Brynn - 1. Kapitel (nach Prolog)

Pax Nemesis

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Eine sternenlose Nacht lag über dem Lager, nur der Vollmond schien am Himmel. Auf einer Lichtung brannte ein Lagerfeuer und erhellte die Nacht zusätzlich gerade soviel, dass man die Zelte darum sehen konnte. Um das bratzelnde Feuer wärmten sich ein paar Wachen und unterhielten sich um nicht einzuschlafen. Außer dem leisen Flüstern schien es im Lager friedlich zu sein. Doch der Schein drügte. Nicht jeder in den Zelten schlief und die, die es taten, hatten unruhige Träume. Die Ereignisse des vergangenen Tage hatten jeden nicht unberührt gelassen.
[ 5]Auch Brynn, die es nach langem Wachliegen geschafft hatte, einzuschlafen, wälzte sich auf ihrem Lager hin und her. In ihrem Traum sah sie Thora, wie sie am Pfahl stand und die Flammen um sie herum tanzten und immer höher stiegen. Brynn wollte auf sie zueilen und sie befreien, doch eine Hitzewand drängte sie zurück, brannte auf ihrem Gesicht. Sie konnte nicht zu ihr gelangen. Thora hob um Hilfe flehend die Arme und öffnete ihrem Mund als wollte sie sie um Hilfe anflehen. Doch was sie sagen wollte, ging in den Flammen, die über ihr zusammenschlugen, unter. Das plötzliche große Aufbrennen der Flammen schleuderte Brynn eine neue Hitzewelle entgegen und sie glaubte, zu verbrühen.
[ 5]Brynn setzte sich kerzengerade in ihrem Bett auf und hielt die Hände schützend auf ihr Gesicht. Einige Sekunden vergingen, bis sie merkte, dass es nur ein Traum gewesen war. Sie schwitzte und nachdem sich der erste Schock gelegt hatte und sie sich wieder beruhigte, stiegen Tränen in ihr hoch. Sie schlang ihre Arme um ihre Beine und wiegte sich hin und her, dabei weinte sie stumm.
[ 5]Nach einigen tiefversunkenen Minuten richtete sie sich wieder auf und schaute auf das Lager neben ihr, das nun unbenutzt dalag, da die Frau, die es benutzt hatte, tot war. Brynn brauchte frische Luft, denn sie hatte das Gefühl, der Kloß in ihrem Hals würde sie ersticken. Sie wischte sich die nassen Wangen ab, schlang ihrem Mantel um sich und trat aus ihrem Zelt.
[ 5]Kühle Nachtluft umfing sie und kühlte ihr noch heißes Gesicht. Sie durchquerte das Lager und bemerkte die verstohlenen Blicke der Wachen. Als sie und Thorwald am Nachmittag zurückgekommen waren, brauchten die Männer nicht zu fragen, ob ihre Mission geglückt war, sie konnten es von ihren Gesichtern ablesen. Es wurden keine großen Worte darüber verloren, jeder war über Thoras Verlust bekümmert und keiner von ihnen hätte mit den Beiden tauschen wollen.
[ 5]Am Rande der Lichtung entdeckte sie Thorwald, der an einen Baum gelehnt dastand und vor sich hin starrte. In den Händen hielt er krampfhaft seinen Bogen umklammert. Für einen Moment wollte sie zu ihm gehen, doch dann hielt sie inne. Was sollte sie ihm sagen? Wie sollte sie seinen Schmerz lindern, da sie selbst noch keine Worte fand? Später würde sie mit ihm sprechen, wenn sie Worte dafür gefunden hatte. Sie bog in einen Waldpfad ein und entfernte sich mit strammem Schritt vom Lager.
[ 5]Sie kannte den Pfad auswendig, seine Windungen und die Wurzeln der Bäume, die zu Stolperfallen im Weg werden konnten. Doch in dieser Nacht nahm sie nichts von alledem wahr. Schon bald kam sie durch das Laufen ins Schwitzen und hörte ihren schweren Atem. Als sei sie auf der Flucht vor etwas lief sie den Waldpfad entlang bis sie sein Ende erreichte.
[ 5]Der Wald und der Boden hörten nahezu abrupt auf und gaben den Blick auf das darunter liegende Tal frei. Dieser Felsvorsprung war ihr Lieblingsplatz, zu dem sie immer kam, wenn sie allein sein wollte oder Nachdenken musste. Viele Nächte hatte sie hier schon verbracht und ist mit quälenden Fragen hier herauf gesiegen um darüber nachzugrübeln und beim Sonnenaufgang hatte sie eine Antwort darauf gefunden.
[ 5]Sie stand am Rand und schaute ins Tal hinunter. Was wäre es für ein Gefühl, wenn ich springen würde, mich einfach fallen lassen würde? Würde ich den Aufschlag spüren? Würden dann die Schmerzen aufhören? Nein! Ich kann nicht springen. Dann wäre alles umsonst gewesen.
[ 5]Sie trat zurück und setzte sich in die Wurzelkuhle eines nahestehenden Baumes, ihres “Grübel-Baumes”. Hier saß sie immer, dachte nach und schaute sich die Landschaft an. Es blies ein für die Jahreszeit kalter Wind und sie zog den Mantel enger um sich. Der Fluss, der sich durch das Tal schlängelte, glitzerte im Mondlicht und drüben, am Rande des Tals, wo zwei Berge sich erhoben, die man in der Dunkelheit nur erahnen konnte, würde in einigen Stunden die Sonne aufgehen.
[ 5]Wie konnte es nur soweit kommen? Was ist nur passiert, dass ich in diesen Kampf geriet? Was ist nur aus mir geworden, dass ich die töte, die mir wichtig sind? Sie lehnte ihren Kopf gegen den Baum und schloss die Augen. “Leandra!” Sie sah das kleine Mädchen vor ihren Augen, dass gespannt den Geschichten ihres Onkels lauschte. Lange hatte sie nicht mehr an diese Vergangenheit gedacht. Leandra, das war einmal mein Name gewesen, vor so langer Zeit. Wie kam es, dass aus Leandra Brynn wurde?...Ich erinnere mich...ich erinnere mich daran... an den Winter, in dem es begann...an den Winter vor über zehn Jahren...als das Schicksal mich fand...

*​

“Der Tag neigte sich dem Ende zu. Und auch ein schwerer Kampf war mit dem letzten Licht des Tages zu Ende. Auf einer Waldlichtung nahe dem Schlachtfeld, dass man heute “das Blutfeld” nennt, tobte noch vor wenigen Minuten ein unerbittlicher Zweikampf. Ein Kampf, von dem Beide wussten, dass nur einer ihn überleben würde.
[ 5]Mirina und Divus standen sich mit blutverschmierten Schwertern gegenüber. Ihre Heer waren beide am diesem Tag vernichtet worden. Nur wenige hatten diese Schlacht überlebt. Nur die Beiden kämpften noch um Sieg oder Niederlage. Als Divus floh, rannte Mirina hinter ihm her und holte ihn auf dem Hügel ein. Sie hatte keine Angst vor dem Tod, aber er.
[ 5]Die Beiden umkreisten sich und versuchten beim Gegner eine Schwachstelle zu finden, die man nach dem langen Kampf vermuten konnte. Divus holte zum Schlag aus, doch Mirina parierte ihn und ging ihrerseits zum Angriff über. Die Schwerter klirrten und im schwächer werdenden Licht konnte man Funken sprühen sehen. So kämpften sie Schlag um Schlag, denn keiner wollte aufgeben. Doch plötzlich unternahm Divus eine Finte, die Mirina nicht abwehren konnte. Sein Schwert traf sie tödlich zwischen den Rippen. Sie stockte, ließ vor Schmerz ihr Schwert fallen und sank zu Boden. Divus jubilierte: “Endlich! Endlich habe ich dich besiegt Mirina. Nun ist es aus mit dir. Du hast verloren und dein Volk wird mir gehören.” Er fing an laut heraus zu lachen.
[ 5]Mirina kniete am Boden und presste die rechte Hand auf ihre Wunde. Mit der anderen stütze sie sich ab um nicht umzukippen. Solange sie lebte wollte sie nicht dem Feind zu Füßen liegen. Sie hob mit letzter Kraft den Kopf und sprach: “Für den Moment magst du gewonnen haben, doch irgendwann werde ich wieder kommen. Und dann werde ich zurück erobern, was mir gehört. Genießt die Zeit, in der deine Familie den Thron von Albion besitzt. Sie wird nicht von Dauer sein.”
[ 5]Mit diesen letzten Worten auf den Lippen starb sie. In dem Moment, als ihr toter Körper auf den Boden sank, hörte man ein gewaltiges Donnergrollen und es begann zu regnen. Als hätten die Götter ihre Prophezeiung vernommen und bestätigt. So kam es Divus vor, der Angst bekam, denn alle Basisken waren abergläubisch, abergläubischer als alle anderen Völker der Welt. Er erblickte Fidelio, der auf ihn, mit gezogenen Schwert zu gerannt kam. Schnell schnappte er sich Mirinas Schild, als Zeichen, das er sie besiegt hatte. Dann rannte er den Hügel hinunter. Fidelio rannte so schnell er konnte, aber es war zu spät. Er kniete sich neben Mirina und Tränen liefen ihm über das Gesicht.
[ 5]Inzwischen regnete es kräftig und das Wasser vermischte sich mit dem vergossenen Blut und bildete kleine Seen. Als Fidelio voll Trauer in den Himmel blickte und den kalten Regen spürte, schrie er hinauf zu den Göttern: “Wo seit ihr? Sie sagte, ihr würdet sie beschützen. Warum habt ihr das zugelassen!” Und eine Stimme antwortete ihm: “Wir haben getan, was wir tun mussten. Sie hat ihren Teil zur Geschichte erfüllt, nun musst du deinen Teil erfüllen.” “Was soll ich denn tun können?” “Deine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass ihre Lehren nicht in Vergessenheit geraten. Genausowenig wie ihre Taten. Das ist deine Pflicht. Damit künftige Generationen nicht die Hoffnung verlieren.” “Aber wieso? Ich versteh das nicht!” rief er verzweifelt. “Gut und böse müssen sich abwechseln wie Sommer und Winter. Und nach jeder Nacht, gibt es einen neuer Morgen.” Die Stimme entfernte sich immer weiter von ihm, bis sie nur noch ein Flüstern war und sie war so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Und seit dem hörte niemand mehr die Stimmen der Götter.
[ 5]Das war das Ende von Mirina. Fidelio erfüllte seine Pflicht und gründete den geheimen Orden, der die Basiken bekämpft, der Orden der Rebellen, wie der König ihn nennt, die das Andenken an Mirina in Ehren halten und auf ihre Rückkehr warten. Divus wurde der erste König aus dem Geschlecht der Basisken auf dem Thron von Albion und so begann für uns eine neue Zeit.
[ 5]So, das war die Geschichte von Mirina. Und nun geht wieder spielen.”

Der alte Mann, der vor dem brennenden Kamin saß, war mit seiner Geschichte zu Ende.
[ 5]Widerwillig löste sich sein Publikum von Kindern, die vor ihm auf den Boden saßen auf. Er kam regelmäßig in die Dorfschenke, denn hier gab es das beste Met weit und breit. Und jedesmal, wenn der alte Bardo in das Dorf kam, überredeten ihn die Kinder, ihnen eine Geschichte zu erzählen. Er tat es gerne, da er Kinder liebte und von seinen Reisen viele Geschichten kannte.
[ 5]Während die anderen Kinder fröhlich aus dem Gasthaus liefen, um wieder Schneemänner zu bauen, blieb ein Mädchen zurück. Sie hatte mit leuchtenden Augen jedem Wort, das Bardo erzählte, gespannt gelauscht und in sich aufgenommen.
[ 5]Sie trat vor ihn und fragte neugierig: “Onkel Bardo, wieso hat Divus ihren Schild mitgenommen? Warum sprechen die Götter nicht mehr? Und warum...”
[ 5]“Leandra! Musst du ihn wieder mit deinen Fragen löchern? Du solltest dich lieber darum kümmern, mir zu Hause zur Hand zu gehen, als dich zu sehr in Märchen zu vertiefen! Und außerdem braucht dein Vater dich um den Weidenzaum zu reparieren.” Eine Frau war zur Tür hereingekommen und streifte den Schnee von ihrem Mantel ab.
[ 5]Das Mädchen stand immernoch bei Bardo und wartet auf die Antworten auf ihre Fragen. Auch als die Frau näher trat, rührte sie sich nicht vom Fleck.
[ 5]“Ist schon gut, Schwesterherz. Ich freue mich immer, wenn meine Zuhörer mitdenken. Also, Divus hat ihren Schild genommen, weil dieser für einen Krieger genauso wichtig ist wie sein Schwert. Auf ihm befindet sich nämlich ein Wappen, dass jedem zeigt, zu welchem Stamm er gehört und welchem Herrn er dient. Jeder Krieger ist stolz darauf und keiner würde seinen Schild einfach liegenlassen oder sich abnehmen lassen. Daher ist sein Verlust eine große Schande für den Krieger und es kommt nicht selten vor, dass sie sich dann umbringen, weil sie glauben, ihre Ehre verloren zu haben. Mirina war sehr stolz darauf, eine Askanierin zu sein und hätte ihren Schild niemals lebend hergegeben. Da Divus ihn seinem Vater brachte, war dies der Beweis, dass Mirina tot war.
[ 5]Bardo liebte seine Nichte sehr und sprach wie ein Lehrer zu ihr. Er versuchte ihre Fragen so einfach und dabei genau wie möglich zu beantworten. “Warum die Götter nicht mehr zu uns sprechen, weiß niemand ganz genau. Es heißt, sie würden sich erst wieder melden, wenn Mirina wiederkommt um zu helfen, unsere Freiheit wieder zu erlangen. Andere meinen, sie hätten sich in Nichts aufgelöst, da wir den Krieg damals verloren haben. Genau werden wir es wohl erst dann erfahren, wenn sie wiederkehrt. Sind die Fragen zu deiner Zufreidenheit beantwortet?”
[ 5]“Ja. Mama, Onkel Bardo kommt doch übermorgen zum Essen? Papa hat doch Geburtstag.” Hoffnungsvoll sah Leandra ihre Mutter an. Insgeheim hoffte sie nämlich, er würde dann wieder eine spannende Geschichte erzählen.
[ 5]“Darüber möchte ich jetzt mit ihm reden. Würdest du so lange draußen warten?”
[ 5]Leandra küsste ihren Onkel zum Abschied auf die Wange, griff sich im Laufen ihren Mantel und war schon draußen auf der Straße bei den anderen Kindern.
[ 5]“Also,” begann ihre Mutter, “wir würden uns sehr freuen, wenn du mit uns ein wenig feiern würdest.”
[ 5]“Natürlich komme ich. Ich werde mir doch nicht deinen Schweinebraten entgehen lassen. Doch das ist nicht der Grund, warum du Leandra rausgeschickt hast.” Bardo war durch seine Reisen ein guter Menschenkenner geworden und es war schwer, ihm etwas zu verheimlichen. “Worum geht es?”
[ 5]“Um Leandra...” Sie wusste nicht recht, wie sie es ihm sagen sollte. “Und um deine Geschichten...”
[ 5]“Ich verstehe.” Er wusste, was sie bedrückte, denn es war nicht ganz ungefährlich, Geschichten über Mirina zu erzählen.
[ 5]“Es tut mir leid. Ich sehe es ja gern, wenn sie für eine Zeitlang, den Alltag vergisst. Aber von Geschichten bekommt sie nichts in den Bauch, außer verrückte Ideen in den Kopf.”
[ 5]“Geistesnahrung ist genauso wichtig für einen jungen Menschen. Oder willst du, dass sie eine von den jungen Frauen wird, die zwar mit ihrer Schönheit jeden anständigen Ehemann bekommen aber nur die Hälfte von dem verstehen, was die ihnen sagen? Es ist ein Jammer, dass es verboten ist, Frauen anständig auszubilden. Ihr denkt zwar anders als wir Männer, aber ihr seid auf keinen Fall dumm. Egal, was die da oben sagen.”
[ 5]“Natürlich möchte ich, dass sie eigenständig denken kann! Aber ich mache mir Sorgen über dass, was sie manchmal äußert... Ich will sie nicht an die Femier verlieren! Der König geht immer härter gegen die Rebellen vor. Sie ist erst zehn! Sie würden vermuten, dass sie es von uns hat und uns bestrafen. Du weißt genau, was das bedeutet: Zwangsarbeit in den Mienen von Narakka, wenn sie uns nicht im Kerker verhungern lassen.” tat sie besorgt ihre Ängste kund.
[ 5]“Verbietest du mir, ihr Geschichten zu erzählen?” fragte er nach.
[ 5]“Ich könnte es, aber es würde nichts bringen. Ich kann sie ja schlecht im Haus einsperren. Pass vielleicht ein bißchen darauf auf, was für Geschichten du erzählst. Sie müssen ja nicht immer von Mirina sein.” Sie verabschiedete sich von ihm, schlang den Mantel enger um sich und verließ die Schenke.

*​

Wenig später, half Leandra ihrem Vater beim Reparieren des Zaunes um die Weide für ihre paar Rinder. Auf dem Boden lag schon etwa dreißig Zenimeter Schnee und es schien noch mehr zu werden, denn während sie arbeiteten begann es wieder zu schneien.
[ 5]Leandra hielt gerade einen neuen Pfosten, den ihr Vater mit kräftigen Hammerhieben in die Erde trieb, als sie auf der fast gänzlich zugeschneiten Straße einen alten Mann erblickte. Es war Marlon, der Gelehrte. Er wohnte etwas außerhalb des Dorfes in einem kleinen Haus mit Garten. Die Leute im Dorf mieden ihn, denn er war ein Fremder. Vor ein paar Jahren war er hierhergezogen in das alte Haus, indem vorher ein einheimisches Ehepaar wohnte. Die beiden waren Symphatisanten der Rebellen und die Femier holten sie schließliche eines Tages ab. Seit dem hat niemand mehr etwas von ihnen gehört.
[ 5]Das Exempel hatte gewirkt, denn im Dorf schaute nun jeder auf jeden und nur noch hinter vorgehaltener Hand wurde der König und die Missstände im Lande angeklagt. Jeder wusste nun, dass der König seine Augen und Ohren überall hatte. Und wer nicht aufpasste, dem konnte es genauso ergehen, wie den Beiden.
[ 5]Jedenfalls kaufte der Alte dem Dorf das Grundstück ab und richtete sich dort ein. Neugierige aus dem Dorf hatten beobachtet, dass mehrere Wagenladungen Bücher in das Haus gebracht wurden. Seit dem gingen viele Gerüchte im Dorf um, wer der Fremde sei. Er selbst verbrachte die meiste Zeit in seinem Haus und arbeitete. Von Zeit zu Zeit erschien er im Dorf um Lebensmittel oder beim Krämer Tinte und Papier einzukaufen.
[ 5]Einige im Dorf meinten, er wäre ein Spion, der sie beobachtete und alles, was sie taten, für die Femier aufschreibe. Andere meinten, er wäre ein eigensinniger Gelehrter, der nur seinen Gedanken nachhing. Doch was er war, erfuhren sie nicht, denn er hatte keine Angestellten, die man aushorchen konnte. Dass er dort alleine wohnte, konnte man mit der Zeit sehen, denn langsam veram das Haus. Der Garten war von Unkraut überwuchert und die Fenster hatten auch schon lange kein Putzwasser mehr gesehen.
[ 5]Marlon kam gerade wieder aus dem Dorf und war auf dem Heimweg. Das Gehen viel ihm schwer, denn er war nicht mehr sehr gut auf den Beinen und im tiefen Schnee blieb er häufig stecken. Mit der einen Hand hielt er seinen Wanderstab und unter dem anderen Arm hielt er ein großes Bündel Papier.
[ 5]“Schau, Vater, da ist der alte Marlon.” sprach sie zu ihrem Vater.
[ 5]“Du hast recht. Ich hab den Alten schon lange nicht mehr gesehen. Bis zu ihm nach Hause ist es noch ein ganzes Stück. In dem Tempo wird er bis zum Abend brauchen.” Ihr Vater widmete sich wieder seiner Arbeit und beachtete den Alten nicht weiter.
[ 5]Leandra beobachtete ihn aber weiter. Ihr tat der Alte leid, denn das Laufen fiel ihm sichtlich schwer. Ihre Eltern lehrten sie immer Hilfbereitschaft gegenüber Älteren und so fragte sie ihren Vater: “Vater, das war doch der letzte Pfosten? Brauchst du mich dann noch?”
[ 5]Ihr Vater schaute sie an: “Warum? Willst du spielen gehen? Deine Mutter hätte bestimmt was für dich in der Küche zu tun.”
[ 5]“Nein, ich will nicht spielen, sondern Marlon helfen. Wenn ich sein Bündel trage, kommt er bestimmt schneller voran.” Sie sah ihrem Vater direkt in die Augen.
[ 5]Er gab ihr nach: “Also gut, dann hau halt ab. Den Rest schaffe ich auch allein. Aber vor Einbruch der Nacht bist du wieder zu Hause, verstanden?” Er war gerührt über die Hilfsbereitschaft seiner Tochter und wünschte sich, er hätte mehr Kinder wie sie. Nach der Geburt seines dritten Kindes sagte die Hebamme ihm, dass seine Frau nie wieder Kinder bekommen könne. Sein ältester Sohn ging in die Armee und wurde ein Soldat des Königs und Leandras kleiner Bruder war so schüchtern, dass er selbst bei Onkel Bardo kein Wort herausbrachte.
[ 5]Leandra lief nun auf Marlon zu und sagte: “Hallo. Darf ich Euch helfen? Das Bündel ist sicherlich sehr schwer.”
[ 5]Der Alte schaute sie einen Moment verwundert an und sagte schließlich: “Es kommt selten vor, dass mir jemand seine Hilfe anbietet. Gerade bei Kindern. Es würde mir sehr helfen, wenn du es für mich tragen würdest.”
[ 5]Sie nahm es ihm ab und lief neben ihm her. Nach einer Weile sagte er: “Deine Eltern haben dich gut erzogen, mein Kind. Wie heißt du?”
[ 5]“Leandra. Meine Eltern sagen, dass man Respekt vor alten Leuten haben soll, da sie viel erlebt haben und weise sind und man viel von ihnen lernen kann.”
[ 5]“Oh, nicht alle sind weise. Nicht alle.” Er schmunzelte. Selten war ihm ein Kind begegnet, dass so ungezwungen mit völlig Fremden sprach. Doch dann wurde sein Gesichtsausdrck hart und mit seinen Augen schien er Bilder aus seiner Vergangenheit zu sehen und von dort Stimmen zu hören. Doch bevor er sich genauer darauf konzentrieren konnte, sprach Leandra weiter.
[ 5]“Warum wohnt ihr eigentlich so weit draußen? Wäre es nicht viel einfacher für Euch, wenn Ihr im Dorf wohnen würdet? Dann hättet Ihr nicht so weit zu laufen.”
[ 5]“Ich mag die Nähe der Menschen nicht und bin lieber für mich allein. Da habe ich meine Ruhe und es ist nicht ständig jemand hinter mir, der etwas von mir will.”
[ 5]Den Rest des Weges schwiegen sie und dank Leandras Hilfe erreichten sie bald ihr Ziel. Vor seiner Haustür gab sie ihm sein Bündel zurück, verabschiedete sich von ihm und machte sich auf den Heimweg.
[ 5]Marlon schaute ihr nach und dachte: “Hilfsbereitschaft ohne einen Lohn zu wollen erlebt man selten. Für ihr Alter ist sie stark. Sie ist stärker als ich es bin. Leandra heißt sie...”
[ 5]Eine Idee schoß in seinen Kopf und er dachte darüber nach. Auch den Rest des Winters kam ihm immerwieder dieser Gedanke. Und so kam es, dass er, als der Schnee geschmolzen war und die wärmer werdenden Sonnenstrahlen die ersten Blumen aus dem Boden lockten, er seinen Gedanken in die Tat umsetzte. Er machte sich auf den Weg und ging zu Leandras Elternhaus.
[ 5]Auf sein Klopfen hin öffnete ihm ihre Mutter. “Guten Tag. Sie wünschen?” fragte sie ihn freundlich. Sie war verwundert über diesen Besuch, denn soviel sie wusste, hatte der alte Marlon noch niemandem ihm Dorf besucht. Das wäreim Dorfbekannt.
[ 5]“Guten Tag, Madam. Ich würde gerne mit ihnen und ihrem Mann über ihre Tochter Leandra sprechen.”
[ 5]“Äh, ja..Kommen sie doch herein.” Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie bot ihm einen Stuhl an und ging kurz nach draußen, um ihren Mann zu rufen. “Sie hat doch hoffentlich nichts angestellt?”
[ 5]“Nein, nein. Ganz und gar nicht.” Er machte es sich auf dem Stuhl bequem und wartete geduldig.
[ 5]Als Leandras Eltern zurück kamen fragte ihr Vater: “Worum geht es, wenn sie nichts angestellt hat?” Die Beidens setzten sich an den Tisch dazu und warteten auf eine Erklärung.
[ 5]“Wie sie ja sicherlich wissen, wohne ich ein Stück außerhalb des Dorfes und habe dorthin einen langen Weg. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste und meine Kräfte lassen nach. Vor einiger Zeit hat ihre Tochter mir beim Tragen geholfen, wenn sie sich erinnern, und sie machte auf mich einen netten und hilfsbereiten Eindruch. Wie dem auch sei, ich möchte sie fragen, ob sie es erlauben würden, wenn ihre Tochter für mich arbeiten würde und mir ein wenig zur Hand gehen würde.”
[ 5]Ihre Eltern hatten still zugehört und waren so baff, dass sie zuerst kein Wort heraus brachten. “Wieso unsere Tochter? Ich meine, im Dorf gibt es doch bestimmt andere Frauen, die ihnen im Haushalt helfen könnten.” brachte schließlich ihre Mutter hervor
[ 5]“Sicherlich. Doch die sind wahrscheinlich äußerst neugierig und würden bei mir nur herumspionieren. Und das habe ich nicht gerne. Ihre Tochter schein mir anders zu sein. Nicht so voreingenommen wie die Anderen im Dorf.
[ 5]Die Arbeit wäre nicht schwer. Besorgungen im Dorf, kochen und putzen und dergleichen. Sie müsste dann aber allerdings ständig zu Verfügung stehen und sollte, wenn sie es erlauben, bei mir wohnen. Selbstverständlich komme ich dann für Kost und Logie auf. Und einen angemessener Lohn bekommt sie natürlich auch.”
[ 5]Da er nun auf eine Antwort wartete, meinte ihr Vater: “Es ist freundlich von Euch, uns ein solches Angebot zu machen. Aber ist sie nicht ein wenig zu jung?”
[ 5]“Das finde ich nicht. Wenn dem so wäre, hätte ich sie nicht in Betracht gezogen.”
[ 5]“Ich finde, wir sollten diese Angelegenheit in aller Ruhe besprechen.” meinte ihre Mutter und stand auf. “Wollen sie einen Becher Met?”
[ 5]“Nein, danke. Wasser genügt.” antwortete er und die drei besprachen nun die Angelegenheit ausführlich. Schließlich einigten sie sich.
[ 5]“In Ordnung. Wenn Leandra nichts dagegen hat, kann sie für sie arbeiten. Vorrausgesetzt, sie kann weiterhin die Schule und uns besuchen.” legte ihr Vater letztendlich fest. Marlon nickte und er fuhr fort. “Der Hof ist soweit in Schuss, dass wir mit der Arbeit alleine fertig werden und sie nicht unbedingt brauchen. Und wenn sie sagen, dass sie niemand anderen um sich haben wollen, können wir schlecht nein sagen. Dafür haben wir, glaube ich, ein zu weiches Herz.”
[ 5]Somit hatten sie sich geeinigt. Es fehlte nur noch die Zustimmung von Leandra. Sie wusste noch gar nichts davon, denn sie spielte mit ihren Freunden irgendwo im Dorf.
[ 5]Ihre Eltern luden Marlon zum Abendessen ein, was er dankend annahm. Dabei sollte Leandra gefragt werden. Sie kam pünklich und war, wie ihre Mutter, überrascht, als sie Marlon auf ihrem Stuhl sitzen sah. Sie hatte nichts dagegen, dem alten Mann zur Hand zu gehen und somit war es beschlossene Sache. Sie sollte noch heute mit zu ihm kommen und nach einem entspannten Essen packte sie ihre wenigen Sachen zusammen, verabschiedete sich von ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder und machte sich mit Marlon auf
en Weg.
[ 5]Als sie bei ihm ankamen zeigte er ihr im Halbdunkel ein Lager auf dem Dachboden und sagte: “Schlaf dich erstmal aus. Morgen zeige ich dir dann das Haus und erkläre dir deine Aufgaben. Schlaf gut.”
[ 5]“Gute Nacht.” wünschte auch Leandra. Nachdem Marlon den Boden verlassen hatte, zog sie ihre Kleider aus und ging im Unterkleid zu Bett. Auf das Waschen verzichtete sie heute, würde es aber morgen nachholen. Sie dachte noch eine Weile nach. Sie war gespannt, was sie alles hier erleben würde. Aber auch ein bißchen ängstlich, denn sie war noch nie eine Nacht von zu Hause fort gewesen und nun sollte sie bei einem Fremden wohnen. Aber sie durfte ihre Eltern ja besuchen. Sie bließ die Kerze aus und schlief bei diesen Gedanken ein.
 

MelP

Mitglied
Hallo P.N.!

Deine Geschichte bzw. deren Anfang hat mir sehr gut gefallen. Allerdings insbesondere der zweite Teil. Der Anfang mit dem Kampf ist für meinen Geschmack ein bisschen zu klischee-mäßig und die Dramatik fehlt ein bisschen. Aber dann wirds spitze, finde ich. Freu mich auf die Fortsetzung! Liebe Grüße
MelP
 

Pax Nemesis

Mitglied
Hallo MelP,

danke für deine Antwort. Über das Klischeehafte lässt sich wohl streiten. Das mit dem zweiten Teil, der dir so gut gefällt, ist erstaunlich, denn mir gefällt er nicht so gut, aber irgendwie muss sich der Handlungsknoten ja aufbauen und was besseres fiel mir nicht ein...
Finde es trotzdem schön, dass es dir gefällt.

Grüße
Pax Nemesis
 



 
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