Briefgeheimnis

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Matula

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Vor einiger Zeit fand ich einen Brief in meinem Postkasten, der an einen Herrn Helmuth Flusser adressiert war. Ich schrieb quer über die linke Ecke "Unbekannt". Am nächsten Tag war er verschwunden, kam aber nach einer Woche wieder. Diesmal legte ich einen Zettel dazu: "Sehr geehrter Herr Briefträger! Die Anschrift ist zwar richtig, aber ein Herr Flusser wohnt nicht an dieser Adresse." Der Brief verschwand neuerlich für einige Tage und kam dann mit der launigen Anmerkung zurück: "Aber vielleicht wird er ja demnächst einziehen!" Darunter lag ein zweiter Brief, offensichtlich vom selben Absender. Ich ließ beide im Postfach liegen, bis ein dritter und ein vierter dazukam. Nun drapierte ich sie auf der oberen Abdeckung des Briefkastens, so dass sie jeder Hausbewohner sehen konnte. Hier lehnten sie gut zehn Tage, dann lagen sie zusammen mit Nummer fünf wieder in meinem Postfach.

Die detaillierte Einleitung soll zeigen, dass ich sehr wohl weiß, wie man mit fremden Briefen, mit "Irrläufern", wie es im Jargon heißt, umzugehen hat. Niemals würde ich ein Poststück öffnen, das nicht an mich adressiert ist! In diesem Fall aber machte ich schließlich eine Ausnahme, weil fünf Briefe in knapp vier Wochen eine gewisse Dringlichkeit auf Seiten des Absenders vermuten ließ. Ich hoffte, seine Adresse oder Telefonnummer im Inneren des Kuverts zu finden, denn die Rückseite war nur mit den Initialen R.S. beschriftet.

Der erste Brief verriet, dass das R. für "Rosi" stand. Er war entsprechend auf rosa Papier geschrieben, duftete ein wenig und zeigte einen Strauß rosa Rosen in der rechten oberen Ecke. Die Autorin schrieb dem "lieben Helmuth", dass sie noch oft und gern an die gemeinsame Schiffsreise auf der schönen blauen Donau denke, an das sanfte Schaukeln der Wellen und an seine vielen lustigen Einfälle, bei denen sie sich fast "kaputtgelacht" hatte. Nie hätte sie vermutet, dass ein Polizeibeamter so viel Humor haben könnte. Sollte auch er "in Erinnerungen schwelgen" wollen, genüge ein Anruf unter der angegebenen Nummer.

Ich hätte es bei diesem ersten Brief bewenden lassen und zum Hörer greifen sollen. "Liebe Frau Rosi", hätte ich sagen sollen, "ihre Urlaubsbekanntschaft hat Ihnen eine falsche Adresse gegeben - und möglicherweise auch einen falschen Namen." Stattdessen öffnete ich den zweiten Brief, in dem ein Prospekt mit der Ankündigung der bevorstehenden Donau-Kreuzfahrten lag. Die Reise der A-ROSA-RIVA von Passau über Wien, Budapest, Bratislava und zurück nach Passau war rot eingeringelt und mit einem Rufzeichen versehen. Der liebe Helmuth, schrieb Rosi, solle sich das Programm "zu Gemüte führen". Sie habe den von ihr bevorzugten Termin angestrichen, sei aber auch für einen alternativen Vorschlag offen. Als Lehrerin habe sie ja während der Ferien "eigentlich immer Zeit". Sicherheitshalber nannte sie ihm noch einmal ihre Telefonnummer.

Fremde Briefe liest man nicht ungestraft. Zum schlechten Gewissen kommt die Hilflosigkeit, in die man sich manövriert. Das heimlich erworbene Wissen kann nicht genutzt werden, ohne die Verletzung des hochpersönlichen Rechts eines Anderen - und hier gleich zweifach - zuzugeben. So gesehen konnte das Öffnen des dritten Briefes meine Lage nicht verschlimmern. Er war mit "Roswitha" gezeichnet, das rosa Papier einem neutralen weißen gewichen.

Roswitha schrieb, dass sie am Wochenende mit "lieben Freunden" einen Ausflug nach Krems unternommen und dabei die A-ROSA BELLA auf der Donau "vorbeischippern" gesehen habe, was sie wieder an die "wunderschönen Abende" vor einigen Wochen erinnert und ganz traurig gemacht habe. Sie sei ein Mensch, der die Fähigkeit besitze, "besondere Momente" aus dem Gedächtnis aufzurufen und in allen Details wiederzuerleben. Zu diesen Momenten gehöre die Nacht, in der er ihr an der Reling seine Jacke mit den Worten "Damit du dich nicht erkältest", umgehängt hatte. Dabei sei ihr der "Untergang der Titanic" durch den Sinn gegangen und der Gedanke, dass es nicht schlimm wäre, wenn das Schiff in diesem Augenblick "versinken würde".

Im zweiten Absatz machte sich Ernüchterung breit. Leider, schrieb Roswitha, gebe es Menschen, deren "Erlebnisfähigkeit" weniger ausgeprägt sei, bei denen alles, was ihnen widerfuhr, gleich abgeheftet und zu den Akten gelegt wurde. Das sei natürlich nicht zu kritisieren und für Polizeibeamte womöglich "überlebenswichtig" angesichts der vielen schrecklichen Dinge, mit denen sie konfrontiert waren. Eine Schiffsreise von nur wenigen Tagen könne hier auch keine "Verbesserung" bewirken. Ob Helmuth schon einmal an einen Urlaub von vier oder fünf Wochen gedacht habe?

Wenn man derart persönliche Post ohne Erlaubnis liest, fühlt man sich ähnlich schuldig wie bei einem Blick in die Seele eines Freundes, der seine Gefühle durch einen Lapsus verraten hat. Frau Roswithas Werben um den lustig-fürsorglichen Herrn Flusser war komisch, aufdringlich und rührend zugleich. Sie durfte nie erfahren, dass eine Fremde diese Briefe gelesen hatte. In diesem Sinne öffnete ich den vierten, in dem ein Foto steckte. Auf einem beigelegten Zettel stand. "Eine Teilnehmerin aus unserer Reisegruppe hat mir diesen Bild geschickt. Ich habe keine Verwendung dafür! Gruß, R."

Das Foto zeigte eine Abendgesellschaft an einem mit Gläsern und Flaschen vollgeräumten Tisch. Die Kamera war auf ein Paar gerichtet, wahrscheinlich Helmuth und Roswitha. Letztere etwa Mitte vierzig, ein wenig drall und allerbester Laune. Sie lachte und prostete dem Fotografen oder der Fotografin mit einem Sektglas zu. Der Mann neben ihr lächelte verkniffen. Wein, Weib und Gesang waren ihm augenscheinlich zuwider. Vielleicht hatte er die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen, hätte aber lieber den Gratis-Reifenwechsel als Trostpreis gehabt. Er war um einiges jünger und etwa doppelt so dick. Wenn er tatsächlich für die Polizei arbeitete, dann wohl nicht im Außendienst. Schwer vorstellbar auch, dass man sich mit ihm "kaputtlachen" konnte.

Ich betrachtete das Bild sehr eingehend, weil ich mir nicht erklären konnte, warum Herr Flusser die womöglich einzige Chance seines Lebens auf weibliche Zuneigung ausgeschlagen hatte. War sie ihm zu alt? Fürchtete er, verlassen zu werden, noch ehe er sich einließ? War ihm sein Körper im Weg? Hatten fünf Tage genügt, um sicher zu sein, dass sie nicht zueinander passten? Und umgekehrt, was gefiel Frau Roswitha an diesem missgelaunten Dickwanst? Dass er - angeblich - bei der Polizei war? Dass er ihr sein Jackett geliehen und sich mit ihr unterhalten hatte? Sicher hatte sie ein kleines Umerziehungsprogramm im Kopf. Sie war ja Lehrerin. Vielleicht würde der letzte Brief Licht in die Sache bringen und zeigen, wie sie nun mit dem Herrn Flusser verblieben war.

Über drei Seiten war er lang und las sich wie in Requiem auf eine Liebe, die so verheißungsvoll begonnen und so enttäuschend geendet hatte, unterschrieben mit "Roswitha Schwarz". Am Anfang sei er ihr überhaupt nicht aufgefallen, erst am zweiten Tag, als er ständig in ihrer Nähe war und ihr seine gekühlte Limonade überließ. Am Morgen, zu Mittag und am Abend, immer sei er um sie herum gewesen, auch zu Lande, wenn man eine Besichtigungstour unternahm. Durch soviel Aufmerksamkeit fühle sich eine Frau natürlich geschmeichelt und so habe sie wohl öfter mit ihm als mit den anderen Teilnehmern gesprochen. Und selbstverständlich hatte sie angenommen, dass auch er "die Beziehung" nach dem Ende der Reise fortsetzen wollen würde, zumal er ihr ja auch seine Adresse mit der Behauptung gegeben hatte, dass er gern Briefe schreibe und Post erhalte. Das sei ihr zwar "ziemlich schräg" vorgekommen, aber sie habe vermute, dass er ihre Handschrift "graphologisch untersuchen" lassen wollte, denn die Polizei verfüge ja über Experten auf diesem Gebiet. "Sollte etwas an meinen Ober- oder Unterlängen nicht gepasst haben, an der Schriftneigung oder an den i-Punkten, hätte ich das natürlich gern erfahren", schrieb sie bissig.

Auf der letzten Seite wurde der Brief moralisch. Natürlich könne man Zuneigung niemandem abtrotzen, aber man dürfe Anstand und Aufrichtigkeit auch "in Liebesdingen" erwarten. Wenn er nun leider nicht so empfinde wie sie, sei er ihr doch eine Erklärung schuldig, weil sie sich ihm "ja nicht an den Hals geworfen" habe, sondern durch sein beharrliches Werben verführt worden sei. "Als erwachsener Mensch sollte man schon wissen, was man will!" Immerhin, schrieb Frau Schwarz, sei sie ja nicht mehr die Jüngste und schon aus diesem Grund leichter zu kränken als "irgendein junges Ding". Vielleicht könne er sich doch entschließen, ihr eine Zeile der Erklärung zukommen zu lassen.

Ich war versucht, ihr als Helmuth Flusser zu antworten, schämte mich aber gleich wieder für den Gedanken. Zuerst ihre Post lesen und sie dann noch hinters Licht führen! Ich hätte geschrieben: "Liebe Roswitha, manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen. Ein Gefühl von Nähe entsteht auch durch Platzmangel. Denk nur an Zellengenossen, die für die Dauer ihrer Inhaftierung dicke Freunde werden. Und wirklich geräumig ist die A-ROSA BELLA ja nicht." - Eine Weile schob ich die Briefe von einer Ecke des Schreibtisches zur anderen, dann wanderten sie in den Papierkorb.

Im Frühherbst läutete es an einem Samstagnachmittag an meiner Tür. Frau Schwarz stand davor und ich konnte sehen, wie sich ihre Augen vor Schrecken weiteten. "Frau Flusser, nehme ich an?", sagte sie mit belegter Stimme. Ich zögerte nur einen winzigen Moment - und nickte. Sogar die Augenbrauen hob ich mit besorgter Überraschung. "Das hätte ich mir denken können!" Sie ließ mich grußlos stehen und stapfte davon. Erst vor dem Lift drehte sie sich wieder um und schrie: "Sie sollten ihren Gatten nicht allein auf Urlaub fahren lassen!"

Ich habe mir seither geschworen, nie wieder einen "Irrläufer" zu öffnen und zu lesen, auch wenn man über den Inhalt eine Kurzgeschichte schreiben kann.
 

Aniella

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Ein Nicken ist die beste Antwort. Sehr amüsant. Das schlechte Gewissen zwischen den Tagen konnte nur noch auf diese Art zum Verstummen gebracht werden.
 

Matula

Mitglied
Guten Abend @Aniella,

danke für Deinen freundlichen Kommentar. Ja, das Nicken hilft vor allem der armen Frau Schwarz, die jetzt mit ihrem Donau-Abenteuer abschließen kann. Und die Erzählerin hat sich halbwegs moralisch aus der Affäre gezogen.
Freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

Schöne Grüße aus Wien,
Matula

Danke für die freundliche Bewertung auch an @Anders Tell - und schönen Abend !
 

petrasmiles

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Liebe Matula,

ich finde diese Geschichten über Situationen, in die man 'natürlich' nie geriete, immer mordsspannend. Ein kleiner Spaziergng durch ein Tabu, und Anregungen dazu, was es für Verwicklungen geben kann. Dabei nicht überzeichnet und glaubwürdig begründet - incl. Pointe, was will man mehr.

Liebe Grüße
Petra
 

Matula

Mitglied
Guten Morgen Petra,

danke fürs Lesen und den freundlichen Kommentar. Schuld an solchen Situationen ist ja die Post, hierzulande gewissenlos und widerspenstig. Wenn man sich beschwert, wird einem wortlos ein vorgedruckter Beschwerdezettel von einer Rolle (!) abgerissen und ausgehändigt. Und nützen tut's natürlich nichts.
Ich wünsche Dir einen schönen Tag,
liebe Grüße,
Matula
 



 
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