Briefe, Blut und Silber

Max Neumann

Mitglied
Der Briefträger.
Das Briefeaustragen im Schnee bei Minusgraden. Frost. Autohupen. Alltagsdruck.
Eichentüren. Der Hausflur. Gedämmte Lichter. Gemälde.
Schritte des Briefträgers auf kirschroten Treppenteppichen. Mahagoniholz. Gerüche einer Kolonie. Und Geländer wachsen in weißen Zapfen aus den Teppichrändern heraus. Schnee, Blut.

Der Briefträger Jones trägt eine schwarzgelbe Briefträgerjacke. Beim Hereingehen durch den Türrahmen muss er sich ducken. An Jones fällt zuerst die gigantische Nase auf, die im Gesicht als Blickfang thront, abgestimmt auf das Kaliber seines Kopfs und anziehend. Jones' Statur ist nicht minder, über zwei Meter und ein Kreuz wie ein Fußballtor. Die Haare millimeterkurz, kraus, rasiert um Nacken und Ohren herum. Hellbraune Haut.

Mit einer Hand hält Jones den Türgriff wie eine Feder, mit der anderen greift er routiniert zu einem Packen Briefumschläge, blättert flink mit Daumenspitze und Zeigefinger nach Briefen, zieht sie heraus und betritt das Haus.

Jones hat gelbe Augen, über denen Augenbrauen wie Pinselstriche ineinander fließen; die Haut weich wie Kinder; von den Schläfen perlen Sommersprossen in Sternmustern hinab. Die vollen, roten Lippen sind geöffnet. Gang und Persönlichkeit strotzen vor Kraft.

Jones bläht die Nüstern auf. Er ballt die Pranken zur Faust. Von einer Sekunde auf die andere steigt Hass auf. Er schnauft; mit zusammen gekniffenen Augen nimmt er Schmerz wahr: Entstanden aus dem Druck, den das Ballen seiner Fäuste hervorruft. Der Schmerz wird größer, da spannt Jones fester an. Als der Schmerz wächst, steigert das die Kraft von Jones. Haut wird platzen, denkt Jones. Ein unweigerliches Lachen, das Jones unterdrückt: Er befindet sich in einem fremden Haus und will nicht auffallen. Seine Aufgabe ist das Zustellen von Briefen.

Eine azurblaue Perle tropft hinab. Mit befremdeter Verwunderung nimmt Jones sie wahr. Die Perle, denkt Jones, fließt aus einem gemolkenen Kristall. Kristall ist in der Luft aus Himmel und Meer geworden. Zwar sind Jones' Fäuste noch geballt, doch entspannter und mit weniger Druck.
Himmelsperlen machen das Leben auf der Welt erträglich, murmelt Jones. Aus dem Leuchtkristall heraus wachsen Fäden aus Licht, um die glitzernde Funken stauben...

Jones denkt, er hätte die Augen verschlossen, obwohl sie weit geöffnet sind. In fahlem Silber strahlen sie. Jones ist sicher, die Hände entspannt zu halten – in Wahrheit ist Druck in ihnen. Um Jones' Fingerknöchel herum reißt die Haut auf. Blutspuren. Ich muss, denkt Jones, mehr Power in die Pennerhände geben. Die hängen mir schlaff wie Opaschwänze vom Arm. Neunzehn bin ich und wie ein Gigant gebaut. Frau, die mich aufnahm, ruft täglich an. Süchtig, schließt Jones mit verächtlichem Grinsen.

Unerwartet reißt es Jones aus seinen Überlegungen. Es ist die Stimme eines älteren Mannes, in angenehmem Hochdeutsch.
Herr Jones, heute bringen Sie Heerscharen an Briefen.
Reflexartig fällt der Blick von Jones auf den Stapel in seiner Hand. In der Tat ist es mindestens ein Dutzend. Als Empfängername ist Friedmann angegeben.
Ja, 'ne ganze Menge, antwortet Jones. Sofort befällt Misstrauen darüber ihn, woher Friedmann von der Anzahl der Briefe weiß. Natürlich hätte er damit rechnen können, zum Beispiel, weil es angekündigt wurde, oder weil Friedmann etwas tut, das Jones als Junge unentwegt tat: Briefe an sich selbst zu schreiben, zu verschicken, zu lesen und zu beantworten. Das würde keine Gefahr für Jones bedeuten. Zumindest keine erkennbare.

Vorsicht ist bei etwas anderem geboten und dieses Andere scheint im Augenblick als das Schlüssigste.
Friedmann muss jemanden kennen, der im Briefsortierzentrum arbeitet. Von dort aus wird Friedmann täglich informiert, wie viel Post Jones für ihn aussortiert hat, um welche Art von Sendungen es sich handelt und wann Jones – berechnet am Verhältnis der Briefmenge zur Zustellroute – die Post bei Friedmann abgeben wird. Dieser Jemand ist in Kenntnis über jeden einzelnen Arbeitstag von Jones.

Herr Jones. Sind Sie da? Friedmann spricht wie ein aus langer Meditation Aufgetauchter. Ganz und gar bei sich.
Friedmanns Hände erscheinen altersfrei und makellos gepflegt. Friedmanns Haut glänzt, die Fingernägel schimmern bernsteinfarben. Friedmanns Haare sind schneeweiß, treiben durch die Luft wie Algen unter Wasser.
Ich habe Post, sagt Jones mit fester Stimme. Er klingt selbstsicher, wie Minister und Polizeichef zugleich. Der Gesichtsausdruck verspielt smart, bubenhaft, denn Jones wird – Hallelujah – den Teufel tun. Um nichts in der Welt wird er sich anmerken lassen, längst die Intrige gewittert zu haben. Er spielt das Spiel mit. Er ist nichts weiter als ein junger Afrodeutscher, Jobber in urbanem Ballungsraum, Scheidungskind, ein Jemand im Sport, der Musik und bei den Frauen, ein Niemand in Behörden oder dem Bundestag.

Am Ende des Tages ist einzig Verlass auf die innere Stimme, Jones. Sie beobachten Dich. Sie sind Dir nicht erst seit gestern auf den Versen und Du bist Dir dessen – Hallelujah – mehr als bewusst: Aber heb' nicht ab, O Bruder. Hochmut wird den Fall ankündigen, Umsicht ist Dir Gefährtin. Vergiss niemals: Auf Schritt und Tritt folgen sie Dir, beobachten Dich. Längst sind Wanzen in Deiner Briefträgerausstattung, Kameras in Deinem Wohngebiet installiert. Aber auch das wird Dich nicht abhalten, Sie zu schlagen und zu zerstören. Dazu musst Du mitspielen.

Friedmann setzt eine Brille auf. Er sieht Jones wohlwollend an. Herr Jones, bringen Sie mir bitte die Post an die Schwelle. Nicht, Sie sind doch ein sportlicher Bursche.
Friedmann trägt einen olivgrünen Cardigan, drunter ein grellweißes Hemd mit tomatenroten Streifen; eine beigebraune Hose aus Kaschmir; olivgrüne, absatzlose Herrenschuhe mit gummierten Sohlen zum Dämpfen von Schrittgeräuschen. In einer geöffneten Flügeltür steht Friedmann, über dem Kopf ein Kronleuchter.

Ich komme! entgegnet Jones zuversichtlich. Harte Arbeit ist es für Jones, ein Gesicht ohne Angst und Schuld aufzusetzen, denn um Friedmanns Körper zischen Zungen aus Schlangen und Feuersbrünsten aus dem Innern der Wohnung heraus. Leuchtfeuer umspielen ihn wie Vorboten des Jüngsten Gerichts. Die Tatsache, dass die Flammen Friedmann nichts anhaben, macht Jones vorsichtig. Es ist wesentlich, sachlich zu bleiben.

Links von Friedmann eröffnet eine Ahnengalerie aus Ölgemälden einen Gang, dessen Ende das bloße Auge vom Hausflur aus nicht erkennen kann. Zur rechten ein eisgraues Haustelefon mit Hörer und Kabel, auf einem Tisch aus Teakholz, Elfenbeineinfassungen laufen wie Adern hindurch.

Also, ich hab' einen Packen Briefe für Friedmann, skandiert Jones. Er bemerkt, gebrüllt zu haben, doch thematisiert es nicht, sondern erwartet eine Reaktion von Friedmann. Er ist auf sein Gehör zu vertrauen, gezwungen, denn Friedmann ist nicht erkennbar in den Fluten des Lichts.

* * *

Das höchste Hochhaus einer Sozialbausiedlung mit siebendunddreißig Etagen. Von hier oben hat es eine Aussicht, klare Wetterverhältnisse vorausgesetzt, bis ins nächste Bundesland. Vor der Jahrtausendwende unwirtlich, Außenfassaden voller Risse und Löcher. Die von Wutbürgern aus ihren Wohnungen geschleuderten Müllsäcke gaben jedem Nachbarn mit Gehaltserhöhung die Klinke in die Hand. Bis Alkoholiker, ihre gewalttätigen Kinder, ausländische Studenten, Strenggläubige und blondierte Schwanzsüchtige in roten Miniröcken durch den Schnee schlenderten, auf den Lippen Lieder eines leichten Lebens.

Aber es sollte bergauf gehen. Ein findiges Team aus Stadtteilgestaltern, Tourismusmanagern und Sozialarbeitern kam jeden Samstag im Besprechungsraum des Bezirksrathauses zusammen, um das Stadtviertel neu zu gestalten.
Aus dem Gossenjungen wurde ein redlicher Arbeiter, sauber und an Sonntagen ansehnlich bekleidet, Fortschrittsmitglied, aus der Galaxie der Scheiternden auf den Pfad der Zielstrebigen.

Abgebröckelten Putz überklebte man mit orangenen und grünen Stahlfortsätzen; Balkone wuchsen ums dreifache der Ursprungsgröße heran, vergilbte Plastiklamellen durch Milchglasscheiben ersetzt. Die Müllsäcke vor den Häusern verschwanden, nachdem die Anwohner durch einen Schaukasten imTreppenhaus aufgeklärt wurden: Soziales Auskommen ist etwas Gutes. Ein sauberer Rasen noch besser. Tragen Sie jetzt zu wohnlicher Nachbarschaft bei. Seien Sie wer!

In diesem Viertel erlebt und verbringt Jones die ersten und letzten neunzehn Jahre seines Lebens. Er ist einer der Anwohner, die ins Scheußliche geboren und mit dem Löffel der Besserungsversuche aufgezogen werden.
Jones' Vater ist in der Nacht seiner Geburt aus dem Krankenhaus geschlichen und wurde nie wieder gesehen. Ein stämmiger Mann, der als drittklassiger Wrestler durch die Lande zog.
Die Mutter von Jones arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität, wo sie seit siebzehn Jahren an ihrer Doktorarbeit schreibt. Fragt man sie nach der Fertigstellung, entgegnet sie angewöhnt: Die letzte Fassung ist in der Endphase.

Und wenn das Viertel sich im Hinblick auf seine Heimeligkeit mittlerweile mit einigen Stadtgebieten messen kann, bleibt Vergangenes zurück. Von den Anwohnern wird darüber nicht gesprochen, wie von Juden über ihre Religionszugehörigkeit. Es ist nichts, das jemand in Wörtern aussprechen oder als Bild ausdrücken kann. Dieses Etwas ist immer in den Anwohnern. Jones trägt es in sich. Es ist in sein Blut verwachsen.

Früher Abend. Jones hat den halben Tag mit Briefzustellung verbracht. Nach der Arbeit ist er hungrig. Zielstrebig marschiert er vom Briefsortierzentrum zu seinem Lieblingsimbiss. Dort steht ein Flachbildschirm, auf dem unentwegt eine amerikanische Sitcom läuft.

Beim Hereinkommen grüßt Jones den Besitzer, Günes, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. Im Mund hat Jones einen Zahnstocher, die Briefträgerjacke umgekrempelt zwischen den Händen, damit sein neuer Pullover, in neongelb und von Lacoste, ins Auge springt.
Nach der Begrüßung sieht Jones unmittelbar zum Flachbildschirm hinauf. Es läuft die Serie. Sonnenaufgang im Gesicht des Briefträgers. Ohne Günes anzusehen, murmelt er: Wie immer, pfeffert die Arbeitsjacke auf die Sitzbank, dreht den Zahnstocher im Mund herum. Versinkt in die Sit-Com.
Tamam, brummt Günes und öffnet einen Sack mit Pommes Frites, schaufelt einige Kellen heraus und schmeißt sie in die Friteuse. Sofort zischt und brutzelt das Fett. Wie Schreie.
Mutter gut? ruft Günes gegen das Fett an.
Ah, antwortet Jones mit offenem Mund, aus dem der Zahnstocher herausragt.
Sie lang' geseh'n nicht, fügt Günes hinzu.
Mutter arbeiten, antwortet Jones. Geht morgens Büro, kommt spätnachts.
Mutter arbeiten immer noch in Schule? hakt Günes nach.
Jep, entgegnet Jones.
Günes lacht verärgert. Kenne Lehrer, der viel schimpfen. Nur Probleme mit Scheißjugendliche.
Scheißerwachsene, entgegnet Jones unaufgeregt.
Auf Schulhof, ergänzt Günes, mit Messer Geld gestohlen. Cousin von Abi erpresst. Araber kriminell. Kein Allah.
So ist das Leben, ne. Manche woll'n sterben, bevor se aufwachen.
Was sagen? erkundigt sich Günes. Ich Pommes wendet. Kein gehört.
Nix, nix, ruft Jones.
Tamam, tamam. Ich beeile, Abi! ruft Günes.
Jones lacht. Hab' nicht „fix“ gesagt, Abi. Sondern: Nix.
Aah! Günes merkt auf. Ich dachte. Denn Du guter Mensch. Keine Menschentreiber sein. Günes berührt Jones an der Schulter und gibt ihm einen väterlichen Klaps, serviert eine Salatschale voll Pommes Frites, mehrere Kilogramm.
Jones greift zu einer Ketchuptube, dann Mayo, verspritzt es wie den Samenerguss eines schwarzen Hengstes auf den Kartoffelstreifen. Dann rammt er eine Gabel hinein und vermischt alles.
You bet, Abi. You bet, Menschentreiber sind hinüber. Nur Angsthasen scheuchen.
Günes schaut aus dem Fenster hinaus und nickt. Draußen dämmert es allmählich, silberne Laternenstrahlen zerschneiden den Straßenboden und spiegeln die Fensterscheibe der Imbissbude.
Aber jetzt hau rein. Du große Junge. Musst Du essen.
Mit vollem Mund schmatzt Jones ein Danke heraus.

* * *

Drei Minuten später ist ein glänzender Überzug aus Fett in der Schale zurück geblieben. Gut gelaunt rülpst Jones, legt den Zahnstocher in die Schale, holt aus einer roten Schachtel einen unbenutzten, um die Zähne zu säubern.
Gut? Günes schaut Jones während der Frage nicht an, vielleicht, weil Jones der amerikanischen Serie seine Aufmerksamkeit widmet. Möglicherweise hat Günes das Rülpsen vernommen und es als Signal verinnerlicht, dass Jones fertig sei.

Bombastisch, sinniert Jones. Du bist wie'n Engel, Günes. Weißt genau, wie Pommes schmecken müssen.
Du auch Engel sein, Jones. Günes schmunzelt pausbäckig. Wenn Pommes, dann immer € 28,00 alleine essen.

Jones verliert die Aufmerksamkeit für Günes, denn in der Serie geschieht ein Ereignis, mit dem Jones in der Form nicht gerechnet hatte, dem er mit gleich bleibendem Ausdruck folgt: Aufmerksamkeit, Anteilnahme und, meist synchron zu den eingespielten Lachern, erzwungenes Amüsiert-Sein. Dahinter verbirgt sich noch etwas anderes. Es liegt hinter dem Interesse für die Serie. Etwas, das Fernsehen nicht liefert, treibt Jones um.

Vor dem inneren Auge taucht ein Raum auf, nicht größer als eine kleine Umkleidekabine. Die Wände des Raumes weitgehend mit Sprühdose und Eddingen beschrieben; keine Einrichtung; an der Decke eine rechteckige Lampe, umgittert, unter ihr ein Schild, auf dem „Etage 37“ steht. Der Raum verfügt nicht über Fenster.

Jones verbindet mit dem Raum etwas. Das ist etwas, bei dem er keine Form, keinen Beginn und kein Ende ausmachen kann. Dies Etwas ist in Worten nicht zu erfassen, doch es ist fester Teil seiner Persönlichkeit, ihm zugehörig. Wie ein Teil seines Körpers.

Günes, brummt Jones. Er klingt wie ein Urmensch.
Abi? Günes faltet einen Lappen zusammen.
Ich glaube, heute Abend gehe ich nicht gleich nach Hause. Will was andres machen.
Günes hält inne. Du willst gehen zu Frau. Günes grinst. O Du viele Frauen kannst. Glück haben!
Jones schüttelt den Kopf. Das ist es nicht, Günes.
In dem Augenblick klingelt Günes' Handy. Efendim?
Jones beobachtet Günes, während der auf Türkisch das Telefonat führt. Er achtet darauf, wie Günes' Lippen sich bewegen und wie seine Augen schauen. Unweigerlich entsteht ein Gedanke daran, wie sein Vater wohl die Lippen bewegen mag. Wie er spricht und was er ausstrahlt.

Jones wischt den Gedanken wie ein Bild von einem Smartphone-Display fort. Er verdrängt Gefühle, die in solchen Augenblicken aufkommen, klopft auf den Bauch, wirft einen Geldschein auf die Theke und verabschiedet sich von Günes. Der nickt, finster. In seinen Augen tiefe Kälte, um die ein Schatten aus Missgunst und Hass flattert.

Jones wird den Teufel tun. Er wird Günes nicht nach Gründen für seinen Stimmungswandel fragen. Hassenden begegnet man mit Güte. Aus diesem Grund sieht Jones lieb und zugeneigt aus. Er berührt Günes' auf die Theke gelehnten Unterarm, klopft brüderlich drauf. (Aber es fühlt sich wie umgekehrt an: Günes könnte Jones als Zeichen der Zuneigung halten, nachdem Jones die Verwandlung zum Distanzierten durchlebte.)

Jones schaut das Krokodil auf seinem Pullover in Neongelb an, öffnet die Tür und steigt auf die Straße, in den knöchelhohen Schnee. Pausbäckige Schneeflocken rauschen auf das Viertel herab, von scharfen Winden getrieben: Sie zerschneiden Kanten und Ecken aller Gebäude mit schrillem Pfeifen, denn, das weiß Jones, werden sie bis zum Anbeginn der Nacht alles Leben auslöschen.

Der bullige Jones läuft gegen den Sturm an. Den Zahnstocher wie eine Lebensversicherung im Mund. Wieder übermannt ihn Hass. Hass auf Schnee und Sturm. Jones brüllt: Ist das alles, Pfotze?! Ich bin es: J-O-N-E-S. Schon vergessen. Hähähä. Feel me?! Wenn Du fühlen kannst, besiege mich. Wer gegen Jones unterliegt, wird Halbgott. Sturm ist das. Öhm: Hauch in Puppenhaus. Du kannst mich nicht besiegen!

* * *

Jones hat siebendunddreißig Stockwerke zu Fuß erklommen. Ohne den Anschein von Erschöpfung steht er im Eingang zu einem kleinen Raum. Der Raum so groß wie eine Umkleidekabine, an den Wänden kurze Ausrufesätze und Wörter, z.B. „Perli, ich liebe Dich! Spring nicht!“ oder „armin bleibt stark“ bis „Besinne Dich, Jonas. Mum wird immer für dich da sein. Ich lass' dich nicht aus den Augen. Wir sind eins.“

Über der Tür eine Lampe, drunter ein Schild mit der Aufschrift „Etage 37“. Und gegenüber des Eingangs steht ein Mann an der Stelle des fensterlosen Rahmens. Seine Hand fährt über die Befestigungspunkte eines frisch an die Wand geschweißten Gitters. In der Luft der Geruch erhitzten Stahls und Mauergebröckel.

Mit der Anwesenheit eines anderen Menschen hätte Jones im Selbstmörderraum nicht gerechnet. Im Mindesten ist er überrascht. Mit zwillingshafter Verblüffung sieht der Mann Jones an. Seine Hand verbleibt am Gitter. Der Mann trägt einen grauen Funktionsanorak, unter ihm ein grünes Hemd, Gilbschicht an der Kragenseite zwischen Hals und Baumwoll-Polyester-Stoff. Dunkelblaue Krawatte fließt in dürren Streifchen den zugeschnürten Hals hinab.

Sein Gesichtsausdruck ist der eines Zeitungslesers im Warteraum: Einerseits konzentriert auf das, mit dem er befasst ist, gleichzeitig abgelenkt von der Wartezeit. Und über seine Stirn verläuft eine breite Sorgenfalte, grade und vom Druck des Lebens in die Haut eingraviert; unter den Augen fallen Tränensäcke in die Schlucht gelber Mundwinkel; aus seinen Augen strahlt hellblaues Wachsein. Die dunkelgraue Stoffhose fällt, ungenau geschnitten, auf glänzende Herrenschuhe: Sie spiegeln die Gitterstäbe in silbernem Funkeln wider.

Guten Tag, sagt er mit fester und klarer Stimme. Er muss zu Jones in die Höhe aufsehen.
Guten Tag, wiederholt Jones. Aber seine Stimme klingt härter und entschlossener. Der Mann zuckt zusammen.
Jones bemerkt das Zucken. Alles gut? will er wissen.
Es scheint so, antwortet der Mann. Ich habe nicht mit Menschen hier oben gerechnet. Wind pfeift durchs Gitter.
Jones schaut neugierig das Gitter an. Kommt drauf an. Zumindest zieht es Selbstmörder hier hoch.
Der Mann antwortet nicht. Er erwidert Jones' Behauptung mit ergründendem Blick.

Was ist los? fragt Jones.
Das könnte ich Sie fragen.
Jones fühlt sich von der Antwort des Mannes überrumpelt. Mit dem Gitter zerstörst Du etwas, gibt er zu bedenken. Für wen tust Du das? Eine Schneewehe fließt durch die Gitterstäbe: Ins Gesicht des Mannes, dem der Schnee offenbar nichts ausmacht; vielmehr verleitet Jones' Frage ihn zu einem Schmunzeln.
Meinen Sie das ernst?
You bet, grummelt Jones. Er hebt die Hand in die Luft, die Etagenlampe wirft Schatten an die Wand. Wie eine ausgestreckte Kralle stechen die Fingerspitzen zum Angriff. Ich will wissen, wer Dich hierher geschickt hat. Das, was Du tust, zu vollbringen.
Der Mann sieht Jones verdutzt an. Schweiß glänzt auf seiner Stirn. Ist gut, ist gut, versucht der Mann zu beschwichtigen. Ich gehöre zu den Guten. Ich bin Angestellter einer Versicherung. Um genauer zu sein: Lebensversicherer. Mein Name ist Wutz. Er streckt Jones die Hand entgegen.
Beantworte meine Frage, setzt Jones in gelassenem Befehlston nach. Er nimmt den Händedruck nicht an.
Ich – ähm – wir – sind mit der Gebäudesicherung im Rahmen einer Stadtteilinnovierungsmaßnahme beauftragt.
Du sprichst in Codes. Drück Dich klarer aus. Jones kommt näher auf Wutz zu. Ohne Bedrohlichkeit ausstrahlen zu wollen, blickt er Wutz wie Beute an. Und seine Zähne, die gefletscht sind, blitzen wie Samuraischwerter auf.
Ich bi-bin. Ich bi-bi-bi-bin. Wutz versackt in Stottern.
Sei ein Mann, ermahnt Jones ihn trocken, Zeig Haltung.
Ein Ma-ma-ma-ma.
Unweigerlich muss Jones grinsen. Die Situation findet er amüsant. Lippen und Mundwinkel von Jones strahlen Unbefangenheit aus. Aus seinen Augen aber strahlt Kühle. Es ist gut, fügt Jones in abgeklärter Tonart an, eine Situation wie diese ganz ruhig zu klären. Das heißt: Du wirst jetzt die Augen schließen Wutz.
Wutz reißt die Augen auf.
Nein. Ich habe gesagt: Schließen. Schließ Deine Augen. Sonst wirst Du sterben. Jones tritt wieder einen Schritt vor. Er ist näher an ihn heran geraten als je zuvor.

Wutz schaut Jones an wie einer, der zwischen Galgen und Giftbecher zu wählen verflucht ist. Prüfend und ergründend sucht er Jones' Blick ab, Weilen lang. Jones steht wie ein Baum vor ihm. Unbeweglich, aber trotzdem in Bereitschaft zu töten wie ein Krokodil.
Komm schon, Wutz. Sei keiner von der Sorte. Du musst die Augen schließen; du musst Deine Angst überwinden. Spring über Deinen Schatten.
Mit zögerlicher Skepsis sieht Wutz Jones an. Zuerst verschließt er schnurstracks die Augen, dich öffnet sie gleich wieder. Beim zweiten Mal hält er sie länger geschlossen, doch lugt zwischen den Augenlidern hervor.
Schummeln gilt nicht. Ich sehe das. Jones klingt ernsthaft und witzelnd zugleich, was ihm Unberechenbarkeit verleiht.

Ich sage, Dir Bruder, flüstert Jones nun und geht so nahe an das Ohr von Wutz heran, dass Wutz seinen Atem riechen kann; und Jones erkennt, wie durch die Aufregung die Halschlagader von Wutz anschwillt und so schnell pocht wie das Herz einer Vierzehnjährigen, die tagtäglich verbrennt beim unverdrängbaren Gedanken daran, einen Schwanz zu lutschen und anschließend gefickt zu werden.

Wutz hält die Augen fest verschlossen; Jones haucht in sein Ohr hinein. Glaubst du, Wutz? fragt er.
Glaube ich was, Mann? Schweiß läuft seine Stirn herunter, bevor er bis zum Kinn läuft, wird die Kälte ihn wie ein Fön ausgetrocknet haben.
Ob – Du – GLAUBST. Das will ich wissen. Ob Du ein Frommer bist.
Ich-chi-ch. Geh. An Weihnachten gehen wi-wir zur Kirche.
Oh. Jones merkt auf. Er legt seine Hand wie einen Gesteinsbrocken auf Wutz' Schulter. Daumen und Zeigefinger umgreifen Wutz' Hals.
Vor oder nach der Bescherung?
Vor oder nach? Verdammt, Mann. Wutz schluchzt. Was sollen diese Fragen. Das ist krank! Tränen schießen unter den geschlossenen Augen hervor.
O weine. Weine es heraus, predigt Jones und drückt fester gegen die Augenlider.
Wutz macht Anstalten, die Augen zu öffnen. Umgehend legt Jones die freie Hand auf das Gesicht, dass Daumen und Zeigefinger jeweils eines von Wutz Augenlidern zudrücken.
Augen öffnen ist gegen die Regeln. Du vertraust mir doch, nicht?
Ähhmh, ähhmh. Ja.
Das dachte ich mir. Du bist ein guter Wutz. Ein Versicherungswutz. Formularwutz. Gitterwutz. Wutz der Woche. Ich mag Dich, Wutz. Und ich begrüße Deinen Mut. Aber wir wechseln das Thema. Ich habe gefragt: Glaubst Du an Gott?
Ich glaube schon, ja.
Du glaubst, dass Du glaubst?
Genau.

Oder glaubst Du, etwas zu glauben?
Wutz kriegt sich wieder etwas ein. Die Tränenspuren verlaufen getrocknet über sein Gesicht.
Jones schnalzt mit der Zunge. Halb so wild. Verstehen die wenigsten. Wann hast du zuletzt gebetet?
Wutz scheint unschlüsssig. Ich müsste da lange nachdenken. Um antworten zu können.
Jones verzieht locker die Lippen. Gut. Aber Du hast nur sieben Minuten, Wutz.
Was?
Du hast mich verstanden. Ich verlange eine Antwort auf meine Frage. In sieben Minuten. Wenn nicht – so wahr mir Gott helfe O – werde ich mit den bloßen Händen Dir Dein Leben nehmen.
Nein! brüllt Wutz unvermittelt los. Überall zuckt sein Körper. Jones benötigt kaum Kraft, um Wutz wie einen Spielzeugteddy unter Kontrolle zu bringen: Mit der rechten Hand drückt er ihn fest auf den Boden und gleichzeitig den Hals zu; die linke ist in die Augenlider gepresst.
Wenn Du kämpfst, wirst Du verlieren. Überleg Dir das, gibt Jones zu bedenken.
Anstelle einer Antwort zappelt Wutz im Griff des Neunzehnjährigen, chancenlos zur Wehr. Jones sieht Wutz aufmerksam zu, wie ein Forscher, der einen seltenen Vogel beobachtet. Seiner Chancenlosigkeit zum Trotz wird Wutz der Befreiungversuche nicht müde, strampelt, zappelt, wie ein Hahn vor der Schlachtbank, wildes Flügelschlagen, Panikflattern...

Jones hat die Faxen dicke. Er packt Wutz am Kragen und versetzt ihm einen gezielten Schlag auf die Nase. Sofort kracht das Nasenbein auseinander und Blut spritzt in einer Fontäne heraus. Jones springt zurück, denn er trägt gehobene Kleidung. Mit einem Röcheln geht Wutz zu Boden, fällt auf die Knie. Reflexartig hält er die Hände vor das Nasenbein und starrt Jones mit ehrfürchtig aufgerissenen Augen an.
Jones ist hoch interessiert an dem Anblick. Denn es ist nicht nur ein Anblick. Vordergründig bangt ein Mann, der morgens aufstand und einem gewöhnlichen Arbeitstag entgegen gähnte, mit dem Leben. Ist was dran; es ist die halbe Wahrheit. Denn es geht um mehr. Das ist Jones klar. Todeskampf ist bloß Vehikel zum Erlangen von Erkenntnis.
Wutz röchelt. Durch die Gegenwehr sind Atem und Puls in die Höhe geschnellt, was Jones, Hand an Halsschlagader, befühlt. Mit Nachsicht und Zugewandheit sieht er Wutz an. Den folgenden Satz wird Jones im Tonfall eines Feinfühligen aussprechen: Hast Du Deine Angst bewältigt, Bruder?

Wutz antwortet nicht. Jones steigt in sein Schweigen ein und spiegelt Wutz. Gleichwohl wahrt er die Kontrolle über die Situation und drückt mit dem Griff gegen den Körper. Nach einer Weile tastet Jones nach der Halsschlagader des Lebensversicherers und erfühlt im Pulsschlag eines Regelmäßigkeit. Ein Lächeln breitet sich über seine Wangen. Du bist wieder wohlauf, Bruder. Jones seufzt. Ich traue Dir zu, weiterzumachen. Aus diesem Grund wiederhole ich meine Frage. (Achte auf die Zeit: Es sind dreieinhalb Minuten vorüber.)
Wutz zeigt keine Regung. Er steht ruhig da, nicht ergeben oder wie ein Aufgebender. Vielmehr mit der demonstrativen Entschlossenheit des stummen Protestierenden.

Also, Wutz. Ich traue Dir zu, fortzusetzen. Wir waren bei der Frage nach dem Kirchenbesuch. Du behauptest, an Weihnachten in die Kirche zu gehen.
Eine Regung durchfließt Wutz. Er entgegnet: Ich erinnere mich an die Frage; und an die Unvollständigkeit meiner Antwort. Sie war Konsequenz meiner Angst vor dem Tod.
Fürchtest Du den Tod? fragt Jones mit streng hochgezogenen Augenbrauen. So hätte ich Dich – Hand aufs Herz – nicht eingeschätzt. Glaube O: Schon auf dem Treppengang in den Selbstmöderraum erahnte ich, auf einen Furchtlosen zu treffen.
Das ist Geschwätz aus dem Mittelalter! flucht Wutz.
Jones lächelt ihn anerkennend an. Hast doch Mumm in den Knochen. Hmmh. Mittelalter: Warum nicht? Aber kommen wir zurück: Warum war Deine Antwort unvollständig?
Ganz einfach. Weil ich die Kirche nicht brauche. Gott ist fern von ihr. Er ist in Bäckerläden und Gardinen. In Kinderaugen und glitzerndem Morgentau. Im Gitter, das ich angebracht habe.

Jones ist mit der Antwort nicht zufrieden. Du sprichst Volkswissen nach, Wutz. Ein jeder hat schon die Floskel von „Gott-ist-in-allem“ herbei zitiert. Um ehrlich zu sein, wird diese Floskel von jedem gebraucht. Möchtegernintelligente erzählen von ihr in Fremdwörtern oder der Sprache eines Gedichts; Handwerker mit der wütenden Eitelkeit, Bildung zu verabscheuen; und jene wie Du wählen das Dazwischenliegende. Aber alle sagt ihr dasselbe. Jones sieht auf die Uhr. Einssiebenunddreißig, O. Es sind siebenundneunzig Sekunden. Diese Zeit bleibt Dir. Anschließend Ewigkeit oder Lebensversicherungen.

Wutz verzieht keine Miene. Sekunden lässt er verstreichen, unbewegt. Indessen ist Sonne hinter den Wolken hervor getreten. Die Gitterstäbe brechen ihr Licht zu Lamellen aus Strahlen und Schatten. Licht liegt auf den Lippen von Wutz und nun, da es windstill und leise ist, kann Jones hören, wie Wutz rückwärts die Zeit herunter zählt: Einundneunnzig, neunzig, neunundachtzig...

Jones zeigt sich nicht überrascht. Er betrachtet Wutz beim Zählen und gibt sich keine die Mühe, ihn von etwas überzeugen zu wollen, das Wutz bereits entdeckt hatte.
Dreiundsiebzig, zweiundsiebzig...

Da piepst Jones' Smartphone. Er nimmt es in die Hand, eine Nachrichten-App leuchtet auf. Jones verlagert den Druck seiner rechten Hand auf die Augen von Wutz, mit der Partie von Mittel- bis kleinem Finger übt er gleichbleibenden Druck auf Wutz' Schläfen aus. Da er die andre Hand zum Lesen der Nachricht braucht, muss er Wutz umso eher in Schach halten.

Wachsam bleibt Jones. Er lässt Wutz nicht aus den Augen und wartet ab. Der zählt: Sechsundfünfzig, fünfundfünzig, vierundfünfzig –
Jones wischt mit der Hand übers Smartphone, ohne es anzusehen. Erst als Jones sich wirklich sicher glaubt, senkt er den Kopf und liest.

Lieber Jones. Mama schreibt. Zuhause auf dem Herd steht Chilli Con Carne, im großen Topf wie Du's magst. Das Fleisch dampft in Silberwolken. Alles echt lecker, aber unser rotes Chilli hat die Luft in der Küche verbrannt. Deswegen ging Mama zum Schreiben heraus, auf den Balkon. Es ist eiskalt, Jones. Seit es nicht mehr schneit, sieht Mama alles. Das ganze Viertel. Letztes Jahr war's grau und heruntergekommen. Diesen Winter strahlen die Balkone in grün, gelb und rot. (In den Farben des Mutterlandes. Der erste Mensch.) Ich wünschte, Du würdest zu mir kommen, in unsere Wohnung. Du fehlst hier.
In Liebe. Mama.

Dreiunddreißig, zweiund –
Schweig! Jones schreit Wutz an. Halt den Mund.
Du hältst meinen Mund, zischt Wutz voller Verachtung. Neunzehn, achtzehn, siebzehn, sechzehn, fünfzehn

(–)

Wutz hört nicht zu zählen auf; Jones drückt mit immer mehr Gewalt die Fingerspitzen in die Augäpfel von Wutz herein.
Zwölf, el

Jones zerdrückt die Augen des Lebensversicherers. Seine Fingerspitzen schiebt er immer tiefer den Kopf hinein, bis die Augen wie Seifenblasen zerplatzen, weiß-braunes Blut in breiten Spuren an den Wangen herab sickert. Jones fühlt, Fleisch durchstoßen zu haben, als seine Fingerspitzen gegen das Ende der Augenhöhlen stoßen, dort, wo Skelett ist.
Sechs, fünf
Was bist Du? brüllt Jones verzweifelt.
Vier
Du kannst das nicht alles aushalten, ohne aufzugeben. Du musst scheitern, Wutz. D-U bist das Opfer!
Drei
Ich habe Dich unter meiner Gewalt, es wird Dir nichts gegen mich gelingen. Du musst sterben.
Zwei
Aus Deinen Augenhöhlen presse ich Tröpfchen aus; längst sind Deine Augen zerflossen. Fleischsplitter liegen auf dem silberglatten Boden des Selbstmörderraums. Sie funkeln. Ein Anblick grandiosen Zaubers.
Eins

Hurensohn! Keine Angst habe ich vor Dir. Hörst Du! Jones hustet kränklich auf. Er zieht Rotz hoch, schnauft und spuckt aus. Ein Schauspieler bist Du, Wutz. Du willst nicht mehr sprechen – fein. Deinem Schicksal Dich fügen – suit yourself. Es ist nicht mein Ende: Dein Ende ist gekommen.

Durch Jones' Füße geht ein Druck, vergleichbar mit jemandem, der von einer Anhöhe heruntergesprungen und auf den Fußsohlen aufgekommen ist. Erstaunt sieht er Wutz an, der gerade die Gitterstäbe befühlt hat und zu Jones aufsieht.
Guten Tag, begrüßt Jones ihn.
Guten Abend. Kann ich Ihnen behilflich sein? Wutz klopft die Schweißnähte von Gitter und Wand ab, indem er die Zeigefingerspitze rhythmisch gegen den Stahl trommelt, vielleicht mit einer Melodie. Gespitzte Zunge, konzentrierter Blick.
Jones ist verunsichert. Er weiß nicht, was er entgegnen soll.
Wutz trägt roten Funktionsanorak, unter ihm ein weißes Hemd, Gilbschicht an der Kragenseite zwischen Hals und Baumwoll-Polyester-Stoff. Silberne Krawatte fließt in dürren Streifchen den zugeschnürten Hals hinab. Aus den Augen strahlt Wachsein. Rote Stoffhose fällt auf kostspielige Schuhe.

Wutz setzt die Überprüfung fort, bis zum Ende der Gitterreihe, wo der Winkel des Fensterrahmens liegt. Er sieht auf, mustert Jones eine Weile und fragt: Haben wir uns schon mal gesehen?
Beißender Wind weht durchs Gitter. Jones nickt mit dem Kopf, zieht den linken Mundwinkel an. Nein.
Wutz lächelt höflich. Ach, Sie haben sicher Recht. Trotzdem kommen Sie mir bekannt vor. Er setzt anschließend fort mit seiner Arbeit.

Sichern Sie den Selbstmörderraum vor Selbstmördern ab?
Ich bin von der Wohnungsbausgesellschaft mit einer Minimierung der Suizidquote im Nelkenviertel beauftragt worden.
Jones macht ein unzufriedenes Gesicht. Ich finde nicht, das ist nötig.
Jeder hat eine Meinung in der Welt, erwidert Wutz und entnimmt aus einem am Gürtel befestigten Halfter eine silbern glänzende Taschenlampe. Als er den Anschalter drückt, fließt Licht in einem Kegel aus ihr heraus. Wutz leuchtet gegen den Unterteil des Gitters, zur ersten Schweißnaht.
Prüfen Sie das Ganze nun genauer, Wutz?
Woher kennen Sie meinen Namen?
Jones weist auf eine Visitenkarte, die Wutz beim Herausnehmen der Taschenlampe auf den Boden gefallen war. Frank Wutz. Das ist Ihr Name, nicht?
Stimmt.
Ich glaube, Sie nehmen dem Stadtteil ein Stück seiner Identität – denn der Selbstmörderraum gehört hier hin wie Mond in Himmel. Das Gitter ist nicht gut.
Ich akzeptiere Ihren Standpunkt, Jones. Eingehen werde ich nicht darauf. Denn am Himmel steht auch Sonne.
Denk' drüber nach, knurrt Jones. Wutz schaut ihn ohne Furcht an. Im Gegenteil flackert in seinen Augen etwas auf, vor dem Jones zurück schreckt. Es ist etwas in Wutz' Blick, das Mörder ausstrahlen. Menschen, die Grenzen übertreten haben. Aber da Jones genauer hinsieht, sieht Wutz wieder unscheinbar aus, eine entschuldigende Geste aufs Gesicht geschrieben. Dann beginnt er zu erzählen:

Gerne würde ich einen Kompromiss mit Ihnen finden, Jones. Mir sind die Hände gebunden. Gestern nämlich, nicht nach sechs Uhr Morgens, erhielt ich eine Email. Von meinem Gebietsstellenleiter. Folgendes wurde mir mitgeteilt: „Die vom EU-Parlament beschlossene EU-Richtlinie zum versicherungspräventiven Umgang mit Suizidpersonen innerhalb der Schengen-Staaten ist rechtskräftig.“
Diese Richtlinie betrifft Versicherungsunternehmen im Allgemeinen, denn es gibt keinen, in dessen Leistungspaketen der Tod nicht fester Bestandteil von Absicherung des Leistungsträgers, seiner Ehe-/Lebenspartner oder Familienangehöriger ersten Grades wäre.
Jedoch bestehen innerhalb der Absicherungsoptionen und der Konzerne einige Unterschiede. Der wesentlichste – sonst wäre ich nicht hier und würde erzählen – besteht im Umgang mit Suizid und Suizidrisikobereichen. Sie kommen bestimmt selbst drauf. Smart genug wirken sie jedenfalls.
Na ja. Dieser Raum auf Etage 37 ist ein Risikobereich.
Nennen Sie ihn einfach Selbstmörderraum. In Jones' Gesicht steht die Enttäuschung des Nostalgikers geschrieben, dem etwas genommen wird, was zur Pflege der Nostalgie von Bedeutung ist.
Der Lebensversicherer Wutz lacht. Seine Augen blitzten auf und scheinen wie Flutlichter; einige Tränen fliegen wie Schaufeln voller Sand aus den Augenhöhlen, rieseln mit dem Schnee zu Boden. Unter den Füßen des Lebensversicherers fließt alles zu einer Pfütze zusammen.
Wutz fährt fort. Besonders betroffen von der Gesetzesnovelle sind Konzerne, die mit mehr als fünfzehn Prozent Lebensversicherungen vermitteln.
Seit gestrigem Datum sind wir verpflichtet – nach eigenem Ermessen aber in angemessener Form –Orte, die dem Versicherungskreis (oder dem Versicherungskreis von Partnern) zugehörig sind, gegen Personen mit selbstmörderischen Absichten zu sichern.

Wutz seufzt. Ein Sturzbach aus Silberfarbe schießt ihm aus den Nasenlöchern und spritzt den Boden voll. Aber – und hier wird Jones allmählich skeptisch – tut Wutz offfenbar, als ob ihm das überhaupt nicht auffällt. Schließlich redet er einfach weiter.

All die Arbeit, Jones. Wutz wirft die Arme in die Höhe, patscht theatralisch mit den Händen gegen die silberverschmierten Wangen. Ein hoher Aufwand, wie sich vorstellen können. Heute ist der 24.12., die Uhr zeigt 14:54. Bis mein Prüfvorgang abgeschlossen sein wird, dämmert es schon. Meine Kinder und meine Frau müssen im weihnachtlichen Zimmer auf mich warten. Meine Frau hat Lebkuchenmänner gebacken, als mittägliche Vorspeise; Gans mit Knödeln, Soße und Rotkohl werden abends mit dem feinen Silberservice serviert. Jetzt tollen meine Söhne durch die Wohnung. Sie sind beide rothaarig, ungestüm und Herrscher über meine Frau, ihre Mutter. Sie treten und schlagen sie von morgens bis abends, hin und wieder kokeln sie mit einem Feuerzeug an ihrer Schürze herum oder schmieren den Boden vor dem Ehebett mit Öl ein, damit meine Frau gleich nach dem Aufstehen stürzt und sich den Tag über aufgrund Schmerzen weniger gegen ihre Streiche zur Wehr setzen kann. Doch wem erzähl' ich das? Ihre Kindheit dürfte nicht lange her sein. Bestimmt haben Sie noch Schabernack im Kopf.
Jones sieht Wutz ungläubig an. Aus der Stirn des Lebensversicherers wächst ein Einhorn, die Stirnhaut platzt blutrot auf, das Horn erstrahlt in grellem Silber.

In der Tat, ringt Jones sich als Antwort ab. Is' nicht lange her. Speichel schwimmt in seinem Mund.

Wutz atmet aus. Indessen kräht ein schwarzer Vogel auf dem Dach über dem Lebensversicherer.
Na ja. Aber es hilft alles nichts. Oder? Während ich meine Arbeit ausführe, sind ja immerhin Sie da, dem ich mich zuwenden und mit dem ich sprechen kann. Auch wenn ich Ihre Kritik nicht umsetzen werde, ist mir ihre Gesellschaft angenehm. Ohne Gesellschaft ist das Ausführen solcher Aufgaben immer etwas deprimierend.
Meinen Sie? fragt Jones träge. Seine Augen sind nahezu verschlossen.
O ja, antwortet Wutz aufgeweckt. Menschen können es nur eine bestimmte Zeit in Einsamkeit aushalten. Denn Einsamkeit macht Sehnsucht und Sehnsucht ist Einsamkeit. Um alleine und in absoluter Isolation zu leben, muss man Tier oder Gott sein. Aber Sie haben die Augen zu, Jones.
Sind Sie da?

Sind Sie da?

Der Lebensversicherer kneift die Augen zusammen und beäugt eine Ritze zwischen Stahl und Gitter. In der Ritze schimmert ein von Licht übersilberter Spinnweben. Darauf entsteht etwas Menschenähnliches. Erst schemenhaft und nahezu ohne Konturen; bald skizzierter, wie ein Scherenschnitt; mehr Details und Besonderheiten kommen hinzu.

Und auf dem Silberbezug ein Oberkörper, Hals und Kopf eines Mannes in schwer erkennbarem Alter. Dieser Mann trägt einen Blazer und drunter eine Fliege. Er schaut drein wie ein Wartender, vielleicht auf einen Zug, vielleicht auf eine Antwort. Die Empfindung in seinem Gesicht lässt auf einen Mann schließen, der dazu erzogen ist, Konflikte mit Sachlichkeit und Vernunft zu lösen.

Als Wind über den Spinnweben wie eine Welle durch Unterwasserpflanzen rauscht, wölbt das Aussehen des Mannes sich; bis es in viele runde Formen zerbricht; mit offenem Mund, in dem ein Speichelfaden klebt, gafft der Lebensversicherer den Spinnweben an. Sind Sie da, sagt er, mehr zu sich selbst. Er befühlt mit den Fingerspitzen die Stirn, tippt gegen sie den gleichen Rhythmus wie zuvor gegen die Schweißnähte des Gitters. Und dann zieht er seine Gesichtshaut ab, präzise und geräuschlos. Unter dem Gesicht liegt das Gesicht von Friedmann.

Ich fragte, ob Sie da sind, mahnt Friedmann.

Jones lehnt mit geschlossenen Augen am Treppengeländer mit den pirouettenförmigen Spindeln. Er hebt den Kopf zu Friedmann. Und starrt ihn an, wie einen, der Fremdsprache spricht.
Um eine Antwort brauchen Sie nicht verlegen zu sein, sagt Friedmann besänftigend. Es ist so: Ich habe Sie nicht grundlos gefragt, ob Sie da sind. Denn ich sehe nicht mehr gut. Und wenn ich die Wohnungstür geöffnet habe, ist mein Sehvermögen umso beeinträchtigter. Zur Abhilfe ist es in meiner Wohnung (Sie werden das bemerkt haben) außerordentlich hell. Mir persönlich ist's recht, aber zumindest weiß ich von den Anmerkungen meiner Besucher um die Lichtverhätltnisse.
Ham' Se was dagegen unternommen? fragt Jones. Er entnimmt der Außentasche seiner Postjacke eine Sonnenbrille und setzt sie auf. Nicht das Se blind werden.

Friedmann zischt einen Laut durch die Zähne, der nach Verachtung und Freude klingt. Sie nehmen mir, ruft er in großspurigem Tonfall laut schallend durchs Treppenhaus, die Wörter aus dem Mund. Sie sind jung und trotzdem blitzgescheit!
Jones grinst, durch die Sonnenbrille betont.
Ich beauftragte einen Lichtexperten.
Klingt speziell, erwidert Jones.
O ist es auch, ist es! Und eigentlich nennt man diesen Experten anders. Die zutreffende Bezeichnung für Geschöpfe wie ihn ist Luminateur.
Was hat der Luminateur getan? Jones gähnt. Und machen Sie mal hin, ich hab zu tun.
Friedmann nickt mit stilisiertem Verständnis. Sie haben zu tun. Ja. Lassen Sie mich
raten: Sie müssen wohin. Alle müssen wir wohin, gibt Friedmann zu bedenken. Na ja, ich will mich nicht zu lang fassen, Sie haben ja doch keine Zeit. Der Luminateur installierte in meiner Wohnung ein Messgerät, das den Helligkeitsgrad in geschlossenen Räumen ermittelt, es in einer Simulation mit Naturlicht vergleicht und daraus einen Verträglichkeitswert ermittelt.

Lichtfontänen spritzen wie Gesteinsbrocken hinter Friedmann hervor. Lautlos poltern sie die Treppe hinab, mitten auf Jones zu. Der bleibt furchtlos stehen und beschirmt mit den Händen die Sonnenbrille. Trotz allem behält Jones die Nerven, denn er will hören, wie es bei Friedmann weiter geht. Lassen Sie mich raten, murmelt Jones. Ihre Wohnung ist zu hell.

Öhm, ich liege über dem Durchschnitt, hüstelt Friedmann. Sind Sie nicht beeindruckt davon?
Jones zuckt mit den Schultern und schweigt. Da lässt sich eine Abnahme des Lichtes im Herrenhaus des Alten wahrnehmen; flüchtig, wie ein Silberstrahl die Dunkelheit einer Nacht zerschneidet.

* * *

Der Lebensversicherer lehnt an das Gitter, dessen Prüfung er abgeschlossen und aktenkundig vermerkt hat. Ein gequältes, tragisches Grinsen spielt um die Mundwinkel; im Grübchen seines Lächelns schwimmt eine Lache aus Blut und Schnee.

Ihm gegenüber ist ein junger Mann erschienen. Er trägt die schwarzgelbe Berufsuniform der Briefträger, steht unschlüssig im türlosen Türrahmen aus Rohbeton, der das Treppenhaus mit dem Selbstmörderraum verbindet. Mit betontem Überrascht-Sein sieht der Lebensversicherer ihn an; doch es wirkt weniger gekünstelt, als es im ersten Augenblick den Anschein macht. Der Lebensversicherer sieht auf zu dem Briefträger, mustert die Uniform. Er liest den Namen vor: Jones. Sie sind gekommen, Herr Jones.

Ich bin da, Lebensversicherer. Und es ist ein gutes Gefühl, angekommen zu sein.
Wie lange haben Sie gebraucht?
Jones weist mit dem Kinn zum Gitter, hinter dem der Schneesturm tobt. Wär' schneller gewesen. Allerdings ist das Wetter scheiße. Und ich wurde mittags von einem Reichen aufgehalten. Der hatte es in sich. 'N Quatschkopp vor dem Herrn.
Der Lebensversicherer sieht Jones mit durchdringendem Blick an. Ihm brennt vermutlich zwischen Stirn und Zunge ein Gedanke. So schnell das Flackern im Blick aufgeht, desto schneller verbleicht es wieder, bis der Lebensversicherer alltagsmüde dreinschaut.
Na ja, murmelt er – jetzt sind Sie ja da. Klasse. Auch wenn ich Sie (noch) nicht kenne, sind sie so etwas wie ein Premierengast.
Ich habe die Ehre? Jones lächelt verschmitzt.
Das kann man so sagen, antwortet Wutz mit Ernst und Zuversicht in der Stimme. Sie sehen zu, wie der Selbstmörderraum zu seinem Ende gelangt. Hier wird sich keiner mehr herunterstürzen.
Jones betrachtet das Gitter. Darf ich mal?
Nur zu. Der Lebensversicherer weist Jones sonnig an. Jones klopft mit den Fingern gegen die Schweißnähte, unten, in der Mitte, oben. Sitzt bombenfest, schließt er. Die Lebensmüden werden nach einem anderen Raum suchen.
Nicht in meinem Zuständigkeitsbereich. Hier sind wir fertig.
Jones nickt. Sehen wir. Alles ist erledigt.
Alles.


 
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