Bruchlinien - Eine Vorgeschichte (Teil 1)

Er hieß Wolff, so wie andere Hirsch oder Löw, und war der Vater der Mutter meiner Mutter. Persönlich lernte ich ihn nicht mehr kennen, er war zwanzig Jahre vor meiner Geburt gestorben. Seine Fotografie hing im Wohnzimmer der Großeltern, diesem kleinen Staatszimmer, das wenig genutzt wurde. Das Bild war kurz nach 1900 aufgenommen und zeigte einen vorzeitig gealterten Dreißiger im langen schwarzen Rock. Der Urgroßvater schien am Waldrand fotografiert worden zu sein, vielleicht bei einer Landpartie. Aber das war eine Illusion, die der Fotograf in der damals üblichen Weise erzeugt hatte: Der Kunde war vor einer großen Landschaftsaufnahme im Atelier postiert worden. Vielleicht hatte der Künstler ihn auch angewiesen, wie er sich gewichtig auf den Spazierstock zu stützen habe, der ihm doch ebenso ungewohnt gewesen sein dürfte wie der feine, selten getragene Rock. Ich bewunderte immer wieder das scheinbar Natürliche dieser Pose. Der Spazierstock schien tatsächlich im Herbstlaub zu stochern.
Oft stand ich als Kind vor dem rätselhaft altertümlichen Bild des Vorfahren, betrachtete es mit Verwunderung, ließ mich von ihm anziehen. Am stärksten beeindruckte mich der an seinen Enden ein wenig herabhängende Schnurrbart. Diese Barttracht war in den Tagen meiner Kindheit ganz aus der Mode gekommen. Unter den vielen Neffen und Cousins, Großonkeln und Schwägern in unserer Verwandtschaft gab es keinen, den ein Oberlippenbart geziert hätte. Auch Vollbärte wurden, wenn ich mich recht erinnere, nicht getragen. Fern und fremd erschien mir allein schon wegen seines Schnauzers dieser Urgroßvater. Zwei Jahrzehnte später waren Schnurrbärte wieder sehr beliebt, besonders in gewissen Kreisen junger Männer, deren Geschmack für mich maßgeblich zu werden begann. Und so befremdete ich meine Eltern und Großeltern gut vierzig Jahre nach dem Tod des Alten bei einem Besuch daheim dadurch, dass ich die unterbrochene Barttradition auf einmal fortführte. Die Großmutter tröstete sich über den verfremdeten Anblick des Enkels mit der Bemerkung hinweg: „Vor dem ersten Krieg hat der Opa ja auch einen Schnurrbart getragen.“ War er der Novemberrevolution zum Opfer gefallen? Als ich ein Jahr später das nächste Mal kam, trug der Großvater, damals Mitte achtzig, nun seinerseits auch wieder den Schnauzbart. Doch mein Vater blieb standhaft bartlos, er war dafür häufig unrasiert, wenn ich sie besuchte. Ich kam damals nur über die Weihnachtstage zu ihnen, erst von Berlin und später von Hamburg aus.
Der Gesichtsausdruck des Urgroßvaters gab mir damals Rätsel auf, er ließ sich nur schwer deuten. Nicht heiter, ernst war der Mann, da irrte man wohl kaum. Würde schien er auszustrahlen – aber worauf beruhte sie? Blickte er streng? - Eigentlich nicht. Oder war er eher mild? - Das blieb ungewiss. Ich brauchte viele Jahre, bis ich die Stimmung zu erkennen glaubte, in der er sich befunden haben musste, seinerzeit vor der Kamera. Ich war selbst schon erwachsen und versuchte mir den Eindruck der alten Fotografie ins Gedächtnis zurückzurufen, da ich längst nicht mehr in jenes stille, immer ein wenig muffige Zimmer gehen konnte. Meine Großeltern waren umgezogen, das Bild war nicht wieder aufgehängt worden. In welcher Schublade es lag, wusste ich nicht. Ich sagte mir nun: Der Urgroßvater war müde, nichts weiter, das war doch ganz natürlich. Denn der Alte war kein Gutsherr und kein Kommerzienrat, trotz schwarzem Rock, Spazierstock und raschelndem Laub unter hohen Bäumen. Er war Arbeiter im Eisenwerk und ernährte damit Frau und zehn Kinder. Der Zehn- oder Zwölfstundentag war sein Alltag, seine Arbeitswoche hatte sechs Tage und oft stand er auch an einem Sonntag am Hochofen, der nicht erkalten durfte. Vielleicht war er nach einer Schicht zum Fotografen gegangen, erschöpft zwar, doch erst nach gründlicher Reinigung im Badehaus des Eisenwerks.

Was hat mich heute, Jahrzehnte nach der Niederschrift dieses Berichts, dazu gebracht, ihn in der kleinen Kammer aufzustöbern und wieder einmal durchzugehen? Wollte ich seinen Stil verbessern, um ihn vielleicht doch zu veröffentlichen? Mit diesen kleinen Korrekturen habe ich ja schon angefangen … Dann hole ich das alte Porträt aus dem Spalt zwischen zwei Schränken, wo es bloß aufbewahrt wird und nicht betrachtet werden kann. Ich stelle es auf meinem Schreibtisch vor mir auf – ist das der Mann, den ich aus dem Gedächtnis beschrieben habe? Seine Schnurrbartenden hängen gar nicht herab, der kleine Bart ist scharf gestutzt, bildet eine gerade Linie, so wie bei mir selbst auch. Ist die Aufnahme vielleicht doch nicht im Atelier, sondern draußen wirklich in der Natur gemacht worden – dann hätte ich die Illusion einer Illusion beschrieben. Ich kann das jetzt nicht aufklären. Der Rock ist weniger lang als in meiner Erinnerung bisher. Dieser Herr Wolff scheint mir jetzt ein Mann unbestimmbaren Alters, doch gewiss jenseits der Vierzig zu sein. Er trägt einen schwarzen Hut und sein Mund steht einen schmalen Spalt offen. Es ist ein kleingewachsener Herr, der, über irgendetwas sinnend, in die Kamera blickt. Seine Züge kommen mir ausgesprochen weich vor und ich denke daran, dass mir sanfte Männer am liebsten sind. Das gerahmte Hinter-Glas-Porträt, nach Omas Tod mir von Mama überlassen, ist schon lange in meinem Besitz und erst jetzt vergleiche ich das Bild mit der Erinnerung?

Der Alte war ein gottergebener Mann. Sein Wahlspruch soll gelautet haben: „Man geht immer mit der Herde, dann ergeht es einem wie der Herde.“ Ich zitiere hier die Großmutter, seine Tochter, und übersetze sie, so gut es geht, aus ihrer rheinfränkischen Mundart ins Hochdeutsche. Gern ließe ich diese Sprache selbst zu Wort kommen. Zwar fehlen ihr Wohlklang und Musikalität, doch dafür drückt sie das schlichte Behagen einfacher Leute gut aus, wie es meine Vorfahren waren. Ich beherrsche den Dialekt nicht mehr. Als ich nach Norddeutschland ging, gab ich ihn auf, wie Sperrmüll, das man auf die Straße stellt. - Zurück zum alten Wolff und seiner Schafsphilosophie. Herr der Herde, der er zugehörte, war der Freiherr von Stumm, Schwerindustrieller und Reichstagsabgeordneter, geadelt erst von Wilhelm II. Über seine Eisen- und Stahlwerke, seine Kohlengruben sowie die Arbeitersiedlungen – nur Anhängsel seiner Unternehmen – herrschte er so unumschränkt, dass man damals vom Königreich Stumm sprach. Stumm schrieb:

„Sollte ich jemals verhindert werden, den Arbeiter auch in seinem Verhalten außer dem Betrieb zu überwachen, so würde ich keinen Tag länger an der Spitze der Geschäfte bleiben, weil ich dann nicht mehr imstande sein würde, die sittliche Pflicht zu erfüllen, welche mir mein Gewissen vor Gott und meinen Mitmenschen vorschreibt. Ein Arbeitgeber, dem es gleichgültig ist, wie seine Arbeiter sich außerhalb des Betriebes aufführen, verletzt meines Erachtens seine wichtigste Pflicht.“

Auch das Königreich Stumm war also von Gottes Gnaden. Um es vor Verfall und Untergang zu bewahren, zog Stumm ein Netz von Grundsätzen und peinlichen Vorschriften über die Belegschaften seiner Werke. Jeder einzelne Arbeiter war ihnen untertan und Wolff gehorchte in allem. Wer sich vor dem fünfundzwanzigsten Geburtstag zu verehelichen gedachte, dem wurde mit unverzüglicher Entlassung gedroht; Wolff hütete sich, davor zu heiraten. Stumm duldete keine Gewerkschaften und bekämpfte die Sozialdemokratie; Wolff hielt sie auch für Teufelswerk und sich von ihnen fern. Stets befolgte er das Stummsche Gebot, sonntags zur Kirche zu gehen, falls er nicht gerade am Hochofen stand. In seiner Frömmigkeit fühlte er die Verpflichtung, reichlich zur Kollekte beizusteuern, obwohl die Ernährungslage zu Hause nicht selten kritisch war. Das Tischgebet war selbstverständlich, und Klara, die älteste Tochter, erhielt einen strengen Verweis, als sie sich einmal die Bemerkung erlaubte: „Für so einen Saufraß soll man auch noch beten!“ Die Kinder bekamen sonntags, wenn es zum Gottesdienst ging, ein paar kleine Münzen für den Klingelbeutel, die drei ältesten Schwestern jedoch behielten sie bereits für sich und kauften auf dem Heimweg davon Süßigkeiten.
Größere Sorgen als die sieben Mädchen bereitete Gustav, der intelligenteste der drei Jungen. Als er vier Volksschuljahre durchlaufen hatte, erschien eines Tages sein Lehrer in der elterlichen Wohnung. Er legte Herrn Wolff nahe, den Jungen aufs Gymnasium zu schicken; Herr Wolf möge sich an dem ungewöhnlich begabten Kind nicht versündigen. Aber der Vater sah weder einen Weg noch dass dieser Weg erstrebenswert sei – sie seien und sie blieben kleine Leute und hätten für hohe Schulen kein Geld. Zehn, zwölf Jahre vergingen. Gustav begann eine Rolle in der Gewerkschaft zu spielen. Da erschien wieder eine Autoritätsperson im vierten Stock des Mietshauses in der Wilhelmstraße. Diesmal war es der Pfarrer und er hielt Herrn Wolff vor, dass Gustav sich von der Kirche abgewandt habe. Erregt stellte der fromme Protestant den Sohn zur Rede. Als er einsehen musste, wie gefestigt Gustav im Unglauben war, geriet er in Zorn: „Daran sind die Bücher schuld!“ rief er und wies auf die Gesammelten Werke Goethes und Schillers, die der Sohn auf einem Regal stehen hatte.

Wie glaubwürdig ist heute für mich das Bild, das Oma mit solchen Details von ihrem Vater entwarf? Sie war überzeugte Atheistin und in ihrer religionsfeindlichen Haltung stark von Opa beeinflusst. Das Platte ihrer Argumentation und das durchschimmernde ablehnende Gefühl gegenüber jedem Religiösen fielen mir schon früh auf. Dass Bibelübersetzungen bei der Übertragung einzelner Ausdrücke voneinander abweichen konnten, führten die Großeltern als Beweis dafür an, dass die Bibel eben nicht Gottes Wort, sondern Menschenwerk sei. Und Oma grauste es geradezu vor den auffallend geformten Blüten der Schwertlilien, das seien katholische Blumen, sagte sie.
Ich erinnere mich nicht, dass Oma viel emotionale Nähe zu ihren Eltern erkennen ließ. Sie, die auf jedes Geschwister stark gefühlsmäßig reagierte, bezeigte ihrer Muttter gegenüber – die uralte Frau lebte in meiner Kindheit noch – bloß höflichen Respekt. Doch in einem Punkt hatte ihr Vater ihr Mitgefühl erregt. Sie schilderte noch lange nach seinem Tod, wie erschöpft er jeweils heimgekommen sei, wenn er alle paar Wochen turnusmäßig zwei Schichten hintereinander abzuleisten hatte.
Eine bestimmte Sache, die mich bald stark interessierte, erwähnte Oma nie. Hier konnte ich mich nur an Mamas Auskünfte halten ...

Es konnten Frömmigkeit und loyale Gesinnung des Urgroßvaters noch einen besonderen Hintergrund gehabt haben. Möglicherweise war er jüdischer Herkunft und entweder selbst konvertiert oder der Nachkomme von Übergetretenen. Er war um 1890 aus Baden gekommen und Weiteres über seine Wurzeln war nicht überliefert. Unter Hitler ließen seine Kinder dort in Kirchenbüchern und Standesamtsregistern nachforschen. Der Ariernachweis war nicht zu erbringen.
Zu der Zeit, als der Lehrer Gustavs wegen den Urgroßvater aufgesucht hatte, war Stumm schon einige Jahre tot. Die Hüttenstadt hatte ihm inzwischen in ihrem Zentrum, also genau vor dem Werkstor und im Schatten der Hochöfen, ein steinernes Abbild errichten lassen. Die Straßenbahnen, die zur selben Zeit eingerichtet wurden, fuhren nun zum „Stumm-Denkmal“. Es steht noch immer dort, wenn auch die Hochöfen längst erloschen sind. Die Einheimischen nennen den Freiherrn von jeher „Schlacke-Karl“. Von allem, was Stumm für Krieg und Frieden produziert hatte, schien dem Volksmund Schlacke, die sich in der früher idyllischen Landschaft zu Bergen türmt, das Dauerhafteste und am meisten Kennzeichnende zu sein. War der Bildhauer ein Stümper oder ein verkappter Sozialdemokrat? Dieser Stumm ist viel weniger ein Herr als mein Urgroßvater auf jener Aufnahme. Es ist vielleicht das Denkmal eines Vorarbeiters im Sonntagsstaat, vielleicht ist es auch ein Ingenieur, der für kurze Zeit dem Hochofen den Rücken kehrt, um zuzusehen, wie der Wind die Rußwolken auf die Stadt zutreibt. Die sittliche Verpflichtung, auf die Stumm, sich so eifrig berief, spricht nicht aus diesen Zügen – eher aus jenen meines Urgroßvaters. Mit seiner schwer durchschaubaren Würde wirkte er auf mich viel vergeistigter als der banale Fabrikherr.

Für Mama bestand kein Zweifel an der jüdischen Herkunft ihres Großvaters. Damit verquickte und begründete sie im Gespräch und auch in Briefen ihre private Aversion gegen die Wolff-Wurzel im Stammbaum. Sie schätzte weder ihre Mutter noch deren Geschwister, sie sprach und schrieb immer wieder abschätzig von den „Wölffen“. Sie ging sogar so weit, mich aufzufordern, auf keinen Fall später etwas den Verwandten ihrer Mutter zu hinterlassen. Ihre Kritik an deren Wesen und Lebensführung war im Kern antisemitisch. Es ging zunächst ums Materielle, um Geschäftstüchtigkeit und Vermögensansammlung. Damit in Zusammenhang brachte sie auch die Lebensäußerungen: persönliches Auftreten, Reden, Anzeichen nervöser Veranlagung. Sie blendete vollkommen aus, dass die zehn Geschwister sich individuell stark unterschieden, sowohl im Charakter wie im Lebenslauf. Unklar bleibt, ob Mama sich der judenfeindlichen Klischees bediente, um ihre persönliche Abneigung gegen Verwandte zu rechtfertigen – oder ob eher der Zeitgeist ihrer Schulzeit den Blick auf sie getrübt hatte. Sie zeigte später keinerlei Sympathie für Hitler und den untergegangenen NS-Staat, doch wenn sie über jüdische Viehhändler sprach, klang es unrevidiert antisemitisch. Manchmal sagte sie, sie fürchte, im Alter ihrer eigenen Mutter ähnlich zu werden. War das ein Anzeichen von jüdischem Selbsthass - falls es ihn überhaupt gibt?

Hatte ich genug davon, den Anblick des Urgroßvaters zu studieren, ging ich hinüber zum Buffet. Das war ein düsteres schwarzlackiertes Möbel, in dem Schillers Gesammelte Werke standen; nicht ausgeschlossen, dass die Bände aus Gustavs Nachlass gekommen waren. Ich habe Gustav so wenig kennengelernt wie den Urgroßvater. Seine Existenz wurde mir in dem Zeitpunkt bewusst, als sie gerade aufgehört hatte. Ich war etwa vier Jahre alt, als die Großmutter einmal sonderbar aufgeregt in der Wohnung umherlief und dann schwarzgekleidet, wie ich sie noch nie gesehen hatte, das Haus verließ. Drei Tage später trug sie wieder diese seltsamen Gewänder und ging, schon weniger aufgeregt, zum Begräbnis ihres Lieblingsbruders. Was war das: der Tod?
Ob sie nun Schillers Werke von Gustav geerbt oder sich vielleicht unter seinem Einfluss diese zehn grünen Halbleinenbände angeschafft hatten, ich sah die Großeltern nie darin lesen. Im Alter von ungefähr acht Jahren nahm ich die verstaubten Exemplare nacheinander aus dem Regal. Ich las „Die Braut von Messina“ und „Don Carlos“. Ich las langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, die ganzen langen Dialoge. Aber ich verstand kaum etwas vom Inhalt. Worum ging es nur in diesen verwickelten Angelegenheiten, die da ernsthaft und langatmig besprochen wurden, mit Ausdrücken, die mir fremd waren? Mit dem Demetrius-Fragment kam ich gar nicht zurecht und verlor infolgedessen die Lust, weiter Derartiges zu lesen. Dann ging ich zu den historischen Abhandlungen über, die ich besser verstand. Die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ und der „Abfall der Niederlande“ regten meine Phantasie stark an. Bald bedauerte ich, dass sich derart bunte Geschichten zu meiner Zeit nicht mehr zutrugen. Die Kurfürsten und Erzherzöge waren vollkommen, die Kaiser und Könige weitgehend ausgestorben. Als die zwei Werke ausgelesen waren, setzte ich sie fort, indem ich ähnliche Geschichten erfand und auf kleinen Notizblöcken, mir vom Kaufmann geschenkt, hinschmierte. Souverän schaltete ich mit der Staatenwelt des Absolutismus. Koalitionen entstanden, die in keinem Geschichtsbuch verzeichnet sind, der Wissenschaft unbekannte Herrscher saßen nun auf den alten Thronen. Städte wurden neu befestigt und mörderische Kriege ließ ich führen, Kriege vor allem. Hatte ich zwei- oder dreihundert Jahre Geschichte neu geschrieben, fing ich von vorn an. Große Staaten zerfielen, kleine schlossen sich zusammen zu wieder ganz anderem Verlauf. Nach einem halben Jahr verlor dieses Spiel seinen Reiz. Meine Eltern und Großeltern lasen meine Abhandlungen so wenig wie die Schillers, sie bemängelten nur, meine Handschrift sei durch diese Übungen flüchtig und unleserlich geworden.
Die seltenen Gäste in der guten Stube meiner Großeltern konnten Schillers Werke durch die dunkel getönten Glasscheiben des Buffets noch undeutlich wahrnehmen, doch der bessere Lesestoff, das wusste ich, befand sich unsichtbar hinter einer der kleinen Türen der linken Schrankseite. Hier lagen immer zwei oder drei Bände, die mein Großvater sich in der Gemeindebücherei auslieh, und hier stieß ich als Achtjähriger auf die Geschichte jener Kaufmannsfamilie aus Lübeck. Ich verschlang die siebenhundert Seiten heimlich, vor dem Buffet stehend und mit vielen mir sehr unwillkommenen Unterbrechungen. Ich wusste recht gut, dass für meine Großmutter das Lesen von Romanen eine schlechte Sache war. Worüber sie bei dem Großvater aus gewissen Gründen hinwegsah – ich komme darauf noch zurück -, das hätte sie mir gewiss nicht durchgehen lassen. Wenn ich sie also von der Küche heranschlurfen hörte, warf ich das Buch schnell in das kleine Fach und setzte die heuchlerische Unschuldsmiene auf, über die manche Kinder verfügen. Scheinbar kam ich gerade vom Fenster her, wo ich die Straße beobachtet hätte und wollte angeblich zurück in die Küche, die viel größer als das Wohnzimmer und der eigentliche Aufenthaltsraum war. Das Knarren der Schranktür wurde gewöhnlich durch das Quietschen der schlecht geölten Zimmertür überdeckt.
Die Geschichte aus Lübeck beschäftigte mich noch mehr als der Dreißigjährige Krieg. Mehr als irgendein trauriges Geschehen, das sich in diesen ereignisarmen Jahren in meiner unmittelbaren Umgebung zutrug, betrübte mich Hannos Tod. Gerdas Abreise nach Amsterdam und die Trauer der überlebenden alten Frauen in Lübeck waren für mich wirklicher als die banalen Erlebnisse mit meiner eigenen Verwandtschaft. Längere Zeit beschäftigte ich mich damit, wie die von mir so ernst genommene Familie vor dem Aussterben bewahrt werden könnte. Es gab nur eine Möglichkeit: Toni musste ein drittes Mal heiraten. Ob sie noch im gebärfähigen Alter war, darüber hatte ich allerdings schon einige Zweifel. Ich ging nicht so weit, das Werk des Nobelpreisträgers auf Notizblöcken fortzusetzen. Nur fand ich bald heraus, dass sich dieser Roman gut zur mündlichen Nacherzählung eignete. In jenem Sommer verbrachte ich Nachmittage damit, einzelnen Jungen aus der Nachbarschaft die Familienchronik der Getreidehändler in Kurzfassung vorzutragen. Wenn ich mich nicht täusche, fand ich damals größeres Interesse als später, wenn mich wieder ein Buch tage- und wochenlang nicht losließ und ich eine fremde Geschichte mit anderen teilen wollte.

Ein oder zwei Jahre später wurde mir klargemacht, was es mit Fiktion auf sich hat. Ein Jugendbuch hatte mich so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich mich mit einem begeisterten Brief an die Helden, eine Gruppe junger Menschen auf einem Schloss in Südfrankreich, wandte. Oma war zunächst sprachlos – das kam selten bei ihr vor -, als sie den von der französischen Post als unzustellbar retournierten Brief gelesen hatte. Versonnen schwieg sie eine Zeitlang und bereitete mir dann sichtlich ungern die aufklärende Enttäuschung: dass alles nur erfunden sei. Ich muss es gut verkraftet haben, las weiter Erzählendes und als ich mit elf oder zwölf Mitglied einer Buchgemeinschaft wurde, bestellte ich als Erstes „Buddenbrooks“. Manche Textstellen prägten sich mir bald wörtlich so tief ein, dass sie mir seitdem bei vielen Gelegenheiten sogleich in den Sinn kommen: Assez, Christian, dieses interessiert uns durchaus nicht … Er hatte sein Latein gleichfalls nicht völlig vergessen … Diesem diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungsinstinkte so sehr abhanden gekommen, dass er sich usw. Womöglich zitiere ich nicht ganz korrekt. Das Buch steht bei mir noch in einem Regal, aber ich bin schon lange nicht mehr so vertraut mit ihm, dass ich die Stellen rasch finden würde.

Mein Großvater bevorzugte sonst damals geographische Werke, die mich erst einige Jahre später zu interessieren begannen. Der alte Mann war mit den Jahren ein großer Reisender im Lehnstuhl geworden. Seine eingehende Beschäftigung mit Ländern, die er nie gesehen hatte, empfand ich als ähnlich rätselhaft wie die altertümliche Barttracht des Urgroßvaters. Das war eine Sache, die nur mein Großvater betrieb und die allen anderen in meiner Umgebung fremd war. Sie schien mir eines seiner charakteristischen Merkmale zu sein, vergleichbar dem dauernden Räuspern eines Großonkels oder der rötlichen Narbe auf dem Handrücken einer Tante. Allerdings nötigte diese Lektüre nicht allen in der Familie Respekt ab. Insbesondere meine Eltern hatten dafür nur Hohn und Verachtung übrig. Der Großvater hatte zudem noch, wie manche alten Leute, die Eigenart, immer wieder von denselben Dingen zu erzählen, wobei er stets voraussetzte, seine Zuhörer hätten von diesen Lesefrüchten noch nie gehört. In Wirklichkeit hatte er uns etwa die Geschichte von den Kaninchen in Australien schon mehr als ein Dutzend Mal erzählt. Wenn er bei der Kartoffelernte so seine Arbeit unterbrach und, sich auf die Hacke aufstützend, mit bedeutsamer Miene berichtete, wie der fünfte Kontinent ursprünglich gar keine Kaninchen gekannt habe, wie diese dann von Einwanderern, Sträflingen nämlich, eingeschleppt worden seien und sich so ungeheuerlich vermehrt hätten, dass sie von den Farmern mit außerordentlichen Mitteln hätten bekämpft werden müssen -, wenn er also dies uns längst Bekannte vortrug, das ihn viel mehr als uns zu beeindrucken schien, so prustete meine Mutter, die hinter ihm arbeitete, schon nach den ersten zwei Sätzen los. Sie äffte ihn sogar nach und griff ihm auch vor, indem sie mit fuchtelnden Armen die Jagd der Bauern auf die Tiere andeutete, während ihr Vater noch bei den Sträflingen war. Sein Schwiegersohn schwang noch verbissener als sonst die Hacke und tat, als hörte er gar nicht hin. Der Alte schien dieses unfreundlichen Reaktionen nicht zu bemerken, er erzählte mit epischer Breite weiter, bis die Kaninchenplage endlich eingedämmt war.
Seltsam, dieser Mann kam die letzten fünfzig Jahre seines Lebens nicht mehr aus seinem Nest heraus, war jedoch in seinen ersten vierzig Jahren mehr herumgekommen als alle diejenigen zusammen, die ihn auf dem Kartoffelacker verspotteten. Sein Vater, ein Bergmann, hatte ihn in eine Lehre unter Tage stecken wollen. Doch der junge Wilhelm wusste etwas Besseres und erreichte, dass er Setzer werden durfte. Kaum war er Geselle geworden, verschwand er aus unserer Gegend, ohne groß Abschied zu nehmen. Er war entschlossen, einige Jahre durch die Welt zu ziehen, zu arbeiten, wo er Arbeit finden und noch dazulernen könnte, und dort zu bleiben, wo es ihm am besten zusagen würde. Mein Großvater gehörte so zur letzten Generation von Handwerksburschen, die zu Fuß von Stadt zu Stadt wanderten. Als Mitglied der Druckergewerkschaft bekam er in jeder deutschen Stadt, in der er nicht gleich Arbeit fand, ein Handgeld der Organisation. Allerdings zog es Wilhelm vor allem ins Ausland. Da er keine Fremdsprachen beherrschte und lange Fußmärsche noch nicht gewohnt war, ging er zunächst nur ins nahe Luxemburg. Dort arbeitete er einige Monate und sparte sich den Betrag zusammen, der ausreichte, einige Wochen durch Frankreich zu ziehen und vor allem Paris kennenzulernen. Er stellte bald fest, dass ihn die Franzosen nur dann freundlich behandelten, wenn er vorgab, aus Süddeutschland zu kommen, nicht jedoch aus Preußen, dessen letzten Zipfel unsere Gegend damals bildete. Von Paris wanderte er durch Burgund in die Schweiz. Wie lange er dort blieb und ob er Arbeit fand, weiß ich nicht. Er erwähnte gelegentlich, dass er danach in Wien und Prag gearbeitet habe. Von Prag kam er nach Berlin und die Riesenstadt gefiel ihm gar nicht. Dennoch hielt er ein halbes Jahr in einer kleinen Druckerei in Friedenau durch, bis er sich wieder einmal über den Inhaber ärgerte und nach Hamburg weiterzog. Später kam er auch ins Ruhrgebiet. Etwa drei Jahre nach seinem Aufbruch erreichte er Dresden und hier gefiel es ihm am besten. Er fand die Stadt schön, die Menschen umgänglich, die Arbeit erträglich und dachte nicht mehr an Ortswechsel. Seine Militärzeit zwang ihn dazu.
Bevor er für drei Jahre in einer Kölner Kaserne verschwand, ließ er sich daheim kurz blicken, wo man erstaunt war, den Vermissten lebend wieder zu sehen. Über die Rekrutenzeit sprach er bis ins hohe Alter nur mit Empörung. Der Stumpfsinn des Kasernenlebens war ihm zuwider, den Drill der Exerzierplätze hasste er. In Köln sah er bei einer Truppenschau den Kaiser aus nächster Nähe, doch für ihn war Seine Majestät nur einer der „Potentaten“. Das war eine seiner Lieblingsvokabeln, die er beim Erzählen als Fanfarenklang herausstieß, deutlich artikuliert, lautstark, kriegerisch. Dann war die Militärzeit vorüber, Wilhelm kehrte nach Dresden zurück. Der Sommer 1914 kam. Unmittelbar nach der Kriegserklärung gingen Hunderte von Arbeitern, er unter ihnen, auf die Straße. Sie protestierten vor dem Rathaus und erklärten, nicht ins Feld ziehen zu wollen. Polizei zog auf und drohte, in die Menge zu schießen. Da zerstreuten sie sich. Wilhelm wurde eingezogen und stand vier Jahre in Frankreich. Über diese Zeit sprach er im Alter nie. Zwei seiner vier Brüder waren gefallen.
Warum ging Wilhelm nach dem Krieg nicht ein drittes Mal nach Dresden? Er hätte es gern getan, aber die Not der Zeit ließ es nicht zu. In Dresden war, wie in allen Großstädten, gegen Kriegsende gehungert worden und der Frieden besserte die Lage nur allmählich. Daheim im Bergmannsdorf besaßen die Eltern wie die meisten dort ein kleines Haus mit großem Garten. Das Haus war an eine Berglehne gebaut, der Keller war zur Straße hin Stall für eine Milchkuh, deren Futter auf dem steilen Hang wuchs. Auf der anderen Straßenseite lag der flach abfallende Gemüsegarten. Wilhelm entschied sich (nur zunächst einmal, wie er dachte) für die Milchkuh und den Gemüsegarten und sein kleines Zimmer im Dachgeschoss des Elternhauses. Der Mann war seinem Wesen nach ein Städter und sein Interesse galt den sozialen und politischen Kämpfen seiner Zeit, die vor allem in den Städten ausgetragen wurden. Nur notgedrungen freundete er sich mit einer halbländlichen Existenz an. Der alte Mann, den ich als Kind erlebte, war gleichzeitig in den großen Städten damals um 1910 und auf den Feldern meines Vaters zu Hause. Die Städte existierten so nur noch in seiner Erinnerung. Zurück ins Jahr 1919: Wilhelm fand Arbeit bei der Lokalzeitung und fuhr mit der Straßenbahn in die nahe Hüttenstadt. In dieser ersten Nachkriegszeit trat er in die KP ein.

Proletarisch wirkt er auch auf den Fotos aus meinen Kindertagen – ein Rentner-Proletarier in gutem Ernährungs- und Gesundheitszustand. Er lehrte mich, wie man Schnürsenkel zubindet, wie man die Zeit von der Wanduhr abliest. Als ich weiter heranwuchs, nahm sein Interesse an mir immer mehr ab. Ich war gut sechzig Jahre jünger, ich war die Zukunft, an der er nicht mehr teilhaben würde. Seine Vergangenheit? Er hatte sie überlebt, jetzt überlebte ihn allmählich unsere Gegenwart, die er nicht abzulehnen, nur ernüchtert und skeptisch zu betrachten schien. Er hätte den einzigen Enkel stark beeinflussen können, aber er blieb lieber für sich.
Einmal ärgerte ich ihn dadurch, dass ich ihm meine erste Armbanduhr vorführen wollte. Er selbst trug keine und begann zu schimpfen. Dieser Ex-Kommunist zitierte sogar Bismarck, der gesagt haben sollte: Wozu braucht ein Arbeiter eine Uhr?! Ich fiel ein weiteres Mal unangenehm auf, als ich seine falsche Aussprache des Wortes Jazz korrigierte. Bei solchen Gelegenheiten erwies sich seine philosophische Fassade als brüchig. Jetzt bin ich selbst so alt wie er damals und versetze mich leicht in ihn hinein. Geht es mir heute im Verhältnis zu den Jungen nicht ähnlich wie ihm? Dass ich keinen Enkel habe, macht es die Kalamität etwa leichter erträglich?

Das Jahr 1920 wurde zum großen Einschnitt. In dieses Jahr fiel das Ereignis, das Wilhelms Leben in eine ganz andere als die ursprünglich von ihm eingeschlagene Richtung abdrängen sollte. Er lernte Irma kennen und mit der Heirat begann ein Kampf um die Ziele ihrer gemeinsamen Lebensführung. Er endete mit Wilhelms vollständiger Anpassung und Unterordnung.
Bei welcher Gelegenheit der rote Setzer die zweitälteste Tochter des Eisenwerkers kennenlernte, weiß keiner mehr. Ich stelle mir vor, dass es bei der Kirmes gewesen sein kann, wenn in den Obstgärten die Zwetschen reif sind und in großen Mengen zu Kuchen verarbeitet werden. Irma hatte früher den für die Kollekte bestimmten Betrag für sich behalten und dafür Süßigkeiten gekauft. Sie war auch durch Fleiß in der Schule aufgefallen, sie hatte die besten Zensuren in Schreiben und Rechnen gehabt. Doch ihretwegen hatte sich kein Lehrer zum Vater Wolff bemüht. Irma sagte später: Nach der Volksschule erlernte ich den Beruf einer Schneiderin. - Ich glaube, das traf nicht ganz zu. Sie besaß wenig Geschick für Handarbeiten, auch nicht fürs Kochen oder den Garten. Ihre Flickarbeit bot meiner Mutter so viel Stoff zum Lachen wie Großvaters Lesefrüchte. Sie wäre ganz im Rechnen und Schreiben aufgegangen, hätte man sie gelassen. Sie war wohl nur Nähmädel in einem kleinen Konfektionsbetrieb und dort mit einfachen Tätigkeiten betraut. Sie war vierzehn, als sie anfangen musste, mit ungeliebter Arbeit das Brot für sich und mit für die jüngeren Geschwister zu verdienen. Dreiundzwanzig war sie, als die Heirat den Ausweg eröffnete. In diesen neun Jahren, mitten darin vier Kriegsjahre, scheint sich ihr Weltbild geformt zu haben. Sie verglich den Wohlstand der dünnen Oberschicht vor dem Krieg mit der Armseligkeit, in der sie und ihre Leute lebten. In der kleinen, rasch wachsenden Industriestadt war das leicht anzustellen. Das Mietshaus, in dem sie aufwuchs, war nur hundert Meter vom Geschäftsviertel entfernt. Die Inhaber der Läden und kleinen Kaufhäuser lebten in den neuen Villen der Parallelstraße. Besonders beeindruckte Irma der Hauseigentümer, ein ruhiger, ausgeglichener Mann, kassierte die Miete jeden Monat persönlich. Ihm erging es nicht wie den Angestellten und kleinen Beamten, die sich am Kriegsende kaum besser standen als die vielköpfige Wolff-Familie. Der Vermieter hatte nur eine Tochter und nur einen Sohn, der das Gymnasium besuchte. Kleinbürgerliches Aufstiegsdenken wurde Irmas Richtschnur. Sie kam aus einer kinderreichen Arbeiterfamilie, ohne nennenswerten Besitz, ohne die Möglichkeit, den Kindern viel Bildung zu verschaffen. Gerade das wurde das Ideal meiner Großmutter: Besitz und Bildung, die sich innerhalb einer Familie von Generation zu Generation mehren und weitergegeben werden. Sie sah sich gewissermaßen am Fuß einer Generationentreppe, die nur durch eine Art kapitalistischer Seelenwanderung zu erklimmen war. Diese Frau wurde also des Kommunisten Wilhelm Eheweib.

Oma später zu mir: Ich habe immer nur SPD gewählt.
 
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petrasmiles

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Lieber Arno,

es ist schön zu lesen wie Du diese Menschen, Deine Ahnen, zum Leben erweckst.

Und ich frage mich, ob diese Rückschau etwas dem Menschen Innewohnendes ist, oder ein individuelles Bedürfnis.
Wenn ich mich so zurückdenke in familiäre Zusammenhänge, dann blinken nur Mosaiksteinchen um meinen Kopf. Aber wir besitzen mehrere Tagebücher meiner Mutter - die wir nie lasen. Erst waren sie bei mir, in meinen Auslandsjahren bei meinem älteren Bruder, dann wieder bei mir und ich konnte mich nicht aufraffen, diese Reise in die Vergangenheit anzutreten. Nun sind sie bei meinem jüngeren Bruder - ungelesen. Ich glaube, die Wolke, in der die Mosaike schweben, ist aus Schmerz. Vielleicht ist das der Grund, warum keine Erdung oder gar Einbettung in eine Familiengeschichte bei uns gelingen kann. Aber heißt das, es gäbe das Bedürfnis nicht?

Ich finde Deinen Stil sehr interessant, wie die 'Erzählung' durchbrochen wird durch aktuelle Ergänzungen, wie dem Kind der Mann zur Seite gestellt wird - und auch, wie Du Motive hinterfragst. Es hat etwas von zwei Fäden nebeneinander - die Prägung und gespiegelt die Emanzipation - und die reife Erkenntnis, Teil zu sein, aber auch nicht.

Ich bin schon gespannt auf den nächsten Teil.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, fürs Lesen und die Anmerkungen. Die Frage zu Beginn deines zweiten Absatzes möchte ich so beantworten: Wohl eine grundlegende Eigenschaft bei der Menschheit insgesamt seit Jahrtausenden, doch individuell recht verschieden ausgeprägt.

Mit Interesse gelesen, was du über die Tagebücher der Mutter schreibst. Meine Verwunderung über die Nicht-Lektüre musste ich erst überwinden, aber es ist ja nachvollziehbar, wenn es zu schmerzlich sein würde. Übrigens haben wir hier von einer Autorin schon mal den Hinweis auf das Deutsche Tagebuch-Archiv in Emmendingen erhalten. Das bietet sich für Archivierung und im Einzelfall auch für wissenschaftliche Aufarbeitung nachgelassener Tagebücher und Briefsammlungen an.

Es werden noch vier weitere Teile bis zum Ende der Kindheit folgen, in gebührendem Abstand jeweils.

Schöne Morgengrüße
Arno
 

petrasmiles

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Lieber Arno,

das Archiv ist mir bekannt - aber ich dachte dabei eher an meine eigenen. Seit meinem 18. Lebensjahr schreibe ich Tagebuch, und das sind weniger Ereignisse als Reflexionen. Vor einigen Jahren las ich mal im ersten und konnte mich selbst dabei überraschen, dass ich Dinge mir zurechtgebogen hatte. Aber wer nimmt sich schon die Zeit, dem noch einmal zu begegnen - solange er noch im Berufsleben steht.
Da würde (und werde) ich eher nach denen meiner Mutter greifen.

Meine Mutter, das ist eine Geschichte für sich. Sie hatte vier oder fünf Kladden voll geschrieben, nach der Arbeit, nur wenige Jahre vor ihrem frühen Tod, nicht immer ohne Alkoholeinfluss. Sie war der emotionalste Mensch, den ich je kannte. Gebeutelt vom Leben, mutig, strahlend und verhärmt und alles am selben Tag. Ihre Fähigkeit zur Reflexion war nicht sehr ausgeprägt, ich denke mal, mangels Übung. Das muss man sich bewusst machen, dass es Zeit braucht, Dinge zu durchdenken, sacken zu lassen und sein Handeln danach auszurichten. Aber das ist in Wahrheit Luxus. Man kann dieses Leben nicht begreifen, ohne die Zeit miteinzubeziehen (sie ist Jg. 1931). Wer weiß schon, wie es war in Trümmern ein Leben aufzubauen und im Gepäck die Traumata von Krieg, Leid, Unrecht, Verlust. Das alles ist so weit weg und deshalb können heute die Gören auch so locker von Krieg und Frieden und Gerechtigkeit schwadronieren - wenn das alles woanders stattfindet und hier der Boden (noch) genug Saft hat, in Wohlfühlszenarien zu denken.
Sie wird dem Leser keine Reflexionen berichten, sondern erzählen, was war. ich hatte schon einmal angefangen. Keine Struktur, keine zu Ende geführten Gedankengänge. Sprunghaft, tendenziös, durchleidend beim Schreiben. Ob es sie befreit hat? Sie ist das Bild der schmerzensreichen Frau in meinem Leben, mein Engel und meine Bürde. Will ich das alles wissen? Ich bin es ihr schuldig, das ist meine Überzeugung, aber erst dann, wenn es mir nicht mehr schaden kann. Ihre Tagebücher werden nicht zum letzten Mal gereist sein.

Ja, das wird wohl ein menschliches Bedürfnis sein, sich zu verorten im Zeitstrom - wer es denn hat und nicht durch anderes, z.B. Kinder, meint, getan zu haben.

Ich bin schon sehr gespannt auf Deine Fortsetzungen.

Liebe Grüße
Petra
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Arno,
das ist ein sehr guter Text. Deine Art, die Dinge im zeitlichen Abstand zu reflektieren, gibt eine ganze eigene Art des Erzählens. Ich mag auch, wie du immer neue Verbindungen zwischen den Figuren herstellst.
Vor allem aber ließt es sich gut! Die Sätze gleiten einem geschmeidig in den Kopf. So muss es sein.

Viele Grüße
lietzensee
 
Danke, lietzensee, für die gute Meinung. Das Vorliegende ist auch schon die dritte Version im Verlauf einiger Jahrzehnte.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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