Bruchlinien - Eine Vorgeschichte (Teil 2)

Mir, dem Enkel, erklärte die Großmutter auch: „Dein Opa war in seinen jungen Jahren ein lebenslustiger Mann. Es war nicht einfach, ihn zum Sparen anzuhalten. Er ging gern viel aus, und das konnten wir uns doch nicht leisten.“ Ich hörte es und dachte an ein Foto von ihnen aus den Zwanzigerjahren. Beide waren fein angezogen, sie in sehr langem schwarzen Kleid – die Mode der kurzen Rocklänge hat sich in ihrem Provinzwinkel noch nicht durchgesetzt – und von etwas Topfförmigem, Breitkrempigem behütet, er in dunklem Anzug, beide in weite schwarze Mäntel gehüllt; sie trug ihren offen. Sie lächelten beide, wie in Vorfreude auf ein Vergnügen, dem sie entgegeneilten. So bieten sie das Bild eines eleganten Paares, das Geselligkeit zu schätzen weiß. Doch dieses Foto täuscht kaum weniger als das von Irmas Vater, der statt aus dem Wald von der Schicht kam. Gewiss, Irma hielt sehr auf respektable Kleidung, sie verschaffte einem Renommee, doch der Auftritt war taktisch eher so einzuordnen: Innerlich widerstrebend hatte sie sich zu den sündhaften Ausgaben für einen solchen Abend durchgerungen und setzte dazu nun ein strahlendes Lächeln auf. Sein Glanz unterstrich gerade das Einmalige der Unternehmung. So bot sie zu meiner Zeit Nachbarskindern mit innig verklärtem Lächeln einen billigen Bonbon an.
Irma kannte in Wahrheit nur eine gesellschaftliche Verpflichtung: durch Bildung von Grundeigentum in diesem Arbeitervorort zu Ansehen zu kommen. Der Anfang schien leicht. Die Neuvermählten waren entschlossen, dort auf Dauer zu bleiben. Einer von Wilhelms überlebenden Brüdern heiratete etwa zur gleichen Zeit und die Brüder erhielten im Vorgriff auf das Erbe je zur Hälfte das Gemüseland überschrieben. Sie bauten ein Doppelhaus, von dem jede Hälfte nur ein Zimmer breit war, vorn ein kleines Wohn- oder besser Staatszimmer, hinten die geräumige Wohnküche zum Aufziehen des Nachwuchses – Wilhelm rechnete mit mindestens acht Kindern -, darüber zwei Schlafzimmer. Der Rest des Gartens ergab zwei schmale Streifen Land. Wilhelm hatte damals noch so wenig Sinn für Gartenarbeit wie Irma, und so bepflanzten sie ihren Grund mit nichts als einer Reihe von Zwetschenbäumen. In guten Jahren erbrachten sie mehrere Zentner Früchte, die zu Latwerge oder zu Schnaps verarbeitet wurden, den Wilhelm gern trank. Übrigens war es damals dort die Regel, dass ein junges Paar sich bald nach der Hochzeit ein Haus baute. Man machte vieles selbst, Nachbarn halfen, so war weniger Kapital erforderlich. Wilhelm wäre damals nicht auf den Gedanken gekommen, dass mit diesem Bau erst der Grundstock gelegt sein könnte.
Irmas weiterreichende Absichten blieben zunächst verborgen. Sie war mit dem beschäftigt, was nach dem Verständnis ihrer Mitwelt, auch dem ihres Mannes, ihre eigentliche Aufgabe war: Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen. Im zweiten Jahr der Ehe wurde ein Sohn geboren, den sie Wilhelm nannten. Das Kind starb als zweijähriges. Die Großeltern sprachen vor mir darüber so wenig wie über den Krieg, an dem der Großvater teilgenommen hatte. Der Verlust des Erstgeborenen war, denke ich, eine noch größere Niederlage als derjenige von vier Lebensjahren, die nutzlos im Feld vergeudet waren. Später erzählte mir meine Mutter, dass sie erst das zweite Kind gewesen sei. Die kleine Ruth kam 1924 zur Welt. Am Ende dieses Jahrzehnts trug Irma ihre dritte Schwangerschaft aus, es wäre wieder ein Junge geworden. An der Totgeburt starb Irma beinahe selbst. Wilhelm, der gern viele Kinder gehabt hätte, konzentrierte die Gefühle, die für alle ausgereicht haben würden, auf die Tochter. Zwischen ihnen bestand zeitlebens ein von Verständnis und Wohlwollen geprägtes Verhältnis. Als meine Mutter den Alten später unter dem Einfluss meines Vaters kritischer sah, ging die Kritik selten über gutmütigen Spott hinaus. Irma jedoch verwand den Schock der letzten Geburt niemals. Diese Tochter war ohne eigenes Verdienst allein übriggeblieben, das war auch eine Art von Schuld. Dass die Tochter dem Vater zuneigte und in Krisen für ihn Partei ergriff, verstärkte ihre innere Abneigung noch, die das Kind früh spürte.

So kann ich das ohne Ergänzung nicht stehenlassen. Jahre, nachdem dieser Text formuliert worden war, verschaffte Mama mir erst das vollständige Bild. Ihre Mutter war insgesamt siebenmal schwanger gewesen, sie hatte viermal abgetrieben. Im Todeskampf, damals im Pflegeheim, soll Oma geschrien haben: Schafft mir die Kinder vom Hals! Und Mama erkannte darin eine letzte Vision der Ungeborenen.

Die nächste Weichenstellung kam 1926. Damals machte einer, unterwegs von der Riviera nach Sachsen, einen Umweg, Wilhelms Vorkriegsarbeitgeber aus Dresden. Er wollte ihn wieder im Betrieb haben. Für Wilhelm war das verlockend, auch Irma schien sich den Umzug vorstellen zu können. Nach ein paar Tagen kamen ihr Bedenken: Würden sie dort wieder ein eigenes Haus haben? Ihr Widerstand nahm in den folgenden Wochen zu und Wilhelm schrieb nach Dresden, er könne aus Rücksicht auf seine Frau das Angebot nicht annehmen. Irma malte uns Jahrzehnte später gelegentlich aus, mit welchen Annehmlichkeiten ihr Leben dort verbunden gewesen wäre. Man hätte sich ab und zu etwas Besonderes leisten, auch einmal ins Theater gehen und eine Operette erleben können … Da die Gefahr damit verbundener Ausgaben gebannt war, ließ sich nun in der kostenlosen Vorstellung solcher Vergnügungen schwelgen. Außerdem unterstrich Irma damit die Opferwilligkeit jener, die in ihrem Nest geblieben waren und sich nichts gegönnt hatten.
Der Besuch aus Dresden blieb nicht ganz ohne Folgen. Wilhelm lernte im Winter darauf anhand eines Buches etwas Französisch und fuhr im Sommer mit einem Nachbarn an die Côte d’Azur. Irma war klug genug, nichts dagegen einzuwenden. Die beiden Männer mieteten sich ein Zimmer in einer billigen Herberge im Hinterland und fuhren täglich mit der Lokalbahn ans Meer. Meistens saßen sie hoch über dem Wasser in den Felsen und gingen nur zum Baden hinunter. Es war kein wirklicher Badestrand, die Wellen klatschten überall gegen die Steine. Von ihrem Sitz oben überblickten sie einen längeren Küstenabschnitt und auch die belebteren Strände besser situierter Badegäste. Wilhelm dürfte sich sonderbar gefühlt haben. Diese Reise war die erste nach so vielen Jahren, eine Prämie, da er der Frau nachgegeben hatte. Ob er ahnte, dass es seine letzte überhaupt war?
In den Jahren darauf fehlte das Geld für weitere Reisen. Sie mussten wieder sparen wie am Anfang ihrer Ehe. Daran war eine Erbschaft schuld. Onkel Georg, Großonkel von Wilhelm, war nach Jahrzehnten mit Tante Lina aus Argentinien zurückgekehrt. Sie waren kinderlos und wollten ihr Leben in der Heimat beschließen. Sie kauften sich in der Straße, in der Irma und Wilhelm lebten, ein Haus, das aus dem Rahmen fiel. Es war eines der wenigen wirklich alten Häuser dort. Das Gesicht der Straße war zu meiner Zeit von den Architekturmoden geprägt, denen zwei aufeinanderfolgende Generationen gehuldigt hatten. Von den älteren Arbeiterbauernhäusern mit Blendsteinfassaden und historistischem Zierat und den Tür- und Fensterlaibungen aus Sandstein stachen die jüngeren schmucklosen, einfach verputzten Arbeiterhäuser, darunter das meiner Großeltern, unvorteilhaft ab. Das Haus der Argentinier nun war aus dem Biedermeier, damals schon hundert Jahre alt. Schmal und hoch war es, mit leicht herabgezogenem Dach über dem oberen Stockwerk, das gab ihm in meiner Vorstellung etwas Chinesisches. Als ich später, schon lange in der Fremde, die Novelle „Der Turm der fegenden Wolken“ las, stand dieses Haus wieder vor meinen Augen: weißer Putz mit dunkelgrünen Fensterläden. An diesem Haus kam mir vieles seltsam vor. Es gab keinen Flur, man gelangte durch die Haustür gleich in die Küche und von dort führt eine schmale, steile Stiege nach oben. Von der hinteren Stube überblickte man den Garten, der in eine große Wiese überging, bestanden mit hohen, alten Obstbäumen, und das Ende nicht auszumachen. Der Garten erstreckte sich außerdem noch ein Stück seitlich vom Haus, auf der anderen Seite war ein Schuppen angebaut.
Der Onkel starb im Jahr nach Wilhelms Frankreichreise und die Tante folgte ihm bald. Da überredete Irma ihren Mann, ein Darlehen aufzunehmen, die anderen Erben auszuzahlen und das alte Haus zu vermieten. Wie sie es anstellte, ihren Plan durchzusetzen? Sein Widerstand könnte groß gewesen sein. Weder seine Eltern noch seine Geschwister hatten sich verschuldet, um Häuser zu kaufen, in denen andere leben würden. Auch von den Nachbarn wohnte jeder auf seinem eigenen Grund. Mietshäuser waren dort selten. In jenen Jahren herrschte Wohnungsmangel, da im Krieg und auch danach wenig gebaut worden war. Die starken Vorkriegsjahrgänge waren dabei, Familien zu gründen und Wohnungen zu suchen. Es leuchtete Wilhelm ein, dass sie kein großes Risiko eingehen, vielmehr Vermögen bilden würden. Die Frau hatte schon das Übergewicht bei solchen Entscheidungen. Hatte er ihr nicht von Anfang an die Einteilung des Geldes übertragen und auch allen Schriftverkehr? Damit befasste er sich ungern. Und führte sie nicht ein mustergültiges Haushaltsbuch? Sie setzte sich also durch. Es kam ihm dann vielleicht seltsam vor, dass er als Einziger bei Parteiversammlungen zwei Häuser besaß. Allerdings war da noch die Hypothek, sie würden sich jahrelang einschränken müssen.

Was mit jenem Haus seit der Niederschrift dieses Berichts geschah: Mama erbte es, als Oma starb, und sie und Papa arrondierten das Anwesen durch Kauf des kleinen Nachbarhauses; das war noch hundert Jahre älter. Meine Eltern planten, die Häuser durch den Schuppen zu verbinden und für ihr höheres Alter herzurichten. Sie gestalteten schon die Gärten aufwändig um und zogen doch nie dort ein. Mama verkaufte alles nach Papas Tod, und das kleine Barockhaus wurde bald abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, wie er heute in jeder Eigenheimsiedlung stehen kann.

Die folgenden Jahre des Sparens und Abzahlens waren für Wilhelm auch Jahre mit mehr politischer Aktivität. Irma störte es nicht. Politik war Männersache und ein ziemlich billiges Vergnügen dazu. Sie verwaltete die Kasse, er bedachte die Schicksalsfragen des Landes. Manchmal nahm er sogar an Streiks teil, es kam nicht oft vor. Anfang der Dreißigerjahre zeichnete sich etwas ab, das Irma doch Sorgen machte. Unser Kohlerevier war im Versailler Vertrag vom Reich abgetrennt, für fünfzehn Jahre dem Mandat des Völkerbunds unterstellt und wirtschaftlich Frankreich angegliedert worden. Je näher der Tag der Volksabstimmung kam, in dem über die Zukunft des Gebiets entschieden werden sollte, umso erschreckender für manche Bürger die Aussicht, ins Reich heimgeholt zu werden. Im Frühjahr dreiunddreißig mussten sie sich sagen, nur zwei Jahre seien sie vor Hitler noch sicher. Der Durchzug der Exilanten erinnerte immer wieder daran, was drohte. Wilhelms Haus sah Gäste, die ein, zwei Nächte blieben: Kommunisten auf der Flucht nach Frankreich. Vor der Abstimmung kamen auch Genossen, die gegen den Anschluss ans Reich agitierten. Irma sah diese Zugvögel ungern, sie hielt sie für Vorboten des Unglücks. Sie sagte nie ein Wort gegen ihre Anwesenheit und mischte sich nicht ein, wenn die Männer diskutierten. Die Männer, dachte sie, schätzten die Lage vielleicht falsch ein. Zwar gab es im Ort viele Kommunisten, aber am 13. Januar 1935 stimmten hier wie im Ländchen insgesamt neun von zehn für den Anschluss ans Reich. Sieben Wochen später brach der Emigrantenstrom ab, die rettende Grenze war gefallen.
Irma hatte zwischen Abstimmung und Anschluss Wilhelm von seinen Exilplänen abgebracht. Kleine Leute wie sie hätten im Ausland nichts Gutes zu erwarten. Und sei er als einfaches Parteimitglied überhaupt in Gefahr? Sie waren jetzt wieder schuldenfrei. Irma schlug vor, ihre zwei Häuser mit Hypotheken zu belasten, noch ein Haus zu kaufen und das Darlehen mit den Mieteinnahmen und dem, was sie sich absparten, zu tilgen. Sie hatte schon eine Immobilie am Waldrand ins Auge gefasst, die zum Verkauf stand. Wilhelm ließ sich überzeugen, dies sei der beste Weg, die kommende Zeit zu überstehen. Sie riskierten viel, aber Irmas politisch-ökonomischer Instinkt bewährte sich. Viele von Wilhelms Genossen kamen in den Lagern um, ganze Mietskasernenviertel sanken in den Bombennächten des Kriegs in Schutt, sie jedoch überlebten und ihre Häuser waren unversehrt.
Wilhelm blieb zunächst unbehelligt. Sie nutzten die Zeit, lebten noch sparsamer als früher und tilgten das Darlehen in nur drei Jahren. Sie waren fast schuldenfrei, als Wilhelm plötzlich seine Arbeit verlor. Die Lokalzeitung entließ ihn aus politischen Gründen im Frühjahr achtunddreißig. Er bekam noch zu hören: Sei froh, wenn du nicht in einem Lager verschwindest – und bekam kein Arbeitslosengeld. Um noch billiger zu leben, zogen sie in ihr Biedermeierhaus und vermieteten den Neubau von anno zwanzig. Wilhelm bebaute den großen Garten, unterstützt von seiner Tochter. Sie hielten Ziegen und Kaninchen und versorgten sich mit vielem selbst. Die Mieteinnahmen reichten gerade aus, den Geldbedarf zu decken. Im Krieg fand Ruth Arbeit im Stahlwerk, sie wurde dienstverpflichtet. Die Rüstungsproduktion verlangte Arbeitskräfte, da nahm man auch die Tochter eines roten Setzers, der aus der Druckerei geflogen war.
Die kleine Familie überstand so Vorkriegs- und Kriegsjahre. Heimlich hörten sie das deutsche Programm der BBC. Im März fünfundvierzig marschierten die Amerikaner ein. Als die Lokalzeitung wieder erscheinen konnte, kam Wilhelm zurück an die alte Setzmaschine. Zur KP ging er nach dem Krieg zunehmend auf Distanz, dafür las er mehr als früher. Irma fand, Lesen sei viel weniger gefährlich als Politik.

Hier habe ich etwas aus dem Text herausgenommen. Sie sagten mir damals zu Hause auch, Opa sei der erste Nachkriegsbürgermeister des Ortes gewesen, für kurze Zeit, dann abgelöst durch einen Onkel Erich Honeckers, einen Sozialdemokraten. Ich finde im Internet keine Bestätigung dafür, nicht einmal eine vollständige Liste der Bürgermeister. Ich kann die Darstellung sozusagen nur in Klammern und mit Fragezeichen stehen lassen.
Von Mama hörte ich später noch mehr: Die KP habe vor der Abstimmung von 1935 bei ihnen im Keller eine geheime Druckerei betrieben, ein Drucker sei dazu aus Berlin angereist. Und: Erich Honeckers Vater sei im Krieg oft ins Haus gekommen, um mit ihren Eltern heimlich Feindsender zu hören.

So war es Irma gelungen, Wilhelm all die Jahre knapp und bei der Fahne zu halten. Skepsis löste bei ihr der Gedanke an die nächste Generation aus. Ruths Entwicklung war für sie unbefriedigend verlaufen. Schon das Poesiealbum ihrer Tochter war nicht nach ihrem Geschmack gewesen: feinziselierte Hakenkreuze und HEIL HITLER in wuchtigen Lettern unter von Ruths Kameradinnen verfassten oder abgeschriebenen Versen, die das Wesen künftiger Hausmütterchen thematisierten. Fremd war Irma die politische Radikalität ihres Mannes, die sie in Gefahr und Not bringen konnte. Sie teilte jedoch seinen schlichten Atheismus, der ihnen die Kirchensteuer ersparte, und seine handfeste Art, vor allem die materielle Welt zu betrachten. Dagegen war die Tochter gefühlsbetont und unterschied sich nicht von anderen Mädchen, die in der Hitlerzeit aufwuchsen, geprägt vom herrschenden Gedankengut. Besser, sie mäkelte nicht so oft an Ruth herum, man hatte schon von Eltern gehört, die von ihren Kindern denunziert wurden. Und dann ihr Hang zum Boden, zur Scholle! Grund und Boden waren für Irma etwas hypothekarisch Belastbares, zum Ertrag Bestimmtes, für Ruth hatten sie auch eine mythische Qualität. Sie verbrachte ihre Landjugendzeit in einem kleinen Dorf in Mittelhessen, fern von Industrie, auf einem richtigen Bauernhof, wie er daheim kaum noch zu finden. Als Wilhelm dann arbeitslos wurde, hatte er in der Tochter eine Hilfe, die vom Säen und Ernten schon mehr verstand als er selbst. Da war Irma froh, dass sie sich nur hinter Ruths Rücken über das melkende und Heu umwendende Mädchen lustig gemacht hatte. Indessen war Ruth anpassungsfähig – es gefiel ihr auch im Walzwerk.
Wie Mutter und Vater sich kennenlernten, ist mir so wenig bekannt wie bei den Großeltern. Während der Ehebund von 1920 zwei sehr unterschiedliche Charaktere vereint hatte, lag in der folgenden Generation das Übereinstimmende offen zutage. Vater und Mutter kamen zwar aus unterschiedlichen Schichten (auch dies im Gegensatz zu Irma und Wilhelm), doch sie unterschieden sich in ihren Gefühlen und den Vorstellungen von der Zukunft so wenig, dass die Ehe mit Wahrscheinlichkeit harmonisch verlaufen würde. Irma schien das erfasst zu haben, mit Misstrauen begegnete sie bald dem Verlobten ihrer Tochter. Er konnte kein Gegengewicht zu deren Neigungen bilden. Was sie über die Herkunft des künftigen Schwiegersohns erfuhr, bestärkte sie in ihrer Haltung. Sie selbst war stolz auf den materiellen Aufstieg, den sie mit Wilhelm erreicht hatte – und nun verband sich das einzige Kind mit einer Familie, die seit langem nur abgestiegen war.
Was weiß ich von der väterlichen Linie? Mein wortkarger Vater neigte nicht zum Erzählen und über seine Herkunft sprach er aus eigenem Antrieb überhaupt nicht. Meine Kenntnisse habe ich zum Teil aus abendlichen Gesprächen der Eltern. In dem schlichten Holzhaus, das wir einige Jahre bewohnten, saßen wir abends beim Schein einer Petroleumlampe in dem langen Vorraum, der Diele, Küche, Speisezimmer und Baderaum in einem darstellte. Der Vater, der langsam aß, dehnte schon damals seine Mahlzeiten gern über Stunden aus. So kaute er noch auf den letzten Bissen des Abendbrots herum, während meine Mutter bereits mit einer Handarbeit beschäftigt war. Ich saß ihnen gegenüber, eine schwarze Kladde vor mir, in der ich meine Eltern mit zwei Bleistiftskizzen porträtierte. Das Bild meines Vaters beherrschten seine Bartstoppeln, er rasierte sich nicht täglich. Darunter schrieb ich: Mon papa, ich hatte gerade in der Schule mit Französisch angefangen. Das Übungsbuch lag auf dem Tisch und gab meiner Mutter Gelegenheit, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken: „Da lernt er nun Französisch und vielleicht wird er selbst mal Schulmeister, wie dein Großvater.“ Mein Vater, an den das gerichtet war, brummte etwas Unverständliches, war vollauf mit Kauen und Schlucken beschäftigt. Meine Mutter daraufhin zu mir: „Das war dein Uropa. Morgens gab er Schule, ab dem Mittag war er auf dem Feld.“ Mein Vater hatte den Mund frei und riss die Unterhaltung an sich: „Sein Uropa … Morgens war er Schulmeister? Und mittags auf dem Feld?“ - „Klar, und dann die andere Seite, die von Menschenhaus … Du stammst ja von den Menschen ab, eine Ururoma von ihm war doch eine geborene Mensch.“ - „So, eine geborene Mensch war sie? Was du nicht alles weißt …“ Mehr war an diesem Abend nicht aus ihm herauszubekommen und meiner Mutter genügte es als Bestätigung.

Im Folgenden musste ich einen großen Abschnitt streichen und werde ihn jetzt neu schreiben. Da waren Sippen in der falschen Generation miteinander verbunden und Vorfahren erfreuten sich noch an Besitztümern, die tatsächlich längst in fremden Händen waren. Hatte Oma mich falsch instruiert, sich einen Dekadenzroman erdichtet? Gab es jene Mietshäuser in Augsburg überhaupt? Wer verwirtschaftete Menschenhaus? Bleiben wir bei den Fakten, die ich im Lauf der Zeit herausbekam.

Ich stamme tatsächlich von den Menschen ab und unter anderen noch von Hugenotten und Juden. Wobei Mensch hier etymologisch kaum mehr als das preußische „Kerl“ bedeutet, vgl. auch „das Mensch“ für Dirne. Gut, dass es das Internet gibt und man dort die „Chronik des Waldbauerngeschlechts der Familie Mensch“ nachlesen kann, ich hatte so viel durcheinandergebracht. Kein Wunder, meine Vorfahren haben auch in der Verwandtschaft herumgeheiratet, sogar einer die eigene Nichte.
Mama war es, die früh das genealogische Interesse in mir weckte. Damals fuhren wir oft im Renault, Baujahr ca. 1950, erst durch die ganze Stadt, hügelauf, hügelab und wieder hinauf und dann vom höchsten Punkt durch einen großen Wald weiter nach Süden. Unser Ziel: das Heimatdorf der väterlichen Sippe. Die Landstraße war kurvenreich, auch sie hob und senkte sich. Eine Lichtung tat sich auf mit einem Gutshof aus alten Zeiten, in ihm ein Hotel mit feinem Restaurant. Wir hielten da nie - im Unterschied zu Marika Rökk, Zarah Leander oder Max Schmeling, die waren alle Gäste gewesen. Mama sagte dann gern: „Das hat mal Vorfahren von dir gehört, von denen stammst du auch ab …“
Johann Nikolaus Mensch, geboren 1717, das ist der Früheste, bis zu ihm lässt sich die Abstammung zurückverfolgen. Er war Zimmermann, wechselte erst den Kleinstaat und bald auch den Beruf, wurde Wildaufseher beim barocken Fürsten. Mit Erlaubnis des Souveräns baute er sich in jenem Wald ein Haus, rodete rundherum, bewirtschaftete Felder und Wiesen. Die letzte Erbin, meine Ururgrossmutter, verkaufte das Hofgut als Witwe kurz vor 1900. Erst danach wurde, wie ich heute weiß, das stattliche Landhaus an der Straße gebaut, auf das gut fünfzig Jahre später meine Blicke gelenkt wurden. Mama, würde ich heute gern sagen, dieses Haus hat uns nie gehört …
Die letzte Mensch hatte einen Bauern Hussong aus dem nahen Dorf geehelicht. Die Hussongs waren zweihundert Jahre vorher als Hugenotten aus Nordfrankreich gekommen. In einem Protokoll von 1776 – ein neuer Herzog ließ sich huldigen – sind sie als Einwohner schon zahlreich vertreten. Dagegen fehlen zu meiner Überraschung die *** , deren Namen ich trage und die ich seit den Tagen der fränkischen Landnahme dort ansässig glaubte. Haben sie sich der Huldigung entzogen? Kaum anzunehmen, sie werden erst später zugewandert sein. Aber wann und woher? Das bleibt im Dunkeln. Im Adressbuch der Westpfalz von 1911 finde ich sie dann, darunter auch Papas Onkel Eugen; ich traf ihn noch an, wenn wir damals dorthin fuhren, als mürrisch-hinfälligen Mann in den Achtzigern. Fuhrmann sei er, sagt das alte Adressbuch. Der Beruf hat sich vererbt, ist mehrfach in der Sippe vertreten, wird zum Fuhrunternehmer, auch beim Holztransport aus den Wäldern. Vielleicht sind die *** wegen der Kaiserstraße gekommen, Napoleons großer Heer- und Handelsstraße, die direkte Route von Paris in Richtung auf Frankfurt.
Ein Großvater *** hat dann eine Großmutter Hussong geheiratet (von uns Oma Else genannt). Das also war das althergebracht-ländliche Milieu von Seiten des Vaters: Bauern, Fuhrleute, auch mal ein Lehrer und sogar ein Gastwirt dabei.
Oma Irma zufolge sollen meine Großeltern väterlicherseits ursprünglich vermögende Leute gewesen sein, nur hätten sie schlecht gewirtschaftet, auf zu großem Fuß gelebt. Er war Berufssoldat bei der königlich-bayerischen Armee gewesen, erst in Fürstenfeldbruck, später in Zweibrücken stationiert. Von diesem Mann, den sie so wenig wie ich kennengelernt hatte, entwarf sie ein ungünstiges Bild. Verschwenderisch sei er gewesen, unbeherrscht, alles andere als klug. Während des Weltkriegs war er der Hausmeister der heimischen Garnison. Als Feldwebel dürfte er nicht gerade üppig besoldet gewesen sein.
Hinter Omas Darstellung, der Version der richtigen Oma, witterte ich einen Roman wie von Balzac. Schon die Vorstellung, Oma Else sei als junge Frau wohlhabend gewesen, regte meine Phantasie stark an. Ich kannte sie nur als alte Frau, die von schmaler Rente lebte. Sie war alltags dürftig angezogen, trug jahrzehntealte unförmige Röcke auf, die nach Mottenkugeln rochen. Aus ihrer Glanzzeit hatte sie einige Gewohnheiten beibehalten, die für die späteren ärmlichen Verhältnisse nicht recht passten und wie ein fremder Hauch auf ihr lagen. Sie liebte es, allein in kleinen Cafés zu sitzen, sie liebte deren Torten, Baisers und das mürbe Gebäck. Brach sie zu einer dieser Expeditionen in die Welt der Bessergestellten auf, so gebrauchte sie vorher die Brennschere, die sie am Küchenherd meiner Mutter erhitzte. Sonderbares Gerät, bei dessen Handhabung sie schon etwas unsicher war. Wenn sie sich wieder einmal versengte, roch es scharf nach verbranntem Horn. Dass sie einmal etwas Besseres als wir gewesen, schien auch ans festliche Licht von Familienfeiern zu kommen. Sie nahm nicht einfach am Tisch Platz, sondern ließ sich zur Tafel geleiten und entfaltete dabei eine zitterige Grazie. Sie trank nicht bloß, sondern hielt vor Augen, was bedeutet: sein Glas zum Munde führen. Was tat es, wenn sie dabei ein wenig Wein verschüttete. Auf die Handbewegung allein kam es an, die sie von uns unterschied und die an eine hingesunkene prächtigere Zeit gemahnte. Sie hatte auch eine Art, darauf zu bestehen, beim Kaufmann mit „Gnädige Frau“ angeredet zu werden, die den Kaufmann, mit dem sie in einen Disput geraten war, allenfalls zum Lachen reizte. Dass ihr die schuldige Achtung vorenthalten wurde, kränkte sie mehr als der Grund dieses Streitgesprächs. Erbittert versuchte sie sich aufzurichten - es gelang nicht ganz, da sie schon sehr gebückt ging – und klopfte mit weit hervorragendem Handknöchel auf die Ladentheke. Gewöhnlich blieb auch jetzt der Erfolg aus und das gab ihr danach Stoff für stundenlange Selbstgespräche.

Mama ließ mir nach Oma Elses Tod einiges aus dem Nachlass zukommen, ein 1912 vom Kunstschreiner angefertigtes Buffet aus Eiche, dem Stil nach späthistoristisch, größer und ansehnlicher als das von Wilhelm und Irma, und Glasgefäße im Jugendstil. Diese Sachen sprachen für Gutbürgerlichkeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ich erinnere mich auch, wie ich in ihrer letzten, verlassenen Wohnung damals den Bücherbestand durchging und staunte. Da waren Werke von Autoren, die zu lesen ich ihr nie zugetraut hätte, etwa Taschenbücher von Alberto Moravia und John Steinbeck, Neuanschaffungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Großteil der Bibliothek, die sie und ihr Mann aufgebaut hatten, war allerdings unter den Trümmern ihres Hauses aus der Zwischenkriegszeit begraben. Ich will nicht weiter vorgreifen ...

Um an die versunkene Zeit anzuschließen, von der ein Abglanz auf Oma Else lag, berichte ich, dass mein Vater im Frühherbst des Jahres achtzehn auf die Welt kam. Es war in den Tagen, als Hindenburg und Ludendorff den Kaiser bestürmten, einen Waffenstillstand um fast jeden Preis zu erlangen. Als er da war, brach die Revolution aus. Die entlassenen Soldaten ließen von daheim Fuhrwerke kommen, mit denen sie die Einrichtung der Zweibrücker Kaserne wegschafften. Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags musste auch Großvater Hermann, der Feldwebel, gehen, sein Heimatdorf wurde abgetrennt von Bayern wie vom Reich. Die neue Obrigkeit hatte den bisherigen Berufssoldaten zivile Existenzen zu verschaffen und verteilte sie auf die Kommunen. Hermann fand sich in dem Kontingent von Wilhelms Heimatdorf wieder. Sie stellten ihn dort vor die Wahl, ein Pöstchen auf dem Rathaus zu bekleiden oder einen auf Gemeindeland neu einzurichtenden kleinen Bauernhof zu übernehmen. Der Ex-Soldat wählte die Klitsche.
Das Terrain, auf dem der Veteran angesiedelt wurde, war seit Menschengedenken unbesiedelt gewesen, ein stark abfallender, lehmiger, wasserreicher Nordhang. Zum Teil war er von einem Wald bedeckt, der romantischen Wildwuchs und moderiges Dämmern der Tatsache verdankte, dass er moderner Forstwirtschaft nie unterworfen. So ähnlich wie um 1920 konnte es hier schon im späten Mittelalter ausgesehen haben. Am oberen Rand des Bergs stand Buntsandstein an, mit einem Steinbruch, der generationenlang Material für den Aufbau der Hüttenstadt lieferte. Für die Arbeiter war die Holzbaracke mit Steinsockel da, in der ich später einen Teil meiner Kindheit verbringen sollte. Der Steinbruch war infolge eines Konkurses an die Kommune gekommen und sie behielt ihn mit der ganzen Kuppe bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Hermann bekam nur den tiefer gelegenen Teil des Waldes sowie einige Wiesen und Felder. Auf einer Bodenterrasse in halber Höhe über dem Fluss baute man ihm ein kleines Wohnhaus und ein für das Gütchen zu groß geratenes Ökonomiegebäude. Hier wirtschaftete er nun, ohne zu Wohlstand zu gelangen, ohne viel Freude an der Arbeit. Die Hauptlast der Bewirtschaftung lag, so viel deutete mein Vater an, auf den Schultern der Frau. Zeitweise hatten sie einen Knecht. Die Heimkehr des Ländchens ins Reich und die beginnende Aufrüstung erlebte Hermann noch, war aber für eine Rückkehr zum Militär schon zu alt. 1937 starb er an Kehlkopfkrebs. Es hieß, er sei Anhänger der Sozialdemokratie gewesen.
Oma Elses Einstellung zum Boden, den sie beackerte, war nüchtern, frei von Mythischem. Sie schickte sich ins Unabänderliche mit jenem Fatalismus, den sie, anders als bei kleinlichem Alltagsstreit, in Existenzfragen immer spüren ließ. Gleichmütig trieb sie Vieh auf die Weide oder erntete Kartoffeln. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit geschulterter Hacke zielstrebig langsamen Schrittes auf den Acker zog und nach der Arbeit in müdem Trott heimkehrte.
 



 
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