Bruder Hendrick

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Bo-ehd

Mitglied
Die Aula war bis auf den letzten Platz gefüllt. Schulleiter Dr. Robert Leitner stand vor dem Rednerpult, griff zum Wasserglas, nahm einen Schluck und stellt es wieder ab.
„Kommen wir zum letzten Teil unserer Jahresfeier und zur Ehrung eines ganz besonderen Schülers“, hob er an. „Wenn man der örtlichen Presse glauben darf, hat er am vergangenen Wochenende beim Bezirksturnier im Handball, das wir als die beste Schulmannschaft siegreich beendet haben, im Endspiel das Team des Rückert-Gymnasiums fast im Alleingang 'abgeschossen', wie es wörtlich heißt. Das Endspiel ging 17:12 aus, und dieser Schüler, von dem ich hier spreche, hat allein 11 Tore geschossen, also fast soviel wie die gegnerische Mannschaft. Ja, liebe Eltern, das schreibt die überregionale Presse mit größter Begeisterung, und so etwas macht uns natürlich besonders stolz, kam und kommt doch dem Sport an dieser Schule schon immer eine besondere Bedeutung zu.“
Leitner ließ seinen Blick über die anwesenden Eltern und Schüler streifen, lächelte und nickte, um seinen Worten noch einmal nachträglich Gewicht zu verleihen.
Meinen Bruder, meine Eltern und notgedrungen auch mich hat man bei dieser Veranstaltung in der zweiten Reihe, gleich hinter der Prominenz, Platz nehmen lassen. Da mir das Geschwafel des Direktors gleichgültig war und ich die sportlichen Leistungen meines Bruders zur Genüge kannte, beschäftigten sich meine Gedanken weder mit dem einen noch mit dem anderen, sondern waren ausschließlich auf meine Eltern fixiert. Ich liebte sie, – grundsätzlich gesehen - aber meine Zuneigung hielt sich in letzter Zeit in Grenzen. Jetzt war erst einmal eine gute Gelegenheit, den Ausdruck ihrer Gesichter zu studieren, und so versuchte ich zu ergründen, was sich hinter ihnen verbarg und was in ihren Köpfen vor sich ging.
Obwohl noch kein Name gefallen war, wusste jeder im Saal, dass mein zwei Jahre älterer Bruder Hendrick gemeint war, und meinen Eltern war anzusehen, wie sie jedes einzelne Wort, das wie von der Kanzel verordnet über den Anwesenden schwebte, genossen. So ausgiebig und euphorisch war ihrem so wohlgeratenen Sohn noch nie gehuldigt worden. Sie hatten ja auch gute Gründe dafür, die Worte des Schulleiters wie den süßesten Honig aufzusaugen: Hendrick war der Top-Nachwuchsspieler im Handball weit und breit. Die Vereine klopften schon seit Monaten an unsere Tür und wollten ihn verpflichten, obwohl er noch nicht einmal seine Schule beendet hat. Seine Qualitäten als überragender Linksaußen verdankte er wahrscheinlich seiner hohen Grundschnelligkeit, die er erworben hatte, als er noch täglich für die Leichtathletikmeisterschaften trainierte. Er lief übrigens die 100m in 10,9 Sekunden. Das war schnell genug, um jedem Verteidiger auf der Welt spielend davonzulaufen.
Weshalb die Lehrer ihn so besonders schätzten, hatte allerdings einen weiteren und ganz anderen Grund. Hendrick war nämlich ein ausgesprochener Teamplayer, riss jeden Mitspieler mit, verstand es zu motivieren, baute die Mannschaft in Schwächephasen blitzschnell wieder auf und gewann in jedem Turnier den Fairnesspokal. Hendrick war in jeder Hinsicht auch eine charakterliche Überfigur des Sports.
Die Superlative ließen sich fortsetzen. Er sah blendend aus, war charmant und bestach die Mädchen an der Schule mit seinem verführerischen Lächeln. An jedem Wochenende putzten die Mütter der Schülerinnen ihre Töchter heraus, um sie Hendrick an den Hals zu werfen, um es mal etwas plakativ auszudrücken. Es fiel mir immer schwerer, nicht neidisch auf ihn zu werden, obwohl er mein Bruder war.
Doch zum Wichtigsten: Hendrick war für mich der Bruder und „Übervater“, das Vorbild, der Leitwolf und der Unfehlbare, der immer alles richtig machte. Und er war immer für mich da. Wenn ich meinen Eltern ein Problem schilderte und sie schon längst abgewunken hatten, trat Hendrick auf den Plan, nahm mich buchstäblich bei der Hand und suchte mit mir gemeinsam eine Lösung. Das waren für mich die wertvollsten Momente in meinem siebzehnjährigen Leben. Zum Glück ging er auf die gleiche Schule wie ich, so dass ich immer bei ihm sein konnte, wenn ich ihn brauchte.
Der Schulleiter griff wieder zum Wasserglas, und dann rezitierte er im Detail, was Hendrick für ein toller Junge war. Ich beobachtete meine Mutter, verfolgte, wie sie ihre Unterlippe abwechselnd nach vorn und hinten bewegte, sie mit Speichel befeuchtete und sanft darauf biss, als wollte sie damit die Tränen der Rührung unterdrücken. Oder zum Ausbrechen bringen. Das Wasser stand ihr eh schon in den Augen, und mein Vater legte seine Hand auf ihr Knie, als sei er gerührt und suchte ob dieses Lobgesanges Trost bei ihr. Dabei war mein Vater der größte Ignorant auf dem Erdball. In Momenten wie diesem aber, in denen er die Lorbeeren für etwas entgegennehmen durfte, für das er letzten Endes keinen Finger krumm gemacht hatte, gab er sich als selbstloser Familienvater, der sich für seine Kinder aufopferte.
Ich beobachtete wieder meine Mutter und wunderte mich, welche Regungen nun in ihrem Gesicht zu entdecken waren, obwohl sie es keinen Millimeter bewegte. Ich konnte ihre Gedanken fast greifen, so nah schienen sie mir plötzlich. Und das, was ihr da im Kopf herumschwirrte, war nicht nur der Stolz vor den anderen, es musste ein Gefühl des Überlegenseins sein. Möglich, dass sie glaubte, die Auserwählte zu sein, die solch einen Wunderknaben auf die Welt hatte bringen dürfen. Vielleicht führte sie die sportlichen Wundertaten ihres Sohnes sogar auf das ausgesuchte Genmaterial zurück, das sie mit in die Ehe gebracht hatte. Vielleicht konstruierte sie auch schon seine Zukunft als sportlicher Superstar, der alles an Preisen abräumte, lukrative Werbeverträge abschloss und mit einer Schar schönster Frauen für die Hochglanzmagazine posierte. Ich schüttelte die Gedanken ab und versuchte, meinen Eltern nicht böse zu sein, weil sie all ihre Energie in ihren Sohn Hendrick investiert hatten, als hätten sie nur diesen einen. Mich hatten sie zugegebenermaßen immer gut behandelt, wenn man die Sache mal rein formal betrachtet. Das entscheidende Quäntchen Liebe, das jedes Kind zum Leben braucht, ist freilich in einer solchen Betrachtung nicht enthalten.
Was mir besonders auffiel, war der Ausdruck in ihren Augen. Sie waren fast starr, und trotzdem schienen sie eine ganze Geschichte erzählen zu wollen. Oder Fragen zu stellen. Oder eine Rechtfertigung oder, oder, oder auszudrücken.
„So, nun komm her, mein Junge, und hol dir deine Auszeichnung ab“, rief Leitner meinem Bruder vom Rednerpult aus zu, ließ sich von der Sekretärin eine metallene Plakette mit dem Logo der Schule aushändigen, die er Sekunden später Hendrick überreichte. Noch nie hatte Leitner einen Schüler mit 'mein Junge' angesprochen. Was war nur in ihn gefahren? Und welcher Teufel ritt meine Eltern? Sie beklatschten die Übergabe und standen auf. Als einzige! Wie peinlich!
Ja, die Augen meiner Mutter! Sie sprachen Bände, aber alles, was sie aussagten, als sie mich anschauten, gipfelte in einer einzigen Frage. Konntest du nicht auch so sein wie dein Bruder? Und daran schlossen sich gleich hundert weitere Fragen und Bemerkungen an: Schau, was für eine Persönlichkeit dein Bruder ist, und was hast du bisher geleistet? Hendrick macht uns nur Spaß und Freude. Und du? Sieh doch nur, was für ein hübscher Junge er ist, und du kriegst nicht einmal deine abscheulichen Pickel in den Griff.
Nach der Feier fuhren wir nach Hause. Im Wohnzimmer tranken wir noch ein Glas Sekt. Schließlich waren meine Eltern in bester Stimmung, und Hendrick musste ununterbrochen Lobhudeleien über sich ergehen lassen. Ich konnte es nicht mehr mit anhören und stahl mich mit der Begründung, den Alkohol nicht vertragen zu haben, auf mein Zimmer. Ich schloss mich ein, zog mich aus und trat vor den Spiegel über dem kleinen Waschbecken. Als ich hineinsah, standen mir die Tränen in den Augen.
Mein Bruder, der erfolgreiche Sportler, der unwiderstehliche Mädchenschwarm, Papas Liebling, Mamas Liebling, belohnt, verwöhnt, verhätschelt, gelobt, liebkost und umsorgt. Und ich?
Wer war ich schon? Ein unansehnlicher Durchschnittstyp mit Sommersprossen, zu großen Zähnen, ohne Muskeln, ohne athletische Figur, ohne Charme und Chancen bei irgend jemandem. Ich war eine Randfigur, ein Nobody, ein Teil der menschlichen Masse ohne Bedeutung, jemand, der noch nie etwas geleistet hatte. Und meine Mutter ließ mich das alles mehr als deutlich spüren.
Ich war trotz meines jugendlichen Alters Realist genug, das richtig einzuordnen, und stellte mir die Frage, was wohl aus mir würde, wenn Hendrick eines Tages seiner Karriere nachjagen und das elterliche Haus verlassen würde.
Drei Tage später fuhr Hendrick für eine Woche in ein Trainingslager, für das ihm die Schule großzügigerweise frei gegeben hatte. Ziel war ein Platz im Kader für die Jugendnationalmannschaft, den man aus den Talenten aller Bundesländer zusammenstellen wollte. Erwartungsgemäß wurde Hendrick nominiert, wie er uns telefonisch wissen ließ, doch dann, auf der Heimfahrt, passierte es. Auf der spätabendlichen Fahrt vom Bahnhof nach Hause musste sein Taxi einer Meute rasender Motorradfahrer ausweichen, geriet dabei von der Fahrbahn ab, stürzte eine Böschung hinunter und überschlug sich mehrfach. Der Taxifahrer und Hendrick waren sofort tot.
Wie es bei uns üblich ist, luden wir die Trauergäste nach der Beerdigung zu uns zum Leichenschmaus. Ich hatte natürlich am Tisch meiner Eltern Platz genommen und hatte das zweifelhafte Vergnügen, ihnen genau gegenüber zu sitzen. Während der ersten Stunde war alles noch ganz normal, aber dann merkte ich, wie der Alkohol die Menschen veränderte. Das betraf leider auch meine Eltern, insbesondere meine Mutter. Ihre Blicke waren wieder so vorwurfsvoll und voller Leid, dass ich mich schwertat, ihr ins Gesicht zu schauen. Aber ich konnte doch nicht immerzu wegsehen. Und so ergab es sich, dass ich sie anschaute, schnell wieder wegsah, anschaute, wieder wegsah. Ich war voller Scham und Angst und hatte das Gefühl, das ungeliebteste, nutzloseste und überflüssigste Kind auf der Welt zu sein. Nicht dass ich mir so etwas einbildete, ich erkannte einfach, was ihre Augen sagten. Ihre Blicke waren wie Pfeile, die eine niederschmetternde Botschaft schickten. Warum musste unser geliebter Sohn sterben? Hätte das Schicksal nicht dich nehmen können? Warum er, unser großartiger Junge, und nicht du?
Ich stand auf, ging nach oben in mein Zimmer und weinte mir die Augen aus dem Kopf.

*​

Hier endet Harrys Schilderung, aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn noch während das Haus voller Trauergäste war, stahl er sich aus dem Haus und fuhr mit dem Fahrrad an die Stelle, an der sein Bruder ums Leben gekommen war. Dort stellte er sich in einer Kurve entschlossen mitten auf die Fahrbahn; kniff die verweinten Augen minutenlang zusammen und ließ sich vom nächstbesten Lastwagen überfahren.
Als er auf dem Friedhof beigesetzt wurde, waren nur wenige Menschen anwesend. Einer der Trauernden, ein großer, hagerer Mann, der in einen dunklen Mantel gehüllt war, trat an die Seite von Harrys Mutter.
„Darf ich Ihnen das Beileid der gesamten Lehrerschaft übermitteln? Wir kennen uns noch nicht, ich bin der neue Mathematiklehrer. Görgens, Heinrich Görgens. Es ist vielleicht unpässlich, trotzdem ich möchte Ihnen das hier geben. Es mag ein zusätzlicher kleiner Trost sein.“
Er übergab Harrys Mutter einen Briefumschlag, der an die Schule adressiert war. Bevor sie ihn öffnete, fuhr er fort: „Ich habe Harry schon die ganze Zeit beobachtet. Er ist in Mathematik ein großartiges Talent. Ich habe einige seiner Arbeiten an die Akademie der Wissenschaften geschickt, und gestern kam die Antwort. Die Professoren sind begeistert von der zum Teil genialen Art und Weise, wie er an mathematische Problemfragen herangeht, die weit über Schulniveau liegen. Deshalb das Stipendium....ach, was rede ich da, Sie werden es selber lesen. Ich habe Harry sehr, sehr geschätzt.“
Für einen Augenblick hatten die Augen von Harrys Mutter den alten Glanz. „Ach! Davon wussten wir gar nichts.“
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Bo-ehd,

insgesamt gefällt mir die Geschichte gut, man kann sich, besonders in der ersten Hälfte, gut in den Protagonisten einfühlen und ärgert sich mit über die Eltern.
Ich habe mir überlegt, ob am Schluss nicht zu viel Tragik hineingeflossen ist. Doch das Ende ist als Kurzschlussreaktion des Bruders zu verstehen. Also habe ich nichts zu meckern.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Delfine,
danke fürs Lesen, Kommentieren und Bewerten. Ich habe nicht nur am Schluss, sondern auch in der ersten Hälfte ziemlich viel Tragik einfließen lassen. Das war so beabsichtigt, weil die ganze Geschichte nur von der Tragik und dem Leiden Harrys lebt. Das Ende interpretierst du richtig: Harry wird zu dieser Kurzschlusshandlung getrieben. Und natürlich gehts nicht ohne Pointe: Dass die Mutter von den geistigen und äußerlich kaum sichtbaren Qualitäten nichts weiß, vervollständigt die Tragödie. Übrigens: Habe noch nie deine Kritik als Meckern angesehen.
Gruß bo-ehd
 
Die Aula war bis auf den letzten Platz gefüllt. Schulleiter Dr. Robert Leitner stand vor dem Rednerpult, griff zum Wasserglas, nahm einen Schluck und stellt es wieder ab.
„Kommen wir zum letzten Teil unserer Jahresfeier und zur Ehrung eines ganz besonderen Schülers“, hob er an. „Wenn man der örtlichen Presse glauben darf, hat er am vergangenen Wochenende beim Bezirksturnier im Handball, das wir als die beste Schulmannschaft siegreich beendet haben, im Endspiel das Team des Rückert-Gymnasiums fast im Alleingang 'abgeschossen', wie es wörtlich heißt. Das Endspiel ging 17:12 aus, und dieser Schüler, von dem ich hier spreche, hat allein 11 Tore geschossen, also fast soviel wie die gegnerische Mannschaft. Ja, liebe Eltern, das schreibt die überregionale Presse mit größter Begeisterung, und so etwas macht uns natürlich besonders stolz, kam und kommt doch dem Sport an dieser Schule schon immer eine besondere Bedeutung zu.“
Leitner ließ seinen Blick über die anwesenden Eltern und Schüler streifen, lächelte und nickte, um seinen Worten noch einmal nachträglich Gewicht zu verleihen.
Meinen Bruder, meine Eltern und notgedrungen auch mich hat man bei dieser Veranstaltung in der zweiten Reihe, gleich hinter der Prominenz, Platz nehmen lassen. Da mir das Geschwafel des Direktors gleichgültig war und ich die sportlichen Leistungen meines Bruders zur Genüge kannte, beschäftigten sich meine Gedanken weder mit dem einen noch mit dem anderen, sondern waren ausschließlich auf meine Eltern fixiert. Ich liebte sie, – grundsätzlich gesehen - aber meine Zuneigung hielt sich in letzter Zeit in Grenzen. Jetzt war erst einmal eine gute Gelegenheit, den Ausdruck ihrer Gesichter zu studieren, und so versuchte ich zu ergründen, was sich hinter ihnen verbarg und was in ihren Köpfen vor sich ging.
Obwohl noch kein Name gefallen war, wusste jeder im Saal, dass mein zwei Jahre älterer Bruder Hendrick gemeint war, und meinen Eltern war anzusehen, wie sie jedes einzelne Wort, das wie von der Kanzel verordnet über den Anwesenden schwebte, genossen. So ausgiebig und euphorisch war ihrem so wohlgeratenen Sohn noch nie gehuldigt worden. Sie hatten ja auch gute Gründe dafür, die Worte des Schulleiters wie den süßesten Honig aufzusaugen: Hendrick war der Top-Nachwuchsspieler im Handball weit und breit. Die Vereine klopften schon seit Monaten an unsere Tür und wollten ihn verpflichten, obwohl er noch nicht einmal seine Schule beendet hat. Seine Qualitäten als überragender Linksaußen verdankte er wahrscheinlich seiner hohen Grundschnelligkeit, die er erworben hatte, als er noch täglich für die Leichtathletikmeisterschaften trainierte. Er lief übrigens die 100m in 10,9 Sekunden. Das war schnell genug, um jedem Verteidiger auf der Welt spielend davonzulaufen.
Weshalb die Lehrer ihn so besonders schätzten, hatte allerdings einen weiteren und ganz anderen Grund. Hendrick war nämlich ein ausgesprochener Teamplayer, riss jeden Mitspieler mit, verstand es zu motivieren, baute die Mannschaft in Schwächephasen blitzschnell wieder auf und gewann in jedem Turnier den Fairnesspokal. Hendrick war in jeder Hinsicht auch eine charakterliche Überfigur des Sports.
Die Superlative ließen sich fortsetzen. Er sah blendend aus, war charmant und bestach die Mädchen an der Schule mit seinem verführerischen Lächeln. An jedem Wochenende putzten die Mütter der Schülerinnen ihre Töchter heraus, um sie Hendrick an den Hals zu werfen, um es mal etwas plakativ auszudrücken. Es fiel mir immer schwerer, nicht neidisch auf ihn zu werden, obwohl er mein Bruder war.
Doch zum Wichtigsten: Hendrick war für mich der Bruder und „Übervater“, das Vorbild, der Leitwolf und der Unfehlbare, der immer alles richtig machte. Und er war immer für mich da. Wenn ich meinen Eltern ein Problem schilderte und sie schon längst abgewunken hatten, trat Hendrick auf den Plan, nahm mich buchstäblich bei der Hand und suchte mit mir gemeinsam eine Lösung. Das waren für mich die wertvollsten Momente in meinem siebzehnjährigen Leben. Zum Glück ging er auf die gleiche Schule wie ich, so dass ich immer bei ihm sein konnte, wenn ich ihn brauchte.
Der Schulleiter griff wieder zum Wasserglas, und dann rezitierte er im Detail, was Hendrick für ein toller Junge war. Ich beobachtete meine Mutter, verfolgte, wie sie ihre Unterlippe abwechselnd nach vorn und hinten bewegte, sie mit Speichel befeuchtete und sanft darauf biss, als wollte sie damit die Tränen der Rührung unterdrücken. Oder zum Ausbrechen bringen. Das Wasser stand ihr eh schon in den Augen, und mein Vater legte seine Hand auf ihr Knie, als sei er gerührt und suchte ob dieses Lobgesanges Trost bei ihr. Dabei war mein Vater der größte Ignorant auf dem Erdball. In Momenten wie diesem aber, in denen er die Lorbeeren für etwas entgegennehmen durfte, für das er letzten Endes keinen Finger krumm gemacht hatte, gab er sich als selbstloser Familienvater, der sich für seine Kinder aufopferte.
Ich beobachtete wieder meine Mutter und wunderte mich, welche Regungen nun in ihrem Gesicht zu entdecken waren, obwohl sie es keinen Millimeter bewegte. Ich konnte ihre Gedanken fast greifen, so nah schienen sie mir plötzlich. Und das, was ihr da im Kopf herumschwirrte, war nicht nur der Stolz vor den anderen, es musste ein Gefühl des Überlegenseins sein. Möglich, dass sie glaubte, die Auserwählte zu sein, die solch einen Wunderknaben auf die Welt hatte bringen dürfen. Vielleicht führte sie die sportlichen Wundertaten ihres Sohnes sogar auf das ausgesuchte Genmaterial zurück, das sie mit in die Ehe gebracht hatte. Vielleicht konstruierte sie auch schon seine Zukunft als sportlicher Superstar, der alles an Preisen abräumte, lukrative Werbeverträge abschloss und mit einer Schar schönster Frauen für die Hochglanzmagazine posierte. Ich schüttelte die Gedanken ab und versuchte, meinen Eltern nicht böse zu sein, weil sie all ihre Energie in ihren Sohn Hendrick investiert hatten, als hätten sie nur diesen einen. Mich hatten sie zugegebenermaßen immer gut behandelt, wenn man die Sache mal rein formal betrachtet. Das entscheidende Quäntchen Liebe, das jedes Kind zum Leben braucht, ist freilich in einer solchen Betrachtung nicht enthalten.
Was mir besonders auffiel, war der Ausdruck in ihren Augen. Sie waren fast starr, und trotzdem schienen sie eine ganze Geschichte erzählen zu wollen. Oder Fragen zu stellen. Oder eine Rechtfertigung oder, oder, oder auszudrücken.
„So, nun komm her, mein Junge, und hol dir deine Auszeichnung ab“, rief Leitner meinem Bruder vom Rednerpult aus zu, ließ sich von der Sekretärin eine metallene Plakette mit dem Logo der Schule aushändigen, die er Sekunden später Hendrick überreichte. Noch nie hatte Leitner einen Schüler mit 'mein Junge' angesprochen. Was war nur in ihn gefahren? Und welcher Teufel ritt meine Eltern? Sie beklatschten die Übergabe und standen auf. Als einzige! Wie peinlich!
Ja, die Augen meiner Mutter! Sie sprachen Bände, aber alles, was sie aussagten, als sie mich anschauten, gipfelte in einer einzigen Frage. Konntest du nicht auch so sein wie dein Bruder? Und daran schlossen sich gleich hundert weitere Fragen und Bemerkungen an: Schau, was für eine Persönlichkeit dein Bruder ist, und was hast du bisher geleistet? Hendrick macht uns nur Spaß und Freude. Und du? Sieh doch nur, was für ein hübscher Junge er ist, und du kriegst nicht einmal deine abscheulichen Pickel in den Griff.
Nach der Feier fuhren wir nach Hause. Im Wohnzimmer tranken wir noch ein Glas Sekt. Schließlich waren meine Eltern in bester Stimmung, und Hendrick musste ununterbrochen Lobhudeleien über sich ergehen lassen. Ich konnte es nicht mehr mit anhören und stahl mich mit der Begründung, den Alkohol nicht vertragen zu haben, auf mein Zimmer. Ich schloss mich ein, zog mich aus und trat vor den Spiegel über dem kleinen Waschbecken. Als ich hineinsah, standen mir die Tränen in den Augen.
Mein Bruder, der erfolgreiche Sportler, der unwiderstehliche Mädchenschwarm, Papas Liebling, Mamas Liebling, belohnt, verwöhnt, verhätschelt, gelobt, liebkost und umsorgt. Und ich?
Wer war ich schon? Ein unansehnlicher Durchschnittstyp mit Sommersprossen, zu großen Zähnen, ohne Muskeln, ohne athletische Figur, ohne Charme und Chancen bei irgend jemandem. Ich war eine Randfigur, ein Nobody, ein Teil der menschlichen Masse ohne Bedeutung, jemand, der noch nie etwas geleistet hatte. Und meine Mutter ließ mich das alles mehr als deutlich spüren.
Ich war trotz meines jugendlichen Alters Realist genug, das richtig einzuordnen, und stellte mir die Frage, was wohl aus mir würde, wenn Hendrick eines Tages seiner Karriere nachjagen und das elterliche Haus verlassen würde.
Drei Tage später fuhr Hendrick für eine Woche in ein Trainingslager, für das ihm die Schule großzügigerweise frei gegeben hatte. Ziel war ein Platz im Kader für die Jugendnationalmannschaft, den man aus den Talenten aller Bundesländer zusammenstellen wollte. Erwartungsgemäß wurde Hendrick nominiert, wie er uns telefonisch wissen ließ, doch dann, auf der Heimfahrt, passierte es. Auf der spätabendlichen Fahrt vom Bahnhof nach Hause musste sein Taxi einer Meute rasender Motorradfahrer ausweichen, geriet dabei von der Fahrbahn ab, stürzte eine Böschung hinunter und überschlug sich mehrfach. Der Taxifahrer und Hendrick waren sofort tot.
Wie es bei uns üblich ist, luden wir die Trauergäste nach der Beerdigung zu uns zum Leichenschmaus. Ich hatte natürlich am Tisch meiner Eltern Platz genommen und hatte das zweifelhafte Vergnügen, ihnen genau gegenüber zu sitzen. Während der ersten Stunde war alles noch ganz normal, aber dann merkte ich, wie der Alkohol die Menschen veränderte. Das betraf leider auch meine Eltern, insbesondere meine Mutter. Ihre Blicke waren wieder so vorwurfsvoll und voller Leid, dass ich mich schwertat, ihr ins Gesicht zu schauen. Aber ich konnte doch nicht immerzu wegsehen. Und so ergab es sich, dass ich sie anschaute, schnell wieder wegsah, anschaute, wieder wegsah. Ich war voller Scham und Angst und hatte das Gefühl, das ungeliebteste, nutzloseste und überflüssigste Kind auf der Welt zu sein. Nicht dass ich mir so etwas einbildete, ich erkannte einfach, was ihre Augen sagten. Ihre Blicke waren wie Pfeile, die eine niederschmetternde Botschaft schickten. Warum musste unser geliebter Sohn sterben? Hätte das Schicksal nicht dich nehmen können? Warum er, unser großartiger Junge, und nicht du?
Ich stand auf, ging nach oben in mein Zimmer und weinte mir die Augen aus dem Kopf.

*​

Hier endet Harrys Schilderung, aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn noch während das Haus voller Trauergäste war, stahl er sich aus dem Haus und fuhr mit dem Fahrrad an die Stelle, an der sein Bruder ums Leben gekommen war. Dort stellte er sich in einer Kurve entschlossen mitten auf die Fahrbahn; kniff die verweinten Augen minutenlang zusammen und ließ sich vom nächstbesten Lastwagen überfahren.
Als er auf dem Friedhof beigesetzt wurde, waren nur wenige Menschen anwesend. Einer der Trauernden, ein großer, hagerer Mann, der in einen dunklen Mantel gehüllt war, trat an die Seite von Harrys Mutter.
„Darf ich Ihnen das Beileid der gesamten Lehrerschaft übermitteln? Wir kennen uns noch nicht, ich bin der neue Mathematiklehrer. Görgens, Heinrich Görgens. Es ist vielleicht unpässlich, trotzdem ich möchte Ihnen das hier geben. Es mag ein zusätzlicher kleiner Trost sein.“
Er übergab Harrys Mutter einen Briefumschlag, der an die Schule adressiert war. Bevor sie ihn öffnete, fuhr er fort: „Ich habe Harry schon die ganze Zeit beobachtet. Er ist in Mathematik ein großartiges Talent. Ich habe einige seiner Arbeiten an die Akademie der Wissenschaften geschickt, und gestern kam die Antwort. Die Professoren sind begeistert von der zum Teil genialen Art und Weise, wie er an mathematische Problemfragen herangeht, die weit über Schulniveau liegen. Deshalb das Stipendium....ach, was rede ich da, Sie werden es selber lesen. Ich habe Harry sehr, sehr geschätzt.“
Für einen Augenblick hatten die Augen von Harrys Mutter den alten Glanz. „Ach! Davon wussten wir gar nichts.“
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Armin,
wenn du kommentieren willst, kannst du das direkt unter den zitierten Text tun. Der zu kommentierende Text kann entweder aus ein paar Zeilen, einem Absatz oder der ganzen Geschichte bestehen, je nachdem, was du markierst.
Schönen Sonntag noch.
Gruß Bo-ehd
 
Die Aula war bis auf den letzten Platz gefüllt. Schulleiter Dr. Robert Leitner stand vor dem Rednerpult, griff zum Wasserglas, nahm einen Schluck und stellt es wieder ab.
„Kommen wir zum letzten Teil unserer Jahresfeier und zur Ehrung eines ganz besonderen Schülers“, hob er an. „Wenn man der örtlichen Presse glauben darf, hat er am vergangenen Wochenende beim Bezirksturnier im Handball, das wir als die beste Schulmannschaft siegreich beendet haben, im Endspiel das Team des Rückert-Gymnasiums fast im Alleingang 'abgeschossen', wie es wörtlich heißt. Das Endspiel ging 17:12 aus, und dieser Schüler, von dem ich hier spreche, hat allein 11 Tore geschossen, also fast soviel wie die gegnerische Mannschaft. Ja, liebe Eltern, das schreibt die überregionale Presse mit größter Begeisterung, und so etwas macht uns natürlich besonders stolz, kam und kommt doch dem Sport an dieser Schule schon immer eine besondere Bedeutung zu.“
Leitner ließ seinen Blick über die anwesenden Eltern und Schüler streifen, lächelte und nickte, um seinen Worten noch einmal nachträglich Gewicht zu verleihen.
Meinen Bruder, meine Eltern und notgedrungen auch mich hat man bei dieser Veranstaltung in der zweiten Reihe, gleich hinter der Prominenz, Platz nehmen lassen. Da mir das Geschwafel des Direktors gleichgültig war und ich die sportlichen Leistungen meines Bruders zur Genüge kannte, beschäftigten sich meine Gedanken weder mit dem einen noch mit dem anderen, sondern waren ausschließlich auf meine Eltern fixiert. Ich liebte sie, – grundsätzlich gesehen - aber meine Zuneigung hielt sich in letzter Zeit in Grenzen. Jetzt war erst einmal eine gute Gelegenheit, den Ausdruck ihrer Gesichter zu studieren, und so versuchte ich zu ergründen, was sich hinter ihnen verbarg und was in ihren Köpfen vor sich ging.
Obwohl noch kein Name gefallen war, wusste jeder im Saal, dass mein zwei Jahre älterer Bruder Hendrick gemeint war, und meinen Eltern war anzusehen, wie sie jedes einzelne Wort, das wie von der Kanzel verordnet über den Anwesenden schwebte, genossen. So ausgiebig und euphorisch war ihrem so wohlgeratenen Sohn noch nie gehuldigt worden. Sie hatten ja auch gute Gründe dafür, die Worte des Schulleiters wie den süßesten Honig aufzusaugen: Hendrick war der Top-Nachwuchsspieler im Handball weit und breit. Die Vereine klopften schon seit Monaten an unsere Tür und wollten ihn verpflichten, obwohl er noch nicht einmal seine Schule beendet hat. Seine Qualitäten als überragender Linksaußen verdankte er wahrscheinlich seiner hohen Grundschnelligkeit, die er erworben hatte, als er noch täglich für die Leichtathletikmeisterschaften trainierte. Er lief übrigens die 100m in 10,9 Sekunden. Das war schnell genug, um jedem Verteidiger auf der Welt spielend davonzulaufen.
Weshalb die Lehrer ihn so besonders schätzten, hatte allerdings einen weiteren und ganz anderen Grund. Hendrick war nämlich ein ausgesprochener Teamplayer, riss jeden Mitspieler mit, verstand es zu motivieren, baute die Mannschaft in Schwächephasen blitzschnell wieder auf und gewann in jedem Turnier den Fairnesspokal. Hendrick war in jeder Hinsicht auch eine charakterliche Überfigur des Sports.
Die Superlative ließen sich fortsetzen. Er sah blendend aus, war charmant und bestach die Mädchen an der Schule mit seinem verführerischen Lächeln. An jedem Wochenende putzten die Mütter der Schülerinnen ihre Töchter heraus, um sie Hendrick an den Hals zu werfen, um es mal etwas plakativ auszudrücken. Es fiel mir immer schwerer, nicht neidisch auf ihn zu werden, obwohl er mein Bruder war.
Doch zum Wichtigsten: Hendrick war für mich der Bruder und „Übervater“, das Vorbild, der Leitwolf und der Unfehlbare, der immer alles richtig machte. Und er war immer für mich da. Wenn ich meinen Eltern ein Problem schilderte und sie schon längst abgewunken hatten, trat Hendrick auf den Plan, nahm mich buchstäblich bei der Hand und suchte mit mir gemeinsam eine Lösung. Das waren für mich die wertvollsten Momente in meinem siebzehnjährigen Leben. Zum Glück ging er auf die gleiche Schule wie ich, so dass ich immer bei ihm sein konnte, wenn ich ihn brauchte.
Der Schulleiter griff wieder zum Wasserglas, und dann rezitierte er im Detail, was Hendrick für ein toller Junge war. Ich beobachtete meine Mutter, verfolgte, wie sie ihre Unterlippe abwechselnd nach vorn und hinten bewegte, sie mit Speichel befeuchtete und sanft darauf biss, als wollte sie damit die Tränen der Rührung unterdrücken. Oder zum Ausbrechen bringen. Das Wasser stand ihr eh schon in den Augen, und mein Vater legte seine Hand auf ihr Knie, als sei er gerührt und suchte ob dieses Lobgesanges Trost bei ihr. Dabei war mein Vater der größte Ignorant auf dem Erdball. In Momenten wie diesem aber, in denen er die Lorbeeren für etwas entgegennehmen durfte, für das er letzten Endes keinen Finger krumm gemacht hatte, gab er sich als selbstloser Familienvater, der sich für seine Kinder aufopferte.
Ich beobachtete wieder meine Mutter und wunderte mich, welche Regungen nun in ihrem Gesicht zu entdecken waren, obwohl sie es keinen Millimeter bewegte. Ich konnte ihre Gedanken fast greifen, so nah schienen sie mir plötzlich. Und das, was ihr da im Kopf herumschwirrte, war nicht nur der Stolz vor den anderen, es musste ein Gefühl des Überlegenseins sein. Möglich, dass sie glaubte, die Auserwählte zu sein, die solch einen Wunderknaben auf die Welt hatte bringen dürfen. Vielleicht führte sie die sportlichen Wundertaten ihres Sohnes sogar auf das ausgesuchte Genmaterial zurück, das sie mit in die Ehe gebracht hatte. Vielleicht konstruierte sie auch schon seine Zukunft als sportlicher Superstar, der alles an Preisen abräumte, lukrative Werbeverträge abschloss und mit einer Schar schönster Frauen für die Hochglanzmagazine posierte. Ich schüttelte die Gedanken ab und versuchte, meinen Eltern nicht böse zu sein, weil sie all ihre Energie in ihren Sohn Hendrick investiert hatten, als hätten sie nur diesen einen. Mich hatten sie zugegebenermaßen immer gut behandelt, wenn man die Sache mal rein formal betrachtet. Das entscheidende Quäntchen Liebe, das jedes Kind zum Leben braucht, ist freilich in einer solchen Betrachtung nicht enthalten.
Was mir besonders auffiel, war der Ausdruck in ihren Augen. Sie waren fast starr, und trotzdem schienen sie eine ganze Geschichte erzählen zu wollen. Oder Fragen zu stellen. Oder eine Rechtfertigung oder, oder, oder auszudrücken.
„So, nun komm her, mein Junge, und hol dir deine Auszeichnung ab“, rief Leitner meinem Bruder vom Rednerpult aus zu, ließ sich von der Sekretärin eine metallene Plakette mit dem Logo der Schule aushändigen, die er Sekunden später Hendrick überreichte. Noch nie hatte Leitner einen Schüler mit 'mein Junge' angesprochen. Was war nur in ihn gefahren? Und welcher Teufel ritt meine Eltern? Sie beklatschten die Übergabe und standen auf. Als einzige! Wie peinlich!
Ja, die Augen meiner Mutter! Sie sprachen Bände, aber alles, was sie aussagten, als sie mich anschauten, gipfelte in einer einzigen Frage. Konntest du nicht auch so sein wie dein Bruder? Und daran schlossen sich gleich hundert weitere Fragen und Bemerkungen an: Schau, was für eine Persönlichkeit dein Bruder ist, und was hast du bisher geleistet? Hendrick macht uns nur Spaß und Freude. Und du? Sieh doch nur, was für ein hübscher Junge er ist, und du kriegst nicht einmal deine abscheulichen Pickel in den Griff.
Nach der Feier fuhren wir nach Hause. Im Wohnzimmer tranken wir noch ein Glas Sekt. Schließlich waren meine Eltern in bester Stimmung, und Hendrick musste ununterbrochen Lobhudeleien über sich ergehen lassen. Ich konnte es nicht mehr mit anhören und stahl mich mit der Begründung, den Alkohol nicht vertragen zu haben, auf mein Zimmer. Ich schloss mich ein, zog mich aus und trat vor den Spiegel über dem kleinen Waschbecken. Als ich hineinsah, standen mir die Tränen in den Augen.
Mein Bruder, der erfolgreiche Sportler, der unwiderstehliche Mädchenschwarm, Papas Liebling, Mamas Liebling, belohnt, verwöhnt, verhätschelt, gelobt, liebkost und umsorgt. Und ich?
Wer war ich schon? Ein unansehnlicher Durchschnittstyp mit Sommersprossen, zu großen Zähnen, ohne Muskeln, ohne athletische Figur, ohne Charme und Chancen bei irgend jemandem. Ich war eine Randfigur, ein Nobody, ein Teil der menschlichen Masse ohne Bedeutung, jemand, der noch nie etwas geleistet hatte. Und meine Mutter ließ mich das alles mehr als deutlich spüren.
Ich war trotz meines jugendlichen Alters Realist genug, das richtig einzuordnen, und stellte mir die Frage, was wohl aus mir würde, wenn Hendrick eines Tages seiner Karriere nachjagen und das elterliche Haus verlassen würde.
Drei Tage später fuhr Hendrick für eine Woche in ein Trainingslager, für das ihm die Schule großzügigerweise frei gegeben hatte. Ziel war ein Platz im Kader für die Jugendnationalmannschaft, den man aus den Talenten aller Bundesländer zusammenstellen wollte. Erwartungsgemäß wurde Hendrick nominiert, wie er uns telefonisch wissen ließ, doch dann, auf der Heimfahrt, passierte es. Auf der spätabendlichen Fahrt vom Bahnhof nach Hause musste sein Taxi einer Meute rasender Motorradfahrer ausweichen, geriet dabei von der Fahrbahn ab, stürzte eine Böschung hinunter und überschlug sich mehrfach. Der Taxifahrer und Hendrick waren sofort tot.
Wie es bei uns üblich ist, luden wir die Trauergäste nach der Beerdigung zu uns zum Leichenschmaus. Ich hatte natürlich am Tisch meiner Eltern Platz genommen und hatte das zweifelhafte Vergnügen, ihnen genau gegenüber zu sitzen. Während der ersten Stunde war alles noch ganz normal, aber dann merkte ich, wie der Alkohol die Menschen veränderte. Das betraf leider auch meine Eltern, insbesondere meine Mutter. Ihre Blicke waren wieder so vorwurfsvoll und voller Leid, dass ich mich schwertat, ihr ins Gesicht zu schauen. Aber ich konnte doch nicht immerzu wegsehen. Und so ergab es sich, dass ich sie anschaute, schnell wieder wegsah, anschaute, wieder wegsah. Ich war voller Scham und Angst und hatte das Gefühl, das ungeliebteste, nutzloseste und überflüssigste Kind auf der Welt zu sein. Nicht dass ich mir so etwas einbildete, ich erkannte einfach, was ihre Augen sagten. Ihre Blicke waren wie Pfeile, die eine niederschmetternde Botschaft schickten. Warum musste unser geliebter Sohn sterben? Hätte das Schicksal nicht dich nehmen können? Warum er, unser großartiger Junge, und nicht du?
Ich stand auf, ging nach oben in mein Zimmer und weinte mir die Augen aus dem Kopf.

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Hier endet Harrys Schilderung, aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn noch während das Haus voller Trauergäste war, stahl er sich aus dem Haus und fuhr mit dem Fahrrad an die Stelle, an der sein Bruder ums Leben gekommen war. Dort stellte er sich in einer Kurve entschlossen mitten auf die Fahrbahn; kniff die verweinten Augen minutenlang zusammen und ließ sich vom nächstbesten Lastwagen überfahren.
Als er auf dem Friedhof beigesetzt wurde, waren nur wenige Menschen anwesend. Einer der Trauernden, ein großer, hagerer Mann, der in einen dunklen Mantel gehüllt war, trat an die Seite von Harrys Mutter.
„Darf ich Ihnen das Beileid der gesamten Lehrerschaft übermitteln? Wir kennen uns noch nicht, ich bin der neue Mathematiklehrer. Görgens, Heinrich Görgens. Es ist vielleicht unpässlich, trotzdem ich möchte Ihnen das hier geben. Es mag ein zusätzlicher kleiner Trost sein.“
Er übergab Harrys Mutter einen Briefumschlag, der an die Schule adressiert war. Bevor sie ihn öffnete, fuhr er fort: „Ich habe Harry schon die ganze Zeit beobachtet. Er ist in Mathematik ein großartiges Talent. Ich habe einige seiner Arbeiten an die Akademie der Wissenschaften geschickt, und gestern kam die Antwort. Die Professoren sind begeistert von der zum Teil genialen Art und Weise, wie er an mathematische Problemfragen herangeht, die weit über Schulniveau liegen. Deshalb das Stipendium....ach, was rede ich da, Sie werden es selber lesen. Ich habe Harry sehr, sehr geschätzt.“
Für einen Augenblick hatten die Augen von Harrys Mutter den alten Glanz. „Ach! Davon wussten wir gar nichts.“

Die Eltern in dieser Geschichte mussten erfahren, dass sie den übereifrigen Ehrgeiz für den Erstgeborenen mit dem Tode ihres 2. Sohnes bezahlen mussten.
Die Geschichte ist sehr schön erzählt und schließt mit dem sehr eindrucksvollen Satz: "Ach! Davon wussten wir gar nichts."
 



 
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