Brubecks Ratten

Bo-ehd

Mitglied
Dr. Brubecks Haus war in einen Hang gebaut und wirkte mit seinen beiden Säulen und den massiven Mauern links und rechts von Weitem wie ein Tempel mit zwei Sphinxen. Unter dem Überbau war die Anfahrt zu den Garagen; der Aufgang zum Erdgeschoss lag etwas höher im Hang. Um die Eingangstür ins Haus zu erreichen, musste man eine Treppe mit 17 Stufen bewältigen.
Der Chemiker Wilfried Brubeck war 60 Jahre alt und vorzeitig gegen seinen Willen in den Ruhestand gegangen. Sein Arbeitgeber, ein Forschungsinstitut, hatte seine Aktivitäten ins 50 km entfernte Frankfurt verlegt, aber jeden Tag 100 km zu fahren und im Stau zu stehen, das wollte er sich in diesem Alter nicht mehr zumuten.
Lange bevor sein letzter Arbeitstag nahte, traf Brubeck Vorkehrungen, um seinen neuen Alltag genauso interessant zu gestalten wie den alten. Er bedauerte sehr, dass er genau in der Zeit seine Forschung abbrechen musste, als der Durchbruch nahte. Er hatte in Versuchen mit Ratten den Nachweis erbracht, dass Wechselwirkungen zwischen bestimmten Medikamenten unter anderem zu Leberschäden, Übergewicht und Diabetes führten. Die Ergebnisreihe war sicher, aber noch nicht lang genug, um anerkannt zu werden.
In einem Baumarkt beschaffte er sich 24 Goldhamsterkäfige für seine 48 Ratten, montierte sie im Keller zu einer „Käfigwand“ und richtete den Raum mit ausgemusterten Laborgeräten zu einem ebenbürtigen Arbeitsplatz her. Brubeck verbrachte den ganzen Tag in diesem neuen Reich und ließ seinem Forscherdrang freien Lauf. Genau so hatte er sich das vorgestellt. Doch der Frieden währte nicht lang. Mit steinerner Miene saß Margarete am Frühstückstisch und wartete, bis ihr Mann aus dem Bad kam.
„Ich muss ehrlich sagen, Wilfried, deine Rattenkolonie da unten passt mir nicht. Ich habe den ganzen Tag diesen Uringeruch in der Nase.“
„Das bildest du dir nur ein, meine Liebe“, versuchte er sie zu beruhigen. „Die Käfige werden täglich gereinigt und desinfiziert. Das kann gar nicht riechen.“
„Es riecht aber. Meine Nase hat mich noch nie getäuscht. Es ist mir egal, wie oft du die Käfige reinigst, die Viecher stinken. Wo kommen die eigentlich her? Die müssten doch längst in Frankfurt sein. Hast du sie gestohlen?“
„Maggy, was ist denn los mit dir? Habe ich jemals in meinem Leben etwas gestohlen?“
„Und die ganze Laborausrüstung? Gib sie zurück, bitte!“
„Die wäre verschrottet worden. Das sind nicht die modernsten Geräte. Mein Chef war froh, dass ich ihm die Entsorgung erspart habe.“
„Trotzdem!“
„Was heißt trotzdem? Was willst du eigentlich?“
„Ich finde es ausgesprochen eklig, zu wissen, was du da unten tust. Du spritzt ihnen Gift, was ich richtig widerlich finde, aber viel mehr stört mich, dass du die armen Tiere aufschneidest, auf ein Brett nagelst und ihnen ein paar Organe herausnimmst. Dann kommst du an den Essenstisch, und ich habe ständig die Hände vor Augen, die all diese Schändlichkeiten tun.“
„Aber Maggy, in den 35 Jahren unserer Ehe habe ich nichts anderes getan?“ Brubeck empfand dieses Jammern als völlig unbegründet, ersparte sich aber jegliche Widerrede, um den Hausfrieden nicht zu gefährden. In ein paar Tagen würde sie einsehen, dass ihre Forderungen undurchsetzbar waren, und sich beruhigen.
Brubeck biss gerade in ein Toastbrot, als Maggy tief einatmete, um fortzufahren. Sie begann ihren Angriff damit, dass sie ihn anstarrte. Dann setzte sie an, doch dieses Mal zögerte sie. Ihm fiel auf, wie sie die richtigen Worte suchte. Als er gerade auf dem ersten Bissen herumkaute, sprudelten die Worte endlich aus ihr heraus.
„Ich muss dir noch etwas sagen, Wilfried, und das betrifft uns beide.“
„Alles, was wir hier bereden, betrifft uns beide. Was hast du denn noch?“, konterte er entschlossen. Obwohl eine Engelsgeduld zu seinen Stärken zählte, begann ihm das Gespräch lästig zu werden. „Also, was hast du noch? Sag´s frei heraus, und dann ist dieses Palaver beendet.“
Wieder schwieg sie einen Moment, dann schleuderte sie ihm einen Satz entgegen, den sie wie einen Befreiungsschlag empfand. „Wenn du mich mit diesen Händen im Bett berührst, ekle ich mich. Beim Sex muss ich immer daran denken, was sie den unschuldigen Tieren antun. Tut mir leid, aber so können wir nicht mehr …“
„Na, wenigstens ist es jetzt raus!“ Er überlegte kurz. „Du kannst machen, was du willst, ich werde auf jeden Fall meine Versuchsreihe fortsetzen.“
Die Stimmung fiel schlagartig auf den Nullpunkt, und wenn noch ein paar Worte fielen, dann nur für das Nötigste.
Brubeck griff nach Jacke und Autoschlüssel. „Ich fahre in die Uni-Bibliothek und esse in der Mensa. Am späten Nachmittag bin ich zurück.“ Er ging an ihr vorbei, ohne sie anzuschauen und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

*

Das Buch, in dem Brubeck etwas nachlesen wollte, war ausgeliehen. Auch nach dem Mittagsessen stand es noch nicht an seinem gewohnten Platz. Er entschied sich, noch einen Kaffee zu trinken und dann gegen 15 Uhr nach Hause zu fahren. In der Auffahrt zu seiner Garage fiel ihm ein Kleinwagen auf, der vor dem zweiten Garagentor parkte. Er maß ihm keine Bedeutung zu, obwohl ihn aus unerfindlichen Gründen ein komisches Gefühl beschlich. Maggy hatte häufig Gäste, und Brubeck war das sehr recht, weil sie dadurch etwas Abwechslung hatte, aber dieses hässliche kleine Auto war ihm unbehaglich. Was mag das für eine Person sein, die ein solch ungepflegtes Vehikel mit einem Dutzend Beulen und total verdreckten Scheiben fuhr, fragte er sich.
Als er das Wohnzimmer betrat, saßen Maggy und eine blonde, überaus stark gebaute Frau von etwa 50 Jahren bei Kaffee und Kuchen. Maggy stellte sie als Barbara Schwendt vor. Brubeck schaute sie verwundert an und gab ihr die Hand. Modische, weit geschnittene elegante Kleidung, Schal, Schmuck an beiden Händen und leicht übertriebenes Make-up – wie passte das zu der Dreckskarre?
„Trinkst du eine Tasse Kaffee mit uns?“, fragte Maggie, um die Form zu wahren.
„Nein, danke“, lehnte Brubeck genauso förmlich ab. „Ich habe noch zu arbeiten.“
Als er im Begriff war, den Raum zu verlassen, ergriff Barbara Schwendt das Wort.
„Herr Dr. Brubeck, ich würde mich gern mit Ihnen über eine Sache unterhalten. Setzen Sie sich doch einen Moment zu uns.“
„Was gibt´s denn Wichtiges?“, fragte Brubeck und setzte sich in einen Sessel.
„Ich muss mich erst einmal vorstellen“, begann Barbara. „Ich bin die Vorsitzende des Vereins zum Schutz von Kleintieren.“
Brubeck wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte. „Tut mir leid, wir haben keinen Wellensittich.“
„Aber sie haben 48 Ratten im Keller eingesperrt.“
Eingesperrt! Da klang doch eine ganze Menge Aggressivität mit. „Es sind Versuchstiere, ich kann sie nicht frei laufen lassen.“
„Ich möchte Sie im Namen des Vereins bitten, die Quälerei, hmm … die Tierquälerei, umgehend einzustellen und die Tiere in die Freiheit zu entlassen. Jedes Tier hat ein Recht auf ein Leben in Freiheit.“
„Soll ich etwa meine Versuchsreihe abbrechen? Wie stellen Sie sich denn das vor?“ Brubeck überlegte, ob er sie übergehen, verachten oder aus dem Haus weisen soll. Was bildete sich die dumme Kuh ein! „Hier geht´s um Wissenschaft, das verstehen Sie doch hoffentlich.“
Barbara dachte gar nicht daran einzulenken. „Dieses Gefängnis in Ihren Keller, die armen Tiere, die Versuche, wenn Sie Ihnen die Bäuche aufschneiden – das alles ist unmenschlich, in-hu-man. Das müssen Sie doch einsehen!“
Brubeck presste die Lippen aufeinander und zwang sich, aus Höflichkeit zu schweigen. Aber als er in das triumphierende Gesicht seines Gegenüber sah, platzte ihm der Kragen. Schwer atmend sandte er stechende Blicke in ihre Augen. „Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, gute Frau. Wenn Ihr Arzt Ihnen ein neues Medikament verschreibt, sie den Beipackzettel lesen und darin gewarnt wird, dass eine Einnahme zusammen mit den Tabletten XY, die Sie ebenfalls einnehmen, zu Herzrhythmusstörungen und damit möglicherweise zur Lebensgefahr führt, ist das inhuman?“ Er wartete auf ihre Antwort, aber die kam nicht. Deshalb setzte er ein bisschen bösartig nach. „Riskante Wechselwirkungen führen in den meisten Fällen zu Fettleibigkeit, weil sie die Leber massiv belasten. Nur dass Sie es wissen.“
Barbara schluckte trocken. „Das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie dutzendweise Tiere quälen. Überlassen Sie solche Experimente der Forschung. Da geschieht alles nach den gesetzlichen Vorschriften und unter staatlicher Aufsicht. Also seien Sie jetzt vernünftig und geben Sie den Tieren ihre Freiheit zurück. Ich bestehe darauf!“ Sie griff in ihre Handtasche und nahm ein Dokument heraus. „Hier, unterschreiben Sie! Wenn Sie es nicht tun, erstatten wir Anzeige.“
„Was soll ich da unterschreiben?“
„Dass Sie sich verpflichten, die Tiere umgehend freizulassen.“
Brubeck überlegte kurz, dann nahm er sich in aller Ruhe ein paar Weintrauben aus der Obstschale und verließ kopfschüttelnd den Raum.
Nach fünf Minuten betrat er das Wohnzimmer erneut, in der rechten Hand den Griff eines Transportkäfigs, in dem sich 16 Ratten nervös tummelten. Sie waren unruhig, weil sie aus ihrer gewohnte Umgebung entfernt wurden. Während er Barbara mit tiefernstem Blick in die Augen schaute, stellte er den Käfig auf den Tisch, nahm sich eine weitere Weintraube und öffnete seelenruhig den Verschluss.
„Sie wollten doch, dass ich die Tiere umgehend freilasse, oder?“

*

Die Ratten taten, was sie in solchen Situationen immer tun. Geleitet von der Witterung größter Gefahr flohen sie und suchten Schutz in erreichbaren dunklen „Verstecken“: unter der Couch, hinter den Kissen auf der Couch und hinter Barbaras Rücken. Sie suchten Gegenstände, die sie mit ihren kleinen Krallen erklettern konnten. Das waren nicht nur die Gardinen und Vorhänge, sondern vor allem Barbaras lockere Kleidung. Besonders geeignet für ein Versteck schätzten sie wohl den weiten Rock, die luftige dunkle Bluse und den Schal aus feinster Kaschmirwolle. Da sie in Panik waren, verhakten sich ihre Krallen mehrfach in ihrer Kleidung und blieben darin hängen. Unter angstvollem Pfeifen versuchten sie, sich zu befreien. Dabei verhakten sich zwei Exemplare noch mehr. Eine der Ratten blieb im Stoff an ihrem Rücken hängen, die andere im Schal über ihrem Ausschnitt.
Barbara schrie und kreischte in einer Lautstärke, die Todesangst vermuten ließ. Schließlich versuchte sie aufzustehen und das Tier im Schal durch Schläge zu vertreiben, aber dadurch wurden die anderen noch panischer. Und als eine sich auch noch in ihrer Kniekehle verhakte und sich partout nicht von dem Nylonstrumpf befreien ließ, stürzte sie kopflos aus dem Raum, eilte zur Haustür und stolperte ins Freie. Die 17-stufige Außentreppe schaffte sie nicht mehr. Mit ihrem Übergewicht auf den erhöhten Absätzen ihrer Schuhe konnte sie die Balance nicht mehr halten und stürzte elendig. Als sie die letzte Stufe, offensichtlich noch lebend, aber mit Knochenbrüchen, bewältigt hatte, schlug sie mit dem Kopf gegen einen steinernen Sockel.

*

Brubeck war klug genug, nicht nur den Krankenwagen, sondern auch die Polizei zu rufen. Als Kommissar Rolf Becker, mit dem er in der Jungendmannschaft des SV Eschenbergen Fußball gespielt hatte, eintraf, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Becker war ein Mann der Vernunft. Als er sich die Schilderung des Vorfalls angehört hatte, grinste er verschmitzt. „Die hat uns schon genug Ärger gemacht“, flüsterte er, zückte ein kleines Notizbuch und begann, Stichpunkte aufzuschreiben.
„Also, ich wiederhole noch einmal“, begann er und sah Brubeck ins Gesicht. „Du hast ihr die zwölf Ratten zeigen wollen, damit sie sich vergewissern konnte, dass sie in gutem Zustand sind. Du stellst den Käfig auf den Tisch, und dabei öffnete sich die Klappe. Ehe du reagieren konntest, waren alle Tiere schon draußen. Ist das so richtig?“
„Ja, Rolf, genau so war´s.“


































































































































































































































































Dr. Brubecks Haus war in einen Hang gebaut und wirkte mit seinen beiden Säulen und den massiven Mauern links und rechts von Weitem wie ein Tempel mit zwei Sphinxen. Unter dem Überbau war die Anfahrt zu den Garagen; der Aufgang zum Erdgeschoss lag etwas höher im Hang. Um die Eingangstür ins Haus zu erreichen, musste man eine Treppe mit 17 Stufen bewältigen.

Der Chemiker Wilfried Brubeck war 60 Jahre alt und vorzeitig gegen seinen Willen in den Ruhestand gegangen. Sein Arbeitgeber, ein Forschungsinstitut, hatte seine Aktivitäten ins 50 km entfernte Frankfurt verlegt, aber jeden Tag 100 km zu fahren und im Stau zu stehen, das wollte er sich in diesem Alter nicht mehr zumuten.

Lange bevor sein letzter Arbeitstag nahte, traf Brubeck Vorkehrungen, um seinen neuen Alltag genauso interessant zu gestalten wie den alten. Er bedauerte sehr, dass er genau in der Zeit seine Forschung abbrechen musste, als der Durchbruch nahte. Er hatte in Versuchen mit Ratten den Nachweis erbracht, dass Wechselwirkungen zwischen bestimmten Medikamenten unter anderem zu Leberschäden, Übergewicht und Diabetes führten. Die Ergebnisreihe war sicher, aber noch nicht lang genug, um anerkannt zu werden.

In einem Baumarkt beschaffte er sich 24 Goldhamsterkäfige für seine 48 Ratten, montierte sie im Keller zu einer „Käfigwand“ und richtete den Raum mit ausgemusterten Laborgeräten zu einem ebenbürtigen Arbeitsplatz her. Brubeck verbrachte den ganzen Tag in diesem neuen Reich und ließ seinem Forscherdrang freien Lauf. Genau so hatte er sich das vorgestellt. Doch der Frieden währte nicht lang. Mit steinerner Miene saß Margarete am Frühstückstisch und wartete, bis ihr Mann aus dem Bad kam.

„Ich muss ehrlich sagen, Wilfried, deine Rattenkolonie da unten passt mir nicht. Ich habe den ganzen Tag diesen Uringeruch in der Nase.“

„Das bildest du dir nur ein, meine Liebe“, versuchte er sie zu beruhigen. „Die Käfige werden täglich gereinigt und desinfiziert. Das kann gar nicht riechen.“

„Es riecht aber. Meine Nase hat mich noch nie getäuscht. Es ist mir egal, wie oft du die Käfige reinigst, die Viecher stinken. Wo kommen die eigentlich her? Die müssten doch längst in Frankfurt sein. Hast du sie gestohlen?“

„Maggy, was ist denn los mit dir? Habe ich jemals in meinem Leben etwas gestohlen?“

„Und die ganze Laborausrüstung? Gib sie zurück, bitte!“

„Die wäre verschrottet worden. Das sind nicht die modernsten Geräte. Mein Chef war froh, dass ich ihm die Entsorgung erspart habe.“

„Trotzdem!“

„Was heißt trotzdem? Was willst du eigentlich?“

„Ich finde es ausgesprochen eklig, zu wissen, was du da unten tust. Du spritzt ihnen Gift, was ich richtig widerlich finde, aber viel mehr stört mich, dass du die armen Tiere aufschneidest, auf ein Brett nagelst und ihnen ein paar Organe herausnimmst. Dann kommst du an den Essenstisch, und ich habe ständig die Hände vor Augen, die all diese Schändlichkeiten tun.“

„Aber Maggy, in den 35 Jahren unserer Ehe habe ich nichts anderes getan?“ Brubeck empfand dieses Jammern als völlig unbegründet, ersparte sich aber jegliche Widerrede, um den Hausfrieden nicht zu gefährden. In ein paar Tagen würde sie einsehen, dass ihre Forderungen undurchsetzbar waren, und sich beruhigen.

Brubeck biss gerade in ein Toastbrot, als Maggy tief einatmete, um fortzufahren. Sie begann ihren Angriff damit, dass sie ihn anstarrte. Dann setzte sie an, doch dieses Mal zögerte sie. Ihm fiel auf, wie sie die richtigen Worte suchte. Als er gerade auf dem ersten Bissen herumkaute, sprudelten die Worte endlich aus ihr heraus.

„Ich muss dir noch etwas sagen, Wilfried, und das betrifft uns beide.“

„Alles, was wir hier bereden, betrifft uns beide. Was hast du denn noch?“, konterte er entschlossen. Obwohl eine Engelsgeduld zu seinen Stärken zählte, begann ihm das Gespräch lästig zu werden. „Also, was hast du noch? Sag´s frei heraus, und dann ist dieses Palaver beendet.“

Wieder schwieg sie einen Moment, dann schleuderte sie ihm einen Satz entgegen, den sie wie einen Befreiungsschlag empfand. „Wenn du mich mit diesen Händen im Bett berührst, ekle ich mich. Beim Sex muss ich immer daran denken, was sie den unschuldigen Tieren antun. Tut mir leid, aber so können wir nicht mehr …“

„Na, wenigstens ist es jetzt raus!“ Er überlegte kurz. „Du kannst machen, was du willst, ich werde auf jeden Fall meine Versuchsreihe fortsetzen.“

Die Stimmung fiel schlagartig auf den Nullpunkt, und wenn noch ein paar Worte fielen, dann nur für das Nötigste.

Brubeck griff nach Jacke und Autoschlüssel. „Ich fahre in die Uni-Bibliothek und esse in der Mensa. Am späten Nachmittag bin ich zurück.“ Er ging an ihr vorbei, ohne sie anzuschauen und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.



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Das Buch, in dem Brubeck etwas nachlesen wollte, war ausgeliehen. Auch nach dem Mittagsessen stand es noch nicht an seinem gewohnten Platz. Er entschied sich, noch einen Kaffee zu trinken und dann gegen 15 Uhr nach Hause zu fahren. In der Auffahrt zu seiner Garage fiel ihm ein Kleinwagen auf, der vor dem zweiten Garagentor parkte. Er maß ihm keine Bedeutung zu, obwohl ihn aus unerfindlichen Gründen ein komisches Gefühl beschlich. Maggy hatte häufig Gäste, und Brubeck war das sehr recht, weil sie dadurch etwas Abwechslung hatte, aber dieses hässliche kleine Auto war ihm unbehaglich. Was mag das für eine Person sein, die ein solch ungepflegtes Vehikel mit einem Dutzend Beulen und total verdreckten Scheiben fuhr, fragte er sich.

Als er das Wohnzimmer betrat, saßen Maggy und eine blonde, überaus stark gebaute Frau von etwa 50 Jahren bei Kaffee und Kuchen. Maggy stellte sie als Barbara Schwendt vor. Brubeck schaute sie verwundert an und gab ihr die Hand. Modische, weit geschnittene elegante Kleidung, Schal, Schmuck an beiden Händen und leicht übertriebenes Make-up – wie passte das zu der Dreckskarre?

„Trinkst du eine Tasse Kaffee mit uns?“, fragte Maggie, um die Form zu wahren.

„Nein, danke“, lehnte Brubeck genauso förmlich ab. „Ich habe noch zu arbeiten.“

Als er im Begriff war, den Raum zu verlassen, ergriff Barbara Schwendt das Wort.

„Herr Dr. Brubeck, ich würde mich gern mit Ihnen über eine Sache unterhalten. Setzen Sie sich doch einen Moment zu uns.“

„Was gibt´s denn Wichtiges?“, fragte Brubeck und setzte sich in einen Sessel.

„Ich muss mich erst einmal vorstellen“, begann Barbara. „Ich bin die Vorsitzende des Vereins zum Schutz von Kleintieren.“

Brubeck wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte. „Tut mir leid, wir haben keinen Wellensittich.“

„Aber sie haben 48 Ratten im Keller eingesperrt.“

Eingesperrt! Da klang doch eine ganze Menge Aggressivität mit. „Es sind Versuchstiere, ich kann sie nicht frei laufen lassen.“

„Ich möchte Sie im Namen des Vereins bitten, die Quälerei, hmm … die Tierquälerei, umgehend einzustellen und die Tiere in die Freiheit zu entlassen. Jedes Tier hat ein Recht auf ein Leben in Freiheit.“

„Soll ich etwa meine Versuchsreihe abbrechen? Wie stellen Sie sich denn das vor?“ Brubeck überlegte, ob er sie übergehen, verachten oder aus dem Haus weisen soll. Was bildete sich die dumme Kuh ein! „Hier geht´s um Wissenschaft, das verstehen Sie doch hoffentlich.“

Barbara dachte gar nicht daran einzulenken. „Dieses Gefängnis in Ihren Keller, die armen Tiere, die Versuche, wenn Sie Ihnen die Bäuche aufschneiden – das alles ist unmenschlich, in-hu-man. Das müssen Sie doch einsehen!“

Brubeck presste die Lippen aufeinander und zwang sich, aus Höflichkeit zu schweigen. Aber als er in das triumphierende Gesicht seines Gegenüber sah, platzte ihm der Kragen. Schwer atmend sandte er stechende Blicke in ihre Augen. „Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, gute Frau. Wenn Ihr Arzt Ihnen ein neues Medikament verschreibt, sie den Beipackzettel lesen und darin gewarnt wird, dass eine Einnahme zusammen mit den Tabletten XY, die Sie ebenfalls einnehmen, zu Herzrhythmusstörungen und damit möglicherweise zur Lebensgefahr führt, ist das inhuman?“ Er wartete auf ihre Antwort, aber die kam nicht. Deshalb setzte er ein bisschen bösartig nach. „Riskante Wechselwirkungen führen in den meisten Fällen zu Fettleibigkeit, weil sie die Leber massiv belasten. Nur dass Sie es wissen.“

Barbara schluckte trocken. „Das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie dutzendweise Tiere quälen. Überlassen Sie solche Experimente der Forschung. Da geschieht alles nach den gesetzlichen Vorschriften und unter staatlicher Aufsicht. Also seien Sie jetzt vernünftig und geben Sie den Tieren ihre Freiheit zurück. Ich bestehe darauf!“ Sie griff in ihre Handtasche und nahm ein Dokument heraus. „Hier, unterschreiben Sie! Wenn Sie es nicht tun, erstatten wir Anzeige.“

„Was soll ich da unterschreiben?“

„Dass Sie sich verpflichten, die Tiere umgehend freizulassen.“

Brubeck überlegte kurz, dann nahm er sich in aller Ruhe ein paar Weintrauben aus der Obstschale und verließ kopfschüttelnd den Raum.

Nach fünf Minuten betrat er das Wohnzimmer erneut, in der rechten Hand den Griff eines Transportkäfigs, in dem sich 16 Ratten nervös tummelten. Sie waren unruhig, weil sie aus ihrer gewohnte Umgebung entfernt wurden. Während er Barbara mit tiefernstem Blick in die Augen schaute, stellte er den Käfig auf den Tisch, nahm sich eine weitere Weintraube und öffnete seelenruhig den Verschluss.

„Sie wollten doch, dass ich die Tiere umgehend freilasse, oder?“



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Die Ratten taten, was sie in solchen Situationen immer tun. Geleitet von der Witterung größter Gefahr flohen sie und suchten Schutz in erreichbaren dunklen „Verstecken“: unter der Couch, hinter den Kissen auf der Couch und hinter Barbaras Rücken. Sie suchten Gegenstände, die sie mit ihren kleinen Krallen erklettern konnten. Das waren nicht nur die Gardinen und Vorhänge, sondern vor allem Barbaras lockere Kleidung. Besonders geeignet für ein Versteck schätzten sie wohl den weiten Rock, die luftige dunkle Bluse und den Schal aus feinster Kaschmirwolle. Da sie in Panik waren, verhakten sich ihre Krallen mehrfach in ihrer Kleidung und blieben darin hängen. Unter angstvollem Pfeifen versuchten sie, sich zu befreien. Dabei verhakten sich zwei Exemplare noch mehr. Eine der Ratten blieb im Stoff an ihrem Rücken hängen, die andere im Schal über ihrem Ausschnitt.

Barbara schrie und kreischte in einer Lautstärke, die Todesangst vermuten ließ. Schließlich versuchte sie aufzustehen und das Tier im Schal durch Schläge zu vertreiben, aber dadurch wurden die anderen noch panischer. Und als eine sich auch noch in ihrer Kniekehle verhakte und sich partout nicht von dem Nylonstrumpf befreien ließ, stürzte sie kopflos aus dem Raum, eilte zur Haustür und stolperte ins Freie. Die 17-stufige Außentreppe schaffte sie nicht mehr. Mit ihrem Übergewicht auf den erhöhten Absätzen ihrer Schuhe konnte sie die Balance nicht mehr halten und stürzte elendig. Als sie die letzte Stufe, offensichtlich noch lebend, aber mit Knochenbrüchen, bewältigt hatte, schlug sie mit dem Kopf gegen einen steinernen Sockel.



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Brubeck war klug genug, nicht nur den Krankenwagen, sondern auch die Polizei zu rufen. Als Kommissar Rolf Becker, mit dem er in der Jungendmannschaft des SV Eschenbergen Fußball gespielt hatte, eintraf, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Becker war ein Mann der Vernunft. Als er sich die Schilderung des Vorfalls angehört hatte, grinste er verschmitzt. „Die hat uns schon genug Ärger gemacht“, flüsterte er, zückte ein kleines Notizbuch und begann, Stichpunkte aufzuschreiben.

„Also, ich wiederhole noch einmal“, begann er und sah Brubeck ins Gesicht. „Du hast ihr die zwölf Ratten zeigen wollen, damit sie sich vergewissern konnte, dass sie in gutem Zustand sind. Du stellst den Käfig auf den Tisch, und dabei öffnete sich die Klappe. Ehe du reagieren konntest, waren alle Tiere schon draußen. Ist das so richtig?“

„Ja, Rolf, genau so war´s.“
 

rubber sole

Mitglied
Hallo Bo--ehd,

gut konstruiert und gut erzählt, deine Geschichte - das bo-ehd-typische Finale passt wieder perfekt!

Gruß von rubber sole.
 

Bo-ehd

Mitglied
Danke, rubber sole, der Tod am Schluss dieser humorigen Geschichte musste leider sein, sonst hätte die Pointe mit Becker nicht funktioniert.
 

Matula

Mitglied
Hallo Bo-ehd,

ich habe Vorbehalte. Die Frage, weshalb Frau Brubeck die Arbeit ihres Mannes abstoßender findet, wenn er sie im Keller und nicht in einem entfernten Labor verrichtet, ist interessant. Man denkt an unbewusste Phantasien und Abwehrreaktionen. Hier gibt es aber keinen Erklärungsversuch. Stattdessen ein zweiter Teil, der Slapstick-Charakter hat und die Frage aufwirft, wieso sich eine passionierte Tierschützerin vor sechzehn Ratten fürchten sollte. Immerhin werden sie schon seit geraumer Zeit als Haustiere gehalten. Außerdem ist unklar, - und hier wird die Geschichte richtig "schlüpfrig" - warum sich die Tierchen ausgerechnet zu nur einer der drei anwesenden Personen flüchten. Man denkt, die Tür zum Grundstück steht doch offen, weil Frau Schwendt schließlich ohne weiteres hinausrennt. Wäre es da nicht naheliegend, dass auch die Ratten den Weg ins Freie suchen ?

Schöne Grüße,
Matula
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Matula, danke für deine Anmerkungen.
Das ist ja ein ziemlich konservatives Ehepaar, was sofort an den Dialogen erkennbar ist. Maggy weiß nur, dass er in einem Forschungslabor arbeitet und biochemische Untersuchungen an Versuchstieren leitet, sich also mit der wissenschaftlichen Essenz beschäftigt. Das Sezieren, das sicher nicht zu seinen Hauptaufgaben gehört, wird normalerweise von den pharmatechnischen Assistenten vorgenommen.
Der wesentliche Unterschied ist aber, das sie nicht miterlebt, was er an der Arbeit tut, von der Arbeit im Keller aber dies und das mitbekommt. Und wenn es nur Blutspritzer an seiner Schürze sind.
B. stellt den Käfig so auf den Tisch, dass die Klappe zu Barbara zeigt. Dann öffnet er sie. Die Ratten laufen jetzt nicht um den Käfig herum, sondern suchen Unterschlupf in den dunklen Winkeln vor ihren Augen. Und da sitzt nun mal nur Barbara. Maggy sitzt auf dem gegenüberstehenden Sessel, Brubeck steht.
Furcht vor Ratten: Barbara ist der Verkehrsrichter ohne Führerschein, die junggesellige Scheidungsanwältin. Sie ist 1. Vorsitzende aus Verlegenheit, weil kein anderer diesen Job machen will. (Ich war mal Mitglied in einem Anglerverein. Da hat der Vorsitzende übers Jahr 500 Fliegen gebunden, aber am Wasser mit der Angelrute in der Hand haben wir ihn nie gesehen). Vielleicht hat sie zu Hause ein paar Zebrafinken, ein Bezug zu Ratten hat sie nicht, und zu solchen, die sich in ihrer Kleidung verhaken, erst recht nicht.
Auf der Flucht nach draußen ist die Tür schnell geöffnet. Ob die Ratten das Weite suchen, ist nicht die Geschichte.
Schade, dass das alles nicht so rübergekommen ist.
Gruß Bo-ehd
 

steyrer

Mitglied
Ein flüchtiger Eindruck:

Hier herrscht ein eiskaltes Klima, was auch daran zu erkennen ist, dass der Polizist diesen zufälligen und absurden Tod offensichtlich recht amüsant findet. Dazu passt das Experimentieren an Ratten, die selbst ein schreckliches Image haben.

steyrer
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo steyrer,
ja, da ist keine menschliche Wärme drin; die Parteien stehen ja unter höchster Spannung, was man natürlich auch wärmer rüberbringen kann. Gebe dir Recht. Meine Kurzgeschichten (auch diese) sind normalerweise 15 bis 25 000 Anschläge lang, was erfahrungsgemäß hier im Forum zu lang ist. Deshalb kürze ich sie ein, wobei manchmal die Charakterzeichnung und damit die Stimmung auf der Strecke bleibt.
Becker findet den Tod der Dame übrigens nicht amüsant, eher befreiend, denn sie hat zurückliegend reichlich Ärger gemacht. Da das alles schwarzer Humor sein soll, dachte ich da ganz richtig zu liegen.
Gruß und danke für den Kommentar.
Bo-ehd
 



 
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