Bullerlux 8

Der Bullerlux 8

Am Nachmittag war Astrid mit Kathrin verabredet. Als sie sie neulich auf dem Heimweg von der Post angesprochen und wahnsinnig viel erzählt hatte, hatte sie Astrid am Ende schnell noch ihre Handynummer aufgeschrieben und in die Hand gedrückt. Eigentlich hatte Astrid sie gar nicht anrufen wollen. Sie wollte sich lieber einigeln und für sich bleiben, doch gestern Abend war sie in einer seltsam aufgeräumten Stimmung gewesen und hatte beschlossen, der Sache wenigstens eine Chance zu geben. Immerhin war Kathrin eine abwechslungsreiche Gesellschaft zu ihren Eltern.
Nun fuhr sie also mit ihrem rot-weiß gestreiften, klapprigen Fahrrad über die holprigen Kopfsteinpflasterstraßen zu dem kleinen Café, von dem Kathrin so geschwärmt hatte. Irgendjemand hatte ihr die buntesten und schönsten Herbstblumen in den Korb geflochten. Ob es Mama war? Aber die hatte den ganzen Tag im Haus zu tun gehabt. Wann hätte sie die Blumen hinein flechten können?
Astrid hatte von Kathrin zwar eine Wegbeschreibung bekommen, war sich jedoch an jeder Kreuzung unsicher und musterte aufmerksam die Straßennamen. Dann sah sie einen Schriftzug an einer Hauswand – „Petit Chambre“ –, schloss ihr Rad an ein Parkverbotsschild und ging durch eine niedrige, schlichte Holztür hinein.
Kathrin schien noch nicht da zu sein, also suchte Astrid sich einen kleinen Tisch gleich am Fenster aus, um nach ihr Ausschau zu halten.
Sie bereute diese Entscheidung schnell, als ihr klar wurde, dass sie dort wie auf dem Präsentierteller saß. Zwar waren nicht viele Gäste anwesend, doch die wenigen starrten sie alle ausnahmslos an. Zwei alte Damen unterbrachen ihren Kaffeklatsch und schmulten auffällig unauffällig zu Astrid hinüber. Die dickere von ihnen ließ ihre Gabel geistesabwesend in einem großen Stück Sahnetorte stecken, während ihre Freundin, die einen scheußlichen braunen Hut trug, vergaß, ihren frisch aufgebrühten Kaffe umzurühren und sich daran den Mund verbrannte.
An einem anderen Tisch saß eine Gruppe Jugendlicher in ihrem Alter. Sie lachten über irgendetwas und einer nickte zu Astrid hin, weshalb sie sich sicher war, dass sie sich über sie amüsierten. So setzte sie eine versteinerte Miene auf, die sie nur kurz zu einem Lächeln zwang, als die Bedienung ihr eine Karte brachte. Hinter dieser versteckte sie sich und lass grimmig die Liste von Leckerbissen durch bis eine schnaufende Kathrin an den Tisch kam.
„Boah, Tschuldige“, brachte sie knapp hervor, hing ihre Jacke über die Stuhllehne und setzte sich Astrid gegenüber. „Erst musste ich mein Rad noch aufpumpen – dachte schon, ich hätte einen Platten, war‘s dann aber zum Glück doch nicht, das hätte noch länger gedauert, da wär ich vielleicht sogar gelaufen – und dann kam ich ewig nicht an Frau Riebesehl vorbei, die in ihrem Tuckertempo den ganzen Verkehr in der Wiesenstraße lahmgelegt hat.“ Sie schnaufte immer noch, weil sie vor lauter Erzählen nicht zum Atmen kam. Das hielt sie aber nicht davon ab, noch mehr hervorzusprudeln.
„Schön, dass du da bist und so lange gewartet hast. Wieso hast du noch nichts bestellt? Du musst doch nicht wegen mir auf dem Trockenen sitzen. Wie gesagt, die heiße Schokolade ist spitzenmäßig, aber der Eiskaffe ist auch nicht zu verachten. Vielleicht können wir uns ein paar belgische Waffeln teilen? Oder einen Apfelstrudel…“
„Hallo Kathrin“, warf Astrid trocken ein. „Komm erstmal richtig an.“ Kathrin sah sie fragend an.
„Du redest und redest und hast noch gar nicht richtig Luft geholt.“
„Einer muss ja etwas sagen - du bist nicht gerade eine Plaudertasche. Alles muss man dir aus der Nase ziehen.“
„Du würdest mich ja ohnehin nicht zu Wort kommen lassen.“ Für einen Moment sah Kathrin fast ein bisschen beleidigt aus, doch dann musste sie lachen.
„Hast Recht. Also, was nimmst du?“
Sie entschieden sich für den Strudel und jeweils einen Eiskaffee. Kathrin erzählte viel von ihren Eltern und dem Umzug, der Schule und den Lehrern und einigen guten und schlechten Bekannten im Ort.
„Kommst du mit zur nächsten Bandprobe? Die ist morgen Nachmittag. Oder du besuchst mich mal am Wochenende“, schlug Kathrin vor.
„Ja, gern. Dieses Wochenende kann ich aber nicht, Oma und Opa kommen und bleiben ein paar Tage“, erklärte Astrid.
„Achso, na dann ruf mich einfach an, ok?“ Zu ihrer eigenen Überraschung hatte Astrid wirklich Lust, öfter etwas mit Kathrin zu unternehmen. Wenn man sich einmal an ihren Redefluss gewöhnt hatte, war es richtig lustig mit ihr. Eigentlich ergänzten sie sich auch ganz gut, weil sie selbst nicht so frei heraus plauderte. Außerdem kannte Kathrin das Gefühl die Neue zu sein. Und anstatt sie von allem fernzuhalten, stellte ihr Astrid die neue Welt Stück für Stück vor. Ein bisschen etwas Altes und Vertrautes fand sich auch darin: sie hatten beide dieselbe Lieblingsband und verfolgten dieselbe Fernsehserie, obwohl es so eine typische, kitschige Mädchenserie war. Kurz nachdem Astrid zu Hause angekommen war, fing es wieder an zu regnen - gerade nochmal Glück gehabt. Am Abendbrottisch erzählte Gerda von der Schaukel, die Papa aus dem alten Autoreifen und dem Seil aus dem Schuppen gebaut und an den großen Baum gehängt hatte.
„Wenn Papa einen so richtig doll anschubst und man ganz hoch schwingt und wenn man dann noch die Augen ganz fest zu macht, dann kribbelt das so furchtbar schön im Bauch, dass man die Augen wieder auf machen muss und sieht, wie der Boden unter den Füßen wegfliegt.“ Gerda machte es auf ihrem Stuhl sogar nach, schwang vor und zurück, schloss die Augen und riss sie dann in freudigem Übermut wieder auf.
„Vielleicht kann ich ja noch eine zweite bauen, dann kannst du mit deinen neuen Freunden schaukeln“, meinte Papa.
„Ach ja, wie war es denn mit deiner neuen Freundin, Astrid?“, erkundigte sich Mama wie nebenbei. Astrid wusste, was Mama am liebsten gehört hätte, tat ihr den Gefallen aber nicht. Sie war schließlich schuld daran, dass sie überhaupt neue Freunde finden musste. Deshalb sagte sie nur kurz: „Ganz okay.“ Glücklicherweise war ihre Mutter so bedacht, nicht weiter nachzufragen.
„Ich glaube, ich weiß schon, was wir mit den restlichen Brettern machen“, wandte Papa sich an Bruno. „Der Baum vorne links wäre ideal für ein Baumhaus oder was meinst du?“
„Ehrlich, Papa?“, und Brunos Augen wurden groß und glänzend wie seine neuen Murmeln. „Ich wollte schon immer ein Baumhaus haben. Mit Flaschenzug und allem, damit ich im Sommer Fassbrause mit hoch nehmen kann? Papa musste lachen. „Mal schauen, ob sich das organisieren lässt. Achso, Astrid?“
„Hm?“
„Ich überlege, ob ich für dich sogar den Dachboden ausbauen sollte. Du bist jetzt langsam in einem Alter, in dem man seinen Platz für sich braucht und dort wärest du wirklich ungestört und hättest auch genug Raum, um Freunde einzuladen.“
„Das … wäre ziemlich cool“, meinte Astrid lässig, aber die Vorstellung begeisterte sie im Innern ungemein.
 



 
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