamera - ein kleiner Bereich wird scharf gestellt, der Blick aufs Wesentliche gelenkt und das Drumherum verwischt.

Dieses Drumherum hat dein Gedicht auch, lieber sufnus,

und schon optisch als schwerer Block erschlägt es den scharfgestellten Bereich für mein Empfinden ein wenig. Vielleicht, weil ich in der "Einleitung" versucht bin, als Leser schon selbst scharf zu stellen (so nach dem Motto "wo führt das hin?"). Im Weiterlesen fühlt es sich stellenweise dann für mich so an, als hätte die Einleitung versucht, mich ein wenig in falsche Richtungen zu locken.

Das mag aber meinem Denken geschuldet sein, dass, was in einem so konzentrierten Text wie einem Gedicht angeführt wird, später auch von Bedeutung sein und sich zum Ende hin mit weiteren Teilen verzahnen wird. Tatsächlich aber werden Verzweigungen angedeutet, die offene Wegenden bleiben. Ein Kunstgriff, den ich an sich gut finde, bloß die Dosis scheint mir hier ein klein wenig zu hoch gegriffen. Den Alltag, das Leben, in dem LyrIch sich offensichtlich gut eingerichtet hat, könnte man in ein paar Versen weniger gestalten.

Zum Beispiel hilft die Aufzählung " kurzsichtig spähend ziemlich zerstreut ganz schön" dem Text in dieser Form nicht weiter, wie ich finde. Das I-Phone verortet das Gedicht zwar zeitlich, doch ist das eigentlich gar nicht nötig, oder? Und irgendwie auch zu "laut". Meine abgespeckte Vorstellung einer möglichen Version sähe beispielsweise so aus:

Ein Querkämmer in Halbschuhen
unterm Cashmerepullover neolithisch markiert
zerstreut zurückgeblieben zwischen
Freundlichtun und Nahrungserwerb
bei der Abreise den Hausschlüssel
im Hotelzimmer liegen gelassen
was sich erst später rächen wird
dabei aktuell den den aktuellen Missmut
mehr dem Wetter als der
Nachrichtenlage geschuldet
Ein Text, der vom Leser gepuzzlet werden will und die Teilchen gekonnt zufällig geordnet anbietet. Das finde ich schön und spannend. Dass es sich um einen solchen Text handelt, erschließt sich allerdings nicht beim ersten oder auch zweiten Lesen. Vermutlich deshalb, weil die erste Strophe sich ja defnitiv als Einleitung zu einer "Erzählung" tarnt. Der Bruch kommt erst danach und mit ihm das leichte Grübeln nach dem letzten Wort, wo man erkennt, man muss nochmal zurück an den Anfang und anders "schauen" beim Lesen.

Bei diesem Vers hier
ich bin für diese Jahreszeit zu warm
könnte man meinen, es fehlt ein Wort am Ende...wieder in die Irre geführt (wiewohl ich dennoch dort immer hängenbleibe beim Lesen). Der Vers danach kann als ebenso unvollendet gelesen werden, ist es aber nicht. Doch das doppelte Stutzen nach dem Lauschen, Lauschen, Schauen gehört da schon hin.

Ein zerrissenes LyrIch zeigt sich da in einem Moment, wo es mehr fühlt als mit Sicherheit weiß, wohin es will und doch nicht kann. Die Gründe dafür bleiben, dem Lochkameraeffekt entsprechend, dabei im Unklaren. Die Zeit fehlte....eine selbstbeschwichtigende Ausrede - hier für den nicht geschickten Brief - wie für vieles im Leben Verpasste oder der Wahl von etwas (oder jemand) Anderem zum Opfer Gefallene.

Sehr gerne gelesen und durch die Lochkamera in die Tiefe eines Moments geblickt!
LG,
fee
 

sufnus

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Hey, Ihr Lieben! :)
Vielen Dank für die Anmerkungen.
revilo, Dein Gefallenfinden an meiner Bahnhofsarchitektur freut mich sehr!
Und lieben Dank auch Dir, molly, für Deine Rückfrage.
Tatsächlich will dieses Gedicht ein "Quasi-Abstraktes" Stimmungsgemälde sein. Man kann die hier geschilderte Person vor sich sehen, wie sie am Bodensee sitzt, eine etwas nichtssagende Erscheinung im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Was für eine Geschichte diese Person mit sich herumträgt (ob es hier überhaupt eine nennenswerte Geschichte gibt) bleibt außen vor - insofern bleibt es etwas dem Leser überantwortet, hier entweder die Leerstellen mit Inhalt zu füllen oder aber, das wäre mir sogar noch lieber, einfach zu versuchen, ein Gefühl einzufangen, das von den Zeilen übermittelt wird.
Aber ich glaube fast, Fee hat das Gedicht besser verstanden als ich selbst und vielleicht verweise ich einfach auf ihre Erklärung und ihr schönes Bild vom Lochkameraportrait mit durch den Blendeneffekt reichlich unscharfen Rändern und einem dadurch "freigestellten" Zentrum.
Ich werd bestimmt auch noch an den Zeilen herumwerkeln, liebe Fee, vielen Dank bis dahin auch schonmal für Deine guten Anregungen. :) Das Iphone steht definitiv zur Disposition - bin aber insgesamt noch nicht ganz sicher, was ich mit dem ganzen Ding machen soll. :)
Eigentlich ging mirs genauso wie revilo... ich hab auch nur Bahnhof verstanden, mochte das Ganze aber irgendwie... ;)
LG!
S.
 

fee_reloaded

Mitglied
Eigentlich ging mirs genauso wie revilo... ich hab auch nur Bahnhof verstanden, mochte das Ganze aber irgendwie...
Soll also heißen, du hast das Teil aus dem Bauch heraus und ziemlich in einem Guss geschrieben, wenn ich das recht verstehe?

Ja, solche Texte kenne ich auch von mir selbst (bin allerdings im Umgang mit ihnen vorsichtiger geworden mit der Zeit).
Die finden einen irgendwie und wenn man sie sich dann von der Seele geschrieben hat (oder die Stimmung, die einen da gerade umfangen hat, für sich in Worte gefasst hat), steckt da oft viel mehr oder noch etwas anderes mit drin als man bewusst "hineingetan" oder niedergeschrieben hat.

Meist aber "er-lesen" das andere, denn man selbst hat da eine Art blinden Fleck eingebaut. Was das Unterbewusstsein einem da in die "Feder" diktiert (wir erinnern uns an die Dreifaltigkeit von Kopf-Herz-Hand!), bleibt für uns selbst auch oft weiterhin "unsichtbar", war aber etwas, das in uns gearbeitet hat (das muss nicht immer etwas total Tiefschürfendes sein übrigens...in uns arbeitet ständig etwas, weil wir auch ständig wahrnehmen und Eindrücke "sammeln" - ob wir nun wollen oder nicht).

Als jemand mit einer teilpsychologischen Schulung lese ich vielleicht auch mit besonderem Gespür für das, was sich da noch in manche Aussagen mit hineinschleicht. Letztlich wählt niemand auch nur ein Wort oder eine Formulierung zufällig oder beliebig. ;)

Schön, dass du deinem Bauchgefühl gefolgt bist und diese Zeilen daraus entstanden sind. Hab sie auch jetzt wieder gerne gelesen. ;)

LG!
fee
 

sufnus

Mitglied
Hey fee! :)
Ja, der Text ist tatsächlich per automatischem Schreibprozess entstanden, wobei ich als Ausgangspunkt so ein imaginiertes Szenario gewählt habe, das man vielleicht mit Ferientristesse bei schlechtem Wetter umschreiben könnte. Nebenbefundlich gibt es zwar sicherlich einige Übereinstimmungen zwischen Autor und dem Protagonist, mir scheint der Vogel aber deutlich grau-beiger gekleidet zu sein und von seiner Frisur möchte ich mich ausdrücklich aufs schärfste distanzieren. Auch will mir scheinen, dass sein Verhältnis zur Schweiz irgendwie anders ist als mein eigenes - ich bin bei der Schweiz gedanklich eher in den lieblicheren Landesteilen angesiedelt und lass es mir gut gehen. Tessin wär wohl mein Favorit.
Davon abgesehen, trenne ich mich jetzt vom Iphone, allerdings möchte ich den etwas sperrigen Block am Anfang gerade nicht kürzen, ich habe das Gefühl, dass man dieses etwas dysproportionierte Vorwort irgendwie braucht, damit die nieselig-graue Stimmung rüberkommt. Wahrscheinlich irre ich mich da... aber so ist das als mit diesen Autoren... oft ihr eigener größter Feind. :)
Dafür hab ich diese warme Jahreszeit etwas entschärft, das war wirklich ein bisschen zu blöd. :)
Danke & liebe Grüße!
S.
 

fee_reloaded

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Nebenbefundlich gibt es zwar sicherlich einige Übereinstimmungen zwischen Autor und dem Protagonist, mir scheint der Vogel aber deutlich grau-beiger gekleidet zu sein und von seiner Frisur möchte ich mich ausdrücklich aufs schärfste distanzieren. Auch will mir scheinen, dass sein Verhältnis zur Schweiz irgendwie anders ist als mein eigenes - ich bin bei der Schweiz gedanklich eher in den lieblicheren Landesteilen angesiedelt und lass es mir gut gehen. Tessin wär wohl mein Favorit.
ich meinte gar nicht, dass man automatisch immer nur "Eigenes" unbewusst in seine Texte packt, lieber sufnus.
So sollte man Texte definitiv nicht lesen und dann vom Inhalt auf einen Autor schließen!

Aber etwas, das einen beschäftigt - wenn auch gar nicht bewusst - findet sich da natürlich immer. Das kann "Fremdes" sein - und das, was in uns darauf als Echo entsteht, verquickt sich damit im kreativen Prozess.

Ich finde die neue Version gut - bin mir aber nicht sicher, ob besser als Version 1.
Wie geht es dir damit?

LG,
fee
 

sufnus

Mitglied
Tja... ich finde, jetzt sind zwei unnötige Irritationen (eben das Iphone und der komische Leser-Reinlege-Satz mit der warmen Jahreszeit) abgerüstet, ohne dass es deshalb insgesamt schon zu glatt gebügelt würde. Im nächsten Schritt könnte man versuchen, den Text noch etwas "grauer" einzufärben, insgesamt vielleicht auch noch etwas "meteorologischer" zu halten, um die Schweiz-Aussicht dann als etwas mehrdeutig schimmerndes Leuchten zwischen grauen Wolken ins Bild zu setzen (ich hab hier also tatsächlich ein frühimpressionistisches bis Turner-mäßiges, eher karg und trist gehaltenes See-Stück vor Augen). Hm. Bin letztlich nicht ganz sicher, ob das Setting dann tatsächlich so eine Struktur hergäbe. Vielleicht male ich bei Gelegenheit einfach nochmal ein anderes Nieselwetter-Stückchen. :)
LG!
S.
 

fee_reloaded

Mitglied
hab meinen Reisepass vergessen bei
meiner Seel da drüben ist die Schweiz
Bei der Stelle krieg ich beinah Gänsehaut. Jedes Mal beim Lesen.
Das sitzt so perfekt im Text - auch eben nach der langen "Einleitung". Man spürt, wie dieser Schlüsselgedanke oder die -erkenntnis LyrIch wieder und wieder "ereilt".

Ich denke auch, deine Turner-sche Vorstellung sollte eher in einem eigenen Gedicht zu Ehren kommen, denn ich habe die Angst, ein "Mehr" im Gedicht hier würde die Dynamik verschieben und die Schlüsselstelle ev. ein wenig untergehen lassen. Aber einen Versuch ist es sicherlich wert.
 

sufnus

Mitglied
Hey Fee,
ja - ich denke auch, der Reisepass, der bei der Seele vergessen wurde, ist die zentrale Metapher in dem Gedicht. Irgendwie geht es um ein Leben, das immer am Leben vorbei geführt wurde. Dabei ist die Formulierung ja an Nina Hagens Song über den Farbfilm angelehnt ("Du hast den Farbfilm vergessen, bei meiner Seel!"), aber hier ist das natürlich ein völlig anderer Kontext (wahrscheinlich bin ich aber über die Urlaubsassoziation unbewusst auf Ninas misslungenen Hiddensee-Ausflug gekommen). :)
Und das Turner-Seestück mach ich wohl wirklich lieber separat. Aber auch auf alle Fälle ungereimt.
Danke für Dein aktives Mitlesen!!! :)
LG!
S.
 



 
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