Brutalo

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anemone

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Die Mütter holten ihre Kinder ins Haus. Brutalo würde heute entlassen und das bedeutete nichts Gutes, denn seine Heimat war hier, hier in dieser Plattenbausiedlung. Er hatte seine 40 Jahre abgesessen; 40 Jahre, das war eine lange Zeit, nicht nur für ihn und wer weiß, wie er so mit der Freiheit zurecht kam. Immerhin ging das Gerücht, dass er vor 40 Jahren seiner Frau und den Kindern kurzerhand den Hals umgedreht hatte, einfach so, wie bei einem Hähnchen. Ja, sie waren auf der Hut, die Mitbewohner, denn sie wussten es: Seine Wohnung war nach wie vor hier. Wie mochte sie nach all den Jahren noch aussehen? Ob der Staat die Miete zahlte für ihn? „Aber wer wollte auch dort einziehen, in eine Wohnung, in der Leute ermordet wurden! Ich bitte Sie!“ Sie tuschelten eine Menge, die Bewohner, doch sobald Brutalo auftauchte, verstummte das Gespräch.

Man hörte nur noch die Stimmen, die riefen: „Mario, Britta, reinkommen!“
Brutalo hingegen schaute sich neugierig alles an. Er stand vor dem Kinderspielplatz und besah sich die Spielgeräte, doch es war wie bei den Vögeln: Sobald er auf der Bildfläche erschien, flatterte alles davon.
„Habt ihr schon gehört, der Mörder ist wieder da?“ Wer es bis jetzt noch nicht wusste, erfuhr es nun durch Frau Suhl, die als Tratschweib in der ganzen Siedlung bekannt war. Immer stand sie an irgendeiner Ecke, um die Leute über die Neuigkeiten aus der Umgebung zu informieren.
„Was sie nicht sagen?!“ kam es aus vielen Kehlen und hinterher folgte oft die Frage: „und wen hatte er ermordet und warum?“ „Man sagt, er habe sich darüber so aufgeregt, dass diese Kinder nicht von ihm seien und er wusste nicht mehr was er tat.“

Er war kräftig gebaut, ein wahres Muskelpaket von einem Mann, wenn er auch schon 66 Jahre alt war, er erweckte den Eindruck, selbst heute, als könnte er noch immer Bäume ausreißen.

Nachdem er sich die Spielgeräte lange genug betrachtet hatte, machte er sich auf, um in seine Wohnung zu gehen, immer verfolgt von den Blicken der Menschen des Hauses. Brutalo öffnete die Tür zu seiner Wohnung, setzte sich an den verstaubten Esstisch und nach 40 Jahren, endlich, weinte Brutalo bitterlich über seine Tat.

Er weinte lange; es schüttelte ihn förmlich und sein Schluchzen vernahm man bis ins Treppenhaus. Brutalo vergaß es, seinen Kühlschrank zu füllen und erst recht, dafür zu sorgen, dass Strom in seine Wohnung kam. So lag er die halbe Nacht, den Kopf auf den Tisch zwischen seinen Armen und er verspürte keinen Hunger. Er suchte im Besteckkasten nach einem Messer und spielte mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen, als es plötzlich an der Haustür klopfte. Langsam erhob Brutalo sich und lief mit schlurfenden Schritten auf den Hausflur zu: Zwei Grünuniformierte standen im Treppenhaus und erwarteten von ihm, hereingelassen zu werden. Das Küchenmesser hielt Brutalo nicht länger in seiner Hand. Es wurde ihm sogleich abgenommen. Er blinzelte, als er in den grellen Hausflur blickte und hörte wie in weiter Ferne die Stimme des Beamten, der etwas redete von „verständigt worden“ und „gefährdet“ und „Nachbarn“.
Den Blick auf das Küchenmesser gerichtet hielten die Beamten es für angebracht, Brutalo nicht länger sich selbst zu überlassen und sie nahmen ihn mit und steckten ihn vorsichtshalber in die Ausnüchterungszelle des Polizeigebäudes. „Haben Sie etwas gegessen?“ wollte einer von ihnen wissen doch die einzige Antwort, die er erhielt war: Ich will ein Bier trinken!“ „Na, na, WILL!“ klang darauf entrüstet die Stimme des Beamten, doch schon bald darauf stand eine Dose Büchsenbier vor ihm und aus der einen Dose wurden vier oder fünf im Laufe der Nacht und als der Tag anbrach, hörte der diensthabende Beamte sein Schnarchen.

Nach Überprüfung seiner Angaben wurde Brutalo am nächsten Morgen entlassen, jedoch nicht eher, ohne vorher den sozialen Dienst über ihn zu informieren, der versprach, sich um ihn zu kümmern.
Brutalo indessen wollte nicht sogleich zurück in seine triste Wohnung. Ihn interessierte das Leben, das ihm so lange vorenthalten worden war. Es zog ihn in die Stadt, in die Kirchen, in die Geschäfte. Der Tag wurde ihm nicht langweilig. Er fühlte sich wohler dort zwischen vielen Menschen, die ihn nicht mit Argusaugen betrachteten und jeden seiner Schritte verfolgten. Von seinem Startkapital konnte er sich eine Weile über Wasser halten und er genoss es, sich an einem Stand einen Backfisch zu kaufen, ihn auf einer Parkbank zu verspeisen und sich mit den Pennern im Stadtgarten zu unterhalten. Schon bald fühlte er sich weniger einsam und er beschloss für sich, seine Wohnung schnellstens zu vergessen. Er wollte sich den Pennern anschließen, die keinen Anstoß an ihm nahmen und die es nicht interessierte woher er kam und wohin er ging. Es interessierte sie nur – was er nicht wissen konnte – :„Dieser Typ hat sich einen Fisch gekauft, er muss noch Knete haben und es wäre doch gelacht, wenn dabei für uns nichts abspringen sollte.“ Frieda holte in seinem Auftrag für jeden ein Bier und schon war Brutalo in die Gemeinschaft der Penner aufgenommen.

Ab jetzt hieß er Bruno; er streifte seine Vergangenheit ab, soff sich das Gehirn zu und versuchte den ganzen Schlamassel zu vergessen, der hinter ihm lag. Frieda gefiel ihm und sie hatte es schnell herausbekommen, dass es da eine Wohnung gab, in die er nicht hineinwollte.
Der Gedanke an eine Wohnung ließ Frieda nicht mehr los, schon lange sehnte sie sich nach einem heißen Bad und einem weichen Bett, doch sie konnt Bruno lediglich die Wohnungsschlüssel entlocken und also zog einige Stunden später ein ganzer Trupp Penner in Richtung Plattenbausiedlung. Die Stimmung unter ihnen war großartig, freuten sie sich doch alle auf die Annehmlichkeiten, auf die sie so lange verzichten mussten.

Die Plattenbaubewohner sahen diesen Fußtrupp mit den Flaschen in der Hand schon von weitem kommen. „Was will das Gesocks hier? Wir müssen es vertreiben!“ Die gute Laune der Penner änderte sich mit einem Schlag: Sie wagten es nicht, sich weiterhin miteinander zu unterhalten. Sie kannten diese Art der Begrüßung schon aus Erfahrungen, die sie lieber nicht gemacht hätten und überhörten die Anfangsrufe der Menschen dieser Art wie: „Hey, Penner!“
Und „Ab mit euch, was wollt ihr hier!“ und „Geht zurück dorthin, wo ihr herkommt!“
Ruhig und gelassen wedelten sie nur mit dem Wohnungsschlüssel und die Hausbewohner rückten missmutig zur Seite. Wie üblich wurde natürlich getuschelt, aber so etwas überhörten die Neulinge geflissentlich. Frieda riss gleich alle Fenster auf, denn sie waren an Frischluft gewöhnt und nicht an so eine stickige Wohnung. Wie die Kinder freuten sie sich, als das kalte Wasser aus der Leitung plätscherte und sie bespritzten sich gegenseitig mit dem kalten Nass. Es gab sogar eine Flasche Shampoo im Bad – hätten sie auf das Datum geschaut – aber lassen wir das! Friedas Haare sahen schon lange nicht mehr so schön aus und Fredi und Manni meinten: „Hey Frieda, alte Schlampe, wussten gar nicht, dass du so gut aussiehst! Und bald schon sprangen sie in den Betten herum, denn die kalte Dusche hatte sie zum Beleben gebracht. Das war dann auch der Grund, das Klopfen zu überhören und die Leute von der Seelsorge zogen wieder von dannen, ohne mit Brutalo auch nur ein Wort gesprochen zu haben. Dafür redeten aber die Hausbewohner mit ihnen. „Stellen sie sich vor, Penner sind jetzt dort! Unverschämtheit! Und das bezahlt wohlmöglich auch noch der Staat!“

Bruno indes interessierte sich nicht mehr dafür, was mit oder in seiner Wohnung passierte: - Sollten sie doch treiben, was sie wollten, sie würden schon sehen, was sie davon haben. –
Für ihn war die Sache abgehakt, er hielt sich an der Flasche fest und fand Gefallen daran, im Freien zu schlafen. Welch ein Unterschied, als in einer Zelle zu liegen oder dort zu wohnen, wo einen alles an seine widerliche Vergangenheit erinnerte. Des nachts die Vögel singen und rascheln hören, Mäuse flitzen sehen und dabei sein, wenn die Stadt aus dem Schlaf erwachte: Es war für ihn das Schönste und Größte, was er sich im Moment vorstellen konnte, dazu noch diesen Freund an der Seite, den sie Alfredo nannten und der es verstand Musik zu machen, wo immer er sich befand auf dieser alten Geige, die sie beim Sperrmüll entdeckten und immer wenn Bruno die Erinnerungen kamen und er hatte noch Geld in der Tasche, warf er Alfredo eine Münze zu und bat ihn zu spielen. Alfredo spielte wunderschön. Bevor er bei den Pennern auskam war er Straßenmusikant gewesen. „Lady in red“ wurde zu Brunos Lieblingslied und immer, wenn Alfredo spielen sollte, begann er mit diesem Lied.

„Warum ist ausgerechnet dieses Lied dein Lieblingslied?“ wollte eines Tages Alfredo wissen.
„Wann hast du eigentlich zum letzten mal eine Frau gehabt?“ Diese Frage war nicht so schnell zu beantworten für ihn und er gestand Alfredo, dass er schon Bock auf Frieda gehabt hätte, wenn sie nur nicht unbedingt in seine Wohnung gewollt hätte. Dass es sein Lieblingslied war, weil ihm immer wieder die Würgestreifen am Hals seiner Frau vor Augen standen, sagte er nicht. Sie waren sein ständiger Begleiter am Tage und in der Nacht. Von ihnen träumte er während der Zeit, die er in der Gefängniszelle verbrachte und er hatte sie vor Augen sobald er allein war. Plötzlich schlug Alfredo vor: „Lass uns zu Frieda gehen!“ Alles in Bruno sträubte sich dagegen. „Sie wird schon wiederkommen und dann......!“ Bruno machte eine gewisse Handbewegung, doch Alfredo ging ohne noch ein Wort zu sagen durch den Park in die Richtung auf die Plattenbauwohnungen zu. Bruno weigerte sich ihm nachzugehen, jedoch vom Endes des Parks winkte und gröhlte Alfredo herüber. Schließlich kannte er den Weg nicht so genau und die Hausnummer wusste er ebenfalls nicht. Er gröhlte so lange, bis Bruno sich erhob.

Bruno und Alfredo hörten durch die offenen Fenster die Stimmen ihrer Freunde schon von weitem. Es hörte sich ganz so an, als säßen sie nicht auf dem Trockenen, was sich bestätigte, sobald sie über die Türschwelle in die Wohnung traten. Es stand eine große Flasche Cognac vor ihnen, die sie noch nicht bis zu Hälfte geleert hatten. Die Flasche wurde reihum gereicht und Alfredo stubste Bruno in die Seite, der allerdings nicht darauf reagierte. „Frieda, bedank dich mal bei Bruno!“ Alfredo ergriff für ihn das Wort: „Ich werde euch auch was feines spielen!“ und schon klemmte er sich die Geige unter sein Kinn. Nun kam Frieda in Stimmung und zog Bruno hinter sich her, sie mochte ihn, allein schon wegen der Wohnung, aus der sie so gerne nicht mehr hinaus wollte.
Bruno hatte Nachholbedarf, Frieda konnte es kaum glauben, er musste ja völlig ausgehungert sein! Zunächst machte es ihr noch Spaß, aber jetzt, wo Alfredo die Melodie von „Lady in red“ auf seiner Geige anstimmte und das Lied unter dem Gegröhle ihrer Kumpel durch die Türritze drang, wurde seine Liebe doch sehr heftig. Die altbekannte Melodie ließ Bruno in einen wahren Rauschzustand versetzen und während er sonst Tag und Nacht die Würgeringe seiner Hände vor Augen sah, waren sie jetzt verschwunden. Bruno sah den nackten kahlen Hals vor sich, dem etwas Wesentliches fehlte. Und im Rausch dieses Liedes biss er zu, bis das Blut an Frieda herunterlief. Frieda, diese Dame von 50 Jahren, den Umgang mit rauhen Burschen gewohnt, fackelte nicht lange, sie setzte ihm links und rechts ein paar Backpfeifen und versuchte ihm zu entkommen. Plötzlich sprang Bruno auf, die Ohrfeigen hatten ihn wieder zur Besinnung gebracht. Er riss die Tür auf und brüllte in den Raum: „AUFHÖREN!“ so laut, dass es in der ganzen Siedlung zu hören war. Sofort legte Alfredo die Fiedel zur Seite und alle starrten abwechselnd mal auf Friedas Hals und mal auf Bruno, der am ganzen Körper bebend seinen Kopf zwischen die Arme legte und ihn schluchzend auf die Tischplatte fallen ließ.

Es wurde still in der Wohnung. Frieda erhob sich und schlurfenden Schrittes, benommen von seinen heftigen Stößen, besah sich ihre Bisswunde in dem halbblinden Badezimmerspiegel und kam zurück mit der Bemerkung: „Das kostet dich aber mindestens eine Flasche Schnaps, mein Bruno!“ und damit war für sie die Sache erledigt. Sie lümmelte sich in die Sofaecke und machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen, als es dann wenige Minuten später an der Tür klopfte. Die Grünuniformierten standen wieder davor, um die Gesellschaft wegen ruhestörenden Lärms zu verwarnen, jedoch gab es keinen Grund mehr dafür. Es war so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Unverrichteter Dinge zogen die Beamten wieder ab. „Keine besonderen Vorkommnisse!“ gaben sie hinterher durch die Sprechanlage ihres Einsatzfahrzeuges in die Zentrale zurück.

Bruno setzte sich neben Frieda auf das Sofa und weinte in ihren Schoß.

"Darauf lasst uns eine heben!" hob einer der Saufbolde
die Stille auf und die Flasche machte wieder ihre Runde.
 
Zwischendurch hieß der gute Bruno mal Benno, aber dies nur am Rande.
Die Geschichte wirkt gegen Ende wie abgewürgt, als hätte dich die Lust oder Geduld verlassen. Ich würde es daraifhin nochmal überarbeiten.

Gruß,
Michael
 



 
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